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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

allumfassende socialistische Phalansteren zusammenwachsen zu sehen, für viele mehr wohlmeinende, als wohlwissende Leute eine erfreuliche Erscheinung, für uns aber, die wir Menschen gern menschlich sehen möchten, ein furchtbares, entsetzliches Grab aller Individualität, alles Charakters und moralischer wie physischer Selbstständigkeit. Die Socialisten und Communisten mögen hier einen Triumph ihrer Lehren bewundern, müssen sich aber auch zugleich gefallen lassen, den Menschen dabei untergehen und dafür einen von außen getriebenen Automaten entstehen zu sehen.

Treten wir in ein solches Großgeschäfts-Phalansteren-Automatenwerk ein, in das berühmteste Muster derselben.


Die Phalanstere zu London.


Ungefähr in der Mitte dieser steinernen Lager- und Geschäftspaläste, der City, an einer schneidenden Straßenecke, Woodstreet (Holzstraße), fällt ein besonders stattlicher und neuer Steinkoloß auf, das Großgeschäft von John und Richard Morley, Strumpfwaaren- und Handschuhgroßhändlern, wie man ihren Titel wörtlich übersetzen muß. Das Gebäude des Geschäfts, wie wir es von außen in der Abbildung sehen, nimmt auf dem Boden, der beinahe mit dichten Goldstücken belegt werden muß, Zoll für Zoll, wenn man ihn nur nackt als Baustelle kaufen will, 8250 Quadratfuß. ein und wurde 1849 vollendet. Es ist seitdem nicht nur eins der größten Privatgebäude in der City geblieben, sondern auch das berühmteste und ausgedehnteste Geschäft seiner Art und ein social-ökonomisches Wunder geworden.

Wir treten durch große Flügelthüren ein. Ein ganzer Jahrmarkt, eine Messe rings um uns, über uns, unter uns, ein industrielles Labyrinth ohne Ariadnefaden auf den ersten Blick. Gott sei Dank, daß wir keinen Leitfaden brauchen, der uns hier wenig helfen würde, sondern uns ein grauhaariger Herr mit wohlwollendem und nicht dem so häufigen kaufmännischen, englischen Geschäftsgaunerblick in Empfang nimmt, uns führt und so das räthselhafte Geschäftsgewimmel erklärt. Wir bemerken nur flüchtig auf beiden Seiten des Haupteinganges die Hauptbureaux zum Eintragen der aus- und eingehenden Güter, die Menge Träger und Packer, unter deren Händen die verschiedensten Waarenhaufen sich mit hexereiartiger Geschwindigkeit in die regelmäßigsten Ballen und Packete verwandeln, die von Andern gezeichnet und adressirt, von Andern davon getragen, von Andern ausgerufen und von Andern gebucht werden, Alles wie von Theilen einer rastlos und seelenlos arbeitenden Maschine. Gerade vor uns dehnt sich das Muster- und Probendepartement auf endlos langen, polirten Tafeln und in eben so unabsehbaren Fachwerken und Gesimsen hin, Centnerlasten von Handschuhen, wollenen und baumwollenen Waaren aller Art, Reisetaschen, Regen- und Sonnenschirmen, Zwirnen und Schnuren und tausenderlei Kleinigkeiten, in denen unsere Frauen und Töchter so viel Geld „verposamentiren“. Und diese Massen, mit denen man anscheinend die ganze schöne Welt von Europa verposamentiren könnte, sind blos Proben und Muster der Waaren. Die eigentlichen Vorräthe derselben lagern unter uns in unabsehbaren Mauern von Ballen und Packeten. Große Kettenkrahne winden stets andere Ballen herunter, wie sie eben aus den Fabriken kamen, oder herauf zum Leben in den Kleinhandel aller Weltgegenden. Wir blicken auf, emporgelockt durch lange Reihen schlanker Eisensäulen, die durch alle Etagen des Gebäudes die verschiedenen Galerien und Abtheilungen tragen, keine schwere dorische, keine leichte corinthische Säulenordnung, sondern eine moderne, praktische Architektur und Aesthetik in eigener Melodie. Ungeheure Flaschenzüge, Schafte und Krahne knattern und raffeln immerwährend Waarenballen auf und ab, die in verschiedene Etagen vertheilt und dort geordnet und aufgeschichtet werden. Diese ganze reinliche, elegante, wimmelnde Geschäftsverkettung raffelt und rädert sich fortwährend ab, als würden alle Menschen und Waaren zugleich von einem einzigen, ungeheuren Dampfmaschinenkolben getrieben, so seelenlos und regelmäßig arbeiten die Krahne und die Arme und Beine und Federn. Es wurde mir manchmal ganz unheimlich zu Muthe, weil ich kaum unterscheiden konnte, was Mechanismus und Maschinerie und was Mensch war. Die Einzelnheiten dieser Menschen- und Sachen- Maschinerie lassen sich nicht schildern, ohne in’s Technische zu gehen. Deshalb heben wir nur noch einiges Neue und Eigenthümliche hervor.

Was soll die große Bibliothek dort in der einen Ecke? Lesen die Herren, in Musestunden Romane? Die Bibliothek besteht

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 515. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_515.jpg&oldid=- (Version vom 27.5.2019)