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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Wie ich nicht nachgab, so gab auch er nicht nach; doch stieg er wieder aus.

„Auerbach,“ befahl er einem der Executoren, „bestellen Sie Extrapost für den Herrn Oberlandesgerichtsrath. Eilen Sie!“

Wir begaben uns in seine Wohnung zurück, stumm, mit feindlichen Blicken einander messend. Es ist ein eigenes Leben, das Beamtenleben. Der Mensch muß ganz in dem Beamten zurücktreten, hatte mir einmal der Vater Theresens gesagt.

Ich war damals eben Auscultator geworden, und noch voll von Studentenansichten und Jugendextravaganzen. Es wurde davon gesprochen, daß ein junger Mann, der sich als Student feig benommen und den wir deshalb in Verruf erklärt hatten, bei demselben Gerichte als Auscultator eintreten werde. Ich erklärte in einer Gesellschaft laut, daß man solch einen Menschen nicht an dem Tische der Auscultatoren und Referendarien dulden dürfe. Der junge Mann kam zwar nicht, aber der Präsident ließ mich rufen und sagte mir: „wenn er kommt, und Sie verziehen nur eine Miene gegen ihn, so werde ich Sie aus dem Dienste entlassen. In dem Beamten muß der Mensch ganz aufgehen.“

Es dauerte eine halbe Stunde, bis der Postwagen kam. Ich hatte durch mein Benehmen den Aufenthalt nicht beabsichtigt, aber meine Freude über ihn war kein Amtsverbrechen. Wir stiegen wieder ein; der Präsident mit dem Kassenrath, ich allein, der Doktor Feder allein. Die beiden Executoren setzten sich auf den Bock des Präsidentenwagens.

„Schwager,“ sagte ich beim Abfahren laut zu dem Postillon, „Sie fahren unmittelbar hinter dem Wagen des Herrn Präsidenten.“

Er fuhr so. Auch dieser Uebermuth meiner feindlichen Stimmung sollte zu einem Aufenthalte beitragen.

Es war ein klarer Wintertag mit einem gelinden Froste. Es hatte nicht allein den Tag zuvor stark geschneit, sondern früher schon war viel Schnee gefallen. Wir fuhren auf einer Chaussee, die wenig befahren war; der Schnee lag unregelmäßig, aber doch überall hoch, der Frost hatte ihn mit einer Kruste bedeckt. Die Pferde mußten diese bei jedem Tritte durchschneiden, wobei sie sich die Füße verletzten. Wir hatten kaum den vierten Theil des Weges zurückgelegt, als eins der Postpferde vor meinem Wagen hinkte. Der Postillon fluchte, aber er konnte nur im Schritt fahren; der Kutscher des hinter mir fahrenden Doktor Feder fluchte noch mehr, aber er wagte nicht, an mir vorbeizufahren, denn er war Zeuge meiner Unterredung mit dem Präsidenten gewesen. Der Doktor hatte vollends nicht den Muth, ein Wort zu sagen, und so mußte er langsam hinter mir herfahren. Nach einer Weile fuhr auch der Wagen des Präsidenten langsam, so daß wir ihn einholten. Man hatte darin den Aufenthalt bemerkt, der mein Fuhrwerk traf. Die einträchtige Commission durfte sich nicht trennen. Die drei Wagen fuhren wie in einem Leichenzuge. Der Weg ging durch unbewohnte Haide, und es war daher an Relais nicht zu denken. Auf der Hälfte des Weges begegnete uns ein Schlitten; er flog mit rasender Eile an uns vorüber, und darin saß ein einzelner, in einen Pelz gehüllter Herr; ich erkannte in ihm trotz der Eile und trotz der Umhüllung den Herrn von Grauburg.

Es wurde mir schwer und doch auch wieder leicht um das Herz. Schwer, da ein Defect seiner Kasse jetzt völlig gewiß war; leicht, denn er mußte Hoffnung und Mittel zur Rettung haben. Unsere langsame Leichenfahrt kam ihm dabei zu Hülfe. Möchte sie zu einer Leichenfahrt für die Hoffnungen des nichtswürdigen Menschen hinter mir werden, wünschte ich in meinem Innern.

Es war schon völlig dunkel geworden, als die Wagen hielten. Einer der Executoren öffnete den Schlag meines Wagens.

„Wo sind wir?“ fragte ich ihn.

„Auf der Domaine Vornholz.“

Ich hatte nicht den geringsten Zweifel mehr gehabt, daß wir dort seien. Der Name gab mir dennoch einen Stich in das Herz, und trüb gestimmt verließ ich den Wagen.

Wir befanden uns auf einem weitläufigen, länglich viereckigen Hofe. der rund umher mit Gebäuden umgeben war; an dem obern Ende desselben, unmittelbar vor einem breiten und hohen schloßähnlichen, mit Thürmen versehenen Hause. Deutlich konnte ich die Umrisse an dem hellen Sternenhimmel sehen. Das Haus lag still und dunkel da, nur zwei Fenster in einem hohen Parterre, wahrscheinlich zu einem und demselben Zimmer gehörig, waren erleuchtet. Zu diesem Hause führte eine Freitreppe, vor deren Stufen die Wagen angehalten hatten.

