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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

stand er unter dem Einflüsse der Lebensauffassung, welche dem Honig, dem sprachgebräuchlichen Zwillingsbruder der Milch, die Bedeutung des Edelsten, des Geläutertsten unterlegt. Wer die Schönheit des Schweizerlandes geschaut hat, der muß mir beistimmen, wenn ich dasselbe das unerschöpfliche Nektarium Europa’s nenne. Ich errathe Euch vollkommen, liebe Leser und Leserinnen, wenn Ihr vielleicht jetzt erst recht über meinen Vergleich lacht. Aber Ihr müßt mir nicht nur erlauben, nein Ihr müßt mir das volle erweisbare Recht einräumen, das reizende Zürich ein Flugloch der Schweiz zu nennen. Dagegen will ich Euch nachgeben, indem Ihr den Bienenstock außerhalb desselben, vor demselben sucht und die nektarspendende Quelle hinter dasselbe verlegt. Streiten wir uns daher nicht darüber. Seht, ich gebe Euch darin nach, daß in unserer so eben abgeschlossenen Kapitulation der Bienenstaat gar kein Staat mehr ist, denn jede mit Honig reich beladene Biene summt nach einer anderen Himmelsgegend heimwärts und verarbeitet vielleicht in sehr einsamer Zelle, sei dies eine Stadt, eine Straße, ein Haus, ein Zimmer oder vielleicht gar blos das eigene Innere, das was sie einsammelte in dem engen von den bergenden Alpen umschlossenen Raume.

Im unverkennbarsten Gepräge des Touristen an Kleidung und Haltung stehen jetzt eben täglich Erwartungsvolle auf den beiden Limmat-Brücken oder auf der Zinne des Gasthofes „zum Storchen“ oder eines anderen und blicken, wie Columbus, westwärts. Aber die Alpenkette will sich immer noch nicht enthüllen. Nur bald silberweiße bald schiefergraue Wolkenmassen thürmen sich hinter den niedrigeren näher gelegenen Bergketten empor und erbarmen sich manchmal der sehnsüchtig Blickenden, indem sie, oft mit viel Glück, die Gestalten derjenigen nachahmen, die von ihnen verhüllt werden.

Zwischen diesen am Weiterfliegen verhinderten Ankömmlingen, die eben klareres Wetter lieber im behaglichen Zürich als auf dem unbequemen Gipfel des Rigi oder eines anderen Gasthofberges abwarten wollen, drängen und treiben sich die Abziehenden, welche von dem Wetter der letzten Woche begünstigt waren.

„Vergessen Sie nur nicht, sich durch den Telegraphen ein Bett auf dem Rigi zu bestellen!“ so ruft ein Erfahrener, einem Angekommenen noch nach; „die Depesche kostet nur einen Frank.“ Ich erkundige mich, ob das Ernst oder Scherz sei, und höre, daß nirgend so sehr wie in der Schweiz das Netz der Gedankendrähte ausgesponnen ist und daß wirklich sehr viel Fremde die eben gehörte Benutzung davon machen. Seitdem blicke ich hier mit weniger Scheu zu den feinen Drähten empor, welche sich mitten durch die Gassen Zürichs ziehen. Bisher sahe ich in ihnen immer nur das Netz der beiden bösen Spinnen, der Diplomatie und Börse. – Unter der geduldig wartenden – der ungeduldigen mögen allerdings mehr sein – befindet sich auch Ihr Freund. Während ich es ruhig dem Aeolus überlasse, seine Diener aus dem rechten Loche herausfahren zu lassen, um den Wolkenschleiern am besten beizukommen, schlendre ich durch die Gassen Zürichs, wo mir auch schon mancher bekannte deutsche Name begegnete, der nicht mehr deutsch sein darf und nicht schweizerisch werden kann, weil ihn das Vaterland, welches er fliehen mußte und welches ihn in seine Gefängnisse nicht einhaschen konnte, aus seinen Armen nicht officiell entlassen will. Die Republik will eben ihre Leute ganz, sie will sie von der Monarchie nicht blos borgen. – Neulich sagte mir ein vom deutschen Advokaten zu einem schweizerischen Tuchhändler Gewordener, „wenn Sie in einer Gemeinde nach der Schule fragen oder nach dem Gemeinde- oder nach dem Krankenhause, so suchen Sie nur nach dem größten und schönsten Hause und Sie haben das Gesuchte.“ Hier in Zürich finde ich es so. Die Blinden- und Taubstummen-Anstalt, die Canton-Schule, das Canton-Hospital sind so ziemlich die einzigen Paläste in dem rein bürgerlichen Zürich. In die Canton-Schule sehe ich täglich die älteren Schüler mit Muskete und in Uniformrock gehen. Am 2. September werden sich über 3000 solcher bewaffneter Knaben, die ältesten freilich bis 20 Jahre alt, aus der ganzen Schweiz in Zürich zu einem Manöver und Festschießen, wie ich höre sogar mit Artillerie einfinden. Daraus wird das „herrliche Kriegsheer“ der Schweizer gebildet, welches in einem Nachbarkantone Zürichs zu seinem Antheile von einem – Tuchhändler als Oberst befehligt wird. Was einem dabei für polizeiwidrige Gedanken aufsteigen! Doch da sie durch das Aussprechen ihre Zollbefreiung verlieren, so lasse ich sie unausgesprochen. Das Reisen nach der Schweiz sollte eigentlich nur Erprobten erlaubt werden, denn ich habe von fremden Europäern, die weder Frankfurter noch Bremenser, noch Hamburger noch Lübecker waren, über das, was sie in der Schweiz überall um sich sahen und nicht sahen, sehr bedenkliche Gespräche führen hören. Doch verzeihen Sie mir diese Zeilen, die eigentlich gar nicht in den Bereich meines Reisezieles gehören, von dem ich Ihnen einige kurze Berichte schreiben sollte. Das Ziel ist die schweizerische Natur, die für Alle eine res publica ist und daher auch die Kurhessen und Russen zu Republikanern machen darf. Vor meinem Fenster, aus welchem ich den villenumsäumten See überblicke, scheint sich eben das Ende des Wolken Dramas zu entwickeln, wenn es nicht wieder um einen überflüssigen Akt sich hinauszieht. Ich eile darum morgen sicher hinaus, hoffend, daß der Himmel vollends klar werden und daß endlich Jemand nach meinem guten Paß fragen werde.





