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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Diese beiden Blumen werden uns wie Blicke des Himmels bis zu dem Augenblicke beschirmen, wo ich Ihrer würdig sein werde!“

Die beiden Glücklichen vergaßen, daß sie sich auf der Erde befanden. Da plötzlich umschwirrte eine Fledermaus mit ihren schwarzen Flügeln die Häupter der Liebenden. Henriette schmiegte sich erschreckt an den jungen Mann; dieser wehrte den Unglücksvogel mit der Hand ab. Aber Adolf war tief erschüttert – ein kalter Schauer durchrieselte seinen ganzen Körper. Beide sagten sich indessen so oft, daß sie sich liebten, sie entwarfen so viel thörichte Pläne, daß sie für den Augenblick die unheilvolle Vorbedeutung vergaßen.

Henriette kehrte in den Ballsaal zurück. Der junge Mann, berauscht von seinem Glücke, machte einen Spaziergang auf das Land, der sich auf die ganze Nacht ausdehnte – erst spät am Morgen betrat er die Stadt wieder.


II.

Der Leser wird fragen, wer ist, was arbeitet Adolf; was für einen Zweck verfolgt er, und was hofft er in der Gesellschaft für eine Stellung einzunehmen, die er seiner Henriette bieten kann? Was will er werden? Adolf war ein armer Künstler, der sich einen Ruf erwerben wollte, ein Künstler, der keinen andern Schutz hatte, als den Gottes und seines Genies, der keine andere Hoffnung hegte, als daß einst die Menge sich nach ihm drängen und ihm Beifall spenden sollte. Es war dies eine etwas kühne Hoffnung – aber einem Musiker schien die Verwirklichung derselben nicht unmöglich. Rührt nicht die Musik, mehr noch als die Dicht- und Malerkunst, die Herzen der Menge? Ist sie nicht das sympathetische Band zwischen dem Menschen und Gott, die unsichtbare Leiter von den sichtbaren zu den unsichtbaren Dingen, die geheimnißvolle Stimme, die auf der Erde die Sprache des Himmels zu reden scheint?

Adolf hatte keine Eltern mehr. Die Unwissenheit eines Vormundes hatte ihm seine Carrière gehemmt; aber dadurch war sein Eifer nur noch reger geworden. Er war nur erst einundzwanzig Jahre alt, und schon hatte er sich bemerkbar gemacht, aber leider nicht so bemerkbar, daß er eine Stellung einnahm. Adolf sollte noch ein Jahr eifrig studiren, und dann, so hatte man ihm versprochen, würde er Gold und Ehre ernten. Seit er Henrietten das feierliche Eheversprechen gegeben, studirte er mit einem glühenden Eifer die Partituren Weber’s, Mozart’s und Beethoven’s. Er hoffte eine Krone zu gewinnen, die der reinen Stirn seiner Geliebten würdig war.

Getrieben von seinen edeln Gesinnungen, arbeitete der junge Künstler Tag und Nacht, um groß und geachtet zu werden. Er zählte fest auf Henrietten; die Liebe verklärte den Horizont seiner Zukunft mit einem rosigen Scheine, und wurden ja einmal Zweifel wach, so fragte er sich: was habe ich zu fürchten? Henriette hat mir im Angesicht? Gottes einen feierlichen Eid geschworen, und Gott gibt nicht zu, daß man vergebens einen Eid schwört.

Die kleine rothe Rose, die Henriette mit ihren Lippen berührt, war längst verwelkt; aber Adolf trug sie stets wie einen Schatz auf seiner Brust.

Wie ist man doch glücklich mit einundzwanzig Jahren, und wie gut denkt man von Welt und Menschen!

Eines Abends kehrte er aus dem Conservatorium der Musik in seine Wohnung zurück. Sein Gesicht verklärte ein edler Stolz, denn der Direktor hatte ihm angekündigt, daß er bei einer ausgeschriebenen Konkurrenz den ersten Preis verdient habe. Dieser Diamant war kostbar genug, um ihn der Geliebten anzubieten. Der glückliche Musiker dachte nur an den Augenblick, wo er Henrietten würde sagen können:

„Diese Krone und dieser Ruhm, der meine Stirn verklärt, gebührt Ihnen, denn ich habe ihn mit einem Theile meiner Seele erkauft, und meine ganze Seele ist ja schon seit langer Zeit Ihr Eigenthum!“

Als er sein Zimmer betrat, fand er einen Brief auf dem Tische, den man für ihn in seiner Abwesenheit abgegeben hatte. Da er nicht ahnte, von wem er kam, erbrach er ihn erst nach einigen Minuten. Er las folgende Zeilen:

               „Mein Herr!