Es regte sich nichts bei unserer Ankunft, weder in dem Hause oder Schlosse, noch in den andern Gebäuden, selbst nicht auf dem Hofe, wir waren also von den auf der Domaine anwesenden Personen nicht erwartet; auch nicht von der unglücklichen Frau, der eine schreckliche Stunde, vielleicht wie sehr leicht die völlige Vernichtung ihres ganzen, ohnehin bisher so spärlichen Lebensglückes harrte. Sie ahnete nichts davon; sie träumte vielleicht gerade jetzt von endlichen bessern Tagen, umgeben von ihren Kindern, oder beschäftigt mit der Ausschmückung des Weihnachtsbaumes für die lieben Ihrigen.

Es war Weihnachts-Heiligerabend. Das heimliche, heilige Dunkel war da, in dem tausend und aber tausend glückliche Kinderaugen lachten und leuchteten.

Wir stiegen die Freitreppe hinauf. Einer der Executoren zog an einer großen Glocke neben der Thüre. Sie läutete hell im Innern des Schlosses. Mehrere Hunde schlugen laut an. Bald darauf erhellten sich zwei Fenster zu beiden Seiten der Thüre, und diese wurde geöffnet. Wir traten in die geräumige Halle. Der Diener, der uns geöffnet hatte, ein dem Anscheine nach gewandter Mensch, sah uns verwundert an. Wir kamen also völlig unerwartet.

„Ist der Herr Domainendirektor zu Hause?“ fragte der Präsident den Bedienten.

Meine Reisegefährten hatten also wahrscheinlich den Herrn von Grauburg auf der Chaussee nicht erkannt.

„Der gnädige Herr sind verreiset,“ antwortete der Bediente.

„Bis wann?“

„Ich kann nicht dienen. Die gnädige Frau sind zu Hause.“

Der Präsident wechselte ein paar Blicke mit dem Kassenrath.

„Führe Er uns zu der Kasse.“

„Ich bedauere, die Kasse ist verschlossen.“

„Verschlossen? Und die Beamten?“

„Es ist Weihnachts-Heiligerabend.“

„Aber es ist noch nicht sechs, also noch Bureaustunde.“

„Als der gnädige Herr verreiseten, gaben sie den Beamten für heute Urlaub.“

Der Herr von Grauburg hatte uns also doch wohl erwartet.

„Schließe Er das Kassenzimmer auf,“ befahl der Präsident dem Bedienten.

„Ich bedauere, der gnädige Herr haben den Kassenschlüssel mitgenommen.“

Der Präsident und der Kassenrath wechselten verlegene Blicke.

„Nach meiner unmaßgeblichen Meinung,“ nahm der Doktor Feder das Wort, „dürfte ein Schlosser herbeizuholen sein.“

„In der That,“ sagte der Kassenrath zustimmend.

Der Präsident schien wohl vornehm, aber auch eben so leicht rathlos zu sein, und dann nur Andern folgen zu können.

„Ist ein Schlosser in der Nähe?“ fragte er den Bedienten.

Ich glaubte, lange genug geschwiegen zu haben.

„Herr Präsident,“ fragte ich, „gehört die Gewaltmaßregel, die Sie scheinen ausführen lassen zu wollen, zu den amtlichen Geschäften der Commission, der ich zugeordnet bin?“

„Gewissermaßen,“ antwortete er nicht vornehm.

„So muß ich für den Augenblick gegen sie protestiren. Sie haben noch nicht die Güte gehabt, auch nur mit einem einzigen Worte mich von dem Geschäfte der Commission in Kenntniß zu setzen. Bevor ich es nicht kenne, kann ich an keinem einzigen Akte Theil nehmen, viel weniger an einem Gewaltakt.“

„Sie haben Recht, Herr Rath. Bedienter, führe Er uns in ein Zimmer.“

Der Bediente öffnete ein Zimmer seitwärts in der Halle.

„Haben Sie die Güte, einstweilen in das Zimmer des gnädigen Herrn einzutreten. Ich werde weitere Befehle der gnädigen Frau einholen.“ Er verließ uns.

Wir befanden uns in einem comfortabeln, fast elegant eingerichteten Arbeitszimmer. Der Herr von Grauburg war überall Lebemann. Es herrschte große Ordnung in dem Zimmer. Nur einzelne ältere Akten lagen offen. Alle andern Geschäftspapiere schienen in den zahlreichen Schränken eingeschlossen zu sein. Die Schlüssel waren nicht da.

Der Bediente kam nach wenigen Augenblicken zurück.

„Die gnädige Frau läßt um die Namen der Herren bitten.“

„Wir haben mit dem Herrn Domainendirektor Geschäfte. Frage Er die gnädige Frau, wenn der Herr zurückkommt.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 518. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_518.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)