Der Vierwaldstädter See.

Luzern, den 24. August 1856.

„Aber Sie werden im Rößli keine Aussicht haben!“ Mit diesen Worten wollte mich heute Mittag bei der Ankunft in Luzern mein kleiner Geleitsmann dem „weißen Rößli“ abwendig und zu einem Insassen der „Balance“ machen. Allein ich bedeutete ihn, daß ich in der Schweiz nicht auch noch im Gasthofe Aussicht verlange, oder höchstens die auf ein billiges und doch gutes Unterkommen. Seitdem ist es Abend geworden und ich setze mich zu diesem Briefe an Sie, mein Freund, und an Ihre Leser in besagtem Rößli nieder. Wer aber den Vierwaldstädter See kennt, der weiß, daß er unbeschreiblich schön und daß die begeistertste Beschreibung doch höchstens ein Schattenbild ist. Doch es sei!

Mein bewährtes Reiseglück verließ mich nicht, obgleich ich gestern in Zürich bei schlechtem Wetter das Dampfboot bestieg. Die reizende Albiskette zu meiner Rechten verschwand in ihrer obern Hälfte unter dichten Regenwolken und der niederströmende Gewitterregen bedeckte den grünen See mit weißen Glaskugeln, welche wie ein Gedanken-Wetterleuchten im Entstehen verschwanden und im Verschwinden von neuem ersetzt wurden. Ich beschreibe Ihnen nicht den milden Zauber des Züricher See’s, an dessen Gestade, buchstäblich ohne Unterbrechung, gewerbfleißige Gemeinden und einzelne Geschäfte zerstreut liegen, wegen ihrer fast durchgängig weißen Farbe wie weiße Kiesel am Ufer eines Wiesenbaches. Ich beschreibe Ihnen auch den Weg nicht, der mich nach Brunnen an den Vierwaldstädter See führte, Anfangs am hohen Ufergelände des Züricher See’s mit entzückenden Rückblicken auf dessen wieder sonnbeschienenen Spiegel, zuletzt von Schwyz an am Fuße und in der Nachbarschaft berühmter Namen: die Mythen, Lauerzer See, Roßberg, neben der tief unter mir schäumenden Muotta hin. Aber das staunende Entzücken deute ich Ihnen wenigstens an, das über mich kam, als ich in Brunnen plötzlich am Ufer des Vierwaldstädter See’s stand, der vor mir lag in seiner Bergumfassung wie ein Smaragd in einem zackigen Kleinod. Sie wissen, mein Freund, daß ich in der Schweiz das Wasser in’s Auge fassen will und hier traf ich es noch viel klarer und bestimmter als im Zürichsee in der Ausprägung des Alpensee’s. Nach einer unerquicklichen Nacht eines Gasthof-Fehlgriffs bestieg ich heute Morgen das Dampfboot, um links bis Flüelen und dann gleich wieder zurück hinunter bis Luzern zu fahren. Bis Flüelen heißt der See der Urner See und gilt als heimtückischer Sturmwinkel. Heute trug er mich sanft auf seiner Spiegelfläche und ich konnte sorglos an beiden Ufern die senkrecht in sein Wasser eintauchenden Felswände ansehen, welche ja den Tell herausforderten, der Gründer der schweizerischen Freiheit zu werden. Bald kam ich auch an seine „Platte“, wo er den kühnen Sprung aus dem Nachen that. Ihr gegenüber liegt die kleine Gemeinde Isleten und zwischen beiden der Seeboden 1000 Fuß tief unter dem grünen Spiegel. Bis Flüelen ist an beiden Ufern nur selten auch nur ein Fuß breit ebener Boden, um zu landen. Aber das Auge des kundigen oder wenigstens des aufmerkenden Freundes der Erdgeschichte landet an den senkrechten Felswänden, um sich darauf zu ergehen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 512. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_512.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2017)