     „Unterzeichnete beehren sich, Ihnen anzuzeigen, daß Ihre Tochter Henriette gestern mit Herrn Otto Winter, Wechselagenten an hiesigem Platze, verheirathet ist. Das junge Ehepaar

geht heute auf das Land.

F. Wilda und Frau.“

Es waren kaum acht Monate verflossen, seit Henriette ihm geschworen hatte, nie einem andern Manne als ihm anzugehören, und schon hatte sie sich Otto Winter hingegeben, oder – verkauft!

Der arme Adolf stieß keinen Schrei der Wuth, keine Verwünschung aus; er vergoß weder Thränen der Verzweiflung noch des Schmerzes. Ruhig legte er den Brief auf den Tisch zurück, setzte sich auf einen Stuhl, stützte die Stirn in die Hand, und starrte mit trockenen, brennenden Augen das Papier an. Sein Verstand verwirrte sich! Eine Art Wahnsinn bemächtigte sich seiner, als er so plötzlich das Band zerreißen sah, das sein ganzes Wesen umschlungen hielt; sein Geist konnte die Last eines hoffnungs- und resultatlosen Lebens nicht ertragen. Adolf’s Zustand war mehr eine völlige Muthlosigkeit und Zerschlagenheit, als Wahnsinn.

Der arme Musiker war einem Bewohner des Himmels zu vergleichen, den Gott zur Erde sendet und verdammt, Jahrhunderte unter schlechten und gleichgültigen Menschen zu leben.


III.

Es liegt nicht in der Absicht des Verfassers, alle die kleinen Hülfsmittel, die Blicke, Galanterien, Versprechungen, Toilettenkünste u. s. w. zu erzählen, die Otto Winter angewendet, um Henriette Wilda zu besiegen. Es würde dies eine uninteressante Geschichte werden. Die Andeutung genügt: Henriette war ein vorzeitig gereiftes Kind. Sie mochte achtzehn Jahre alt sein, als eine ihrer Tanten einst sagte:

„Henriette wird eine Frau, die Kopf hat!“

Ich weiß nicht, ob der Leser die Frauen von Kopf liebt; aber ich muß gestehen, daß mir Frauen von Kopf wie frühzeitig gereifte Kinder vorkommen. In beiden Fällen hege ich kein Vertrauen zu diesem Ueberflusse von Hirn. Kinder und Frauen brauchen Herz, viel Herz, und nicht einen großen Reichthum von Geist. Der Geist bildet sich stets nur auf Unkosten des Herzens; er gleicht einer rasch aufblühenden Blume, die keinen Duft verbreitet.

Die geistreiche Henriette nun hatte mit kaltem Verstande über die Liebe kalkulirt, und die Wünsche ihrer interessirten Eltern hatten sie nur zu rasch gelehrt, die positive Seite des Lebens im Auge zu halten. Es gibt übrigens in dem Herzen aller Frauen einen geheimnißvollen Ort, den nie eine Sonde erreicht hat; sie werden oft von einem Taumel ergriffen, der sie, ohne daß sie es wissen, hinreißt, und Gefühle in ihnen erzeugt, aus denen jene Thaten hervorgehen, die zu analysiren der Romantiker verzichten muß.

Am 30. Juni brachte ein Journal folgenden Artikel: „Gestern fand mit der gewöhnlichen Feierlichkeit die Vertheilung der Preise an unserm Conservatorium der Musik statt. Der Minister, Herr von F., hat eine Rede gehalten, die mit großem Beifall aufgenommen wurde. Seltsam war es, daß Herr Adolf M., der in diesem Jahre den ersten Preis errungen, bei der schönen Ceremonie fehlte. Der junge Mann ist seit einigen Tagen verschwunden, und Niemand weiß, wo Forschungen nach ihm anzustellen sind.“

Der Verfasser weiß es, und er beeilt sich, es den freundlichen Lesern mitzutheilen.

Als die Nacht anbrach, saß Adolf immer noch in dem Stuhle; seine starren Blicke hingen immer noch an dem Briefe, der auf dem Tische lag. Er schien unfähig zum Denken zu sein – selbst das Athmen fiel ihm schwer. Plötzlich schien ein Lichtstrahl seinen Geist zu erhellen; er stand auf, holte die vertrocknete Rose von seiner Brust, legte sie in den verhängnißvollen Brief, und schloß den Brief in ein Portefeuille, in dem sich bereits das Portrait Henriette’s befand. Dann packte er seine Kleidungsstücke und seine Violine ein, steckte zwanzig Louisd’or zu sich, die er in einem Secretär aufbewahrte, ließ seine wenigen Möbel als Zahlung für die Wohnung zurück, und verließ das Haus und die Stadt, um nie zurückzukehren. Er vergoß keine Thräne, äußerte kein Wort – dachte an Nichts!

Die ganze Nacht hindurch setzte er hastig seinen Weg fort.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_534.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2017)