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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Mit dem Anbruche des Morgens hatte er eine Eisenbahnstation erreicht. Er kaufte sich ein Billet, stieg in den Wagen als der Zug ankam, und fuhr der Schweiz zu, die er vierundzwanzig Stunden später erreichte. Mit der Post reisete er nach Genf. Hier miethete er eine kleine Wohnung, und richtete sich bescheiden ein. Dann schrieb er an seinen Vormund, bat ihn, seine Rechnungen zu ordnen, und ihm die Hälfte des Vermögens zu senden, da er mündig geworden sei. Die andere Hälfte solle der Vormund behalten. Die Wünsche Adolf’s waren bald erfüllt: er erhielt die Hälfte seines Vermögens.



IV.


Zwei Jahre sind verflossen.

Adolf bewohnte ein bescheidenes, aber freundliches Stübchen, das ihm Collin, ein armer Uhrmacher, vermiethet hatte. Vater Collin konnte nicht mehr arbeiten, weil seine Augen so schwach geworden waren, daß er in einer ewigen Dämmerung lebte. Er hatte früher ein eigenes Geschäft gehabt, war aber durch Unglücksfälle herabgekommen und hatte dann, um eine zahlreiche Familie zu ernähren, in einer der großen Uhrenfabriken Genfs arbeiten müssen. Seine drei ältesten Söhne hatten bereits das väterliche Haus verlassen, um sich selbst zu ernähren; zwei lebten in Paris, einer war nach Deutschland gegangen. Nur Melanie, ein reizendes Mädchen von achtzehn Jahren, war noch bei ihren Eltern; sie half der stets kränklichen Mutter in der Wirthschaft, und vermehrte die spärliche Einnahme, indem sie für ein großes Magazin feine Stickereien fertigte.

„Vater,“ sagte Mutter Collin eines Tages zu ihrem Manne, „hast Du nicht bemerkt, daß mit unserer Melanie eine Veränderung vorgegangen ist?“

„Du weißt, Mutter, daß ich über ihr Aussehen nicht entscheiden kann. Vor einem Jahre war es mir mit Hülfe meiner Brille noch möglich, zu erkennen, daß unsere Melanie ein schönes, blühendes Gesicht und einen gesunden, frischen Körper hatte. Ist es jetzt nicht mehr so?“

„Nein, das meine ich nicht. Trotzdem die gute Melanie oft bis spät in die Nacht arbeitet, so hat dennoch ihr frisches Aussehen nicht gelitten, und ich muß sagen, daß sie mit jedem Tage schöner wird.“

„O, über die Eitelkeit einer Mutter!“ rief Vater Collin, indem er sich lachend in seinem Sorgenstuhle aufrichtete. „Willst Du nicht auch die Behauptung aufstellen, daß Melanie das schönste Mädchen in der Stadt ist? Sprich es nur aus, Mutter, denn ich merke schon, es drückt Dir das Herz ab!“

„Nun, ich will nicht leugnen, daß ich unsere Melanie für ein sehr schönes Mädchen halte, und wer uns nicht kennt, wird sicherlich nicht glauben, daß sie die Tochter armer Eltern ist. Ach, Georg, könntest Du nur ihr Madonnengesicht und ihren eleganten Wuchs sehen, ihre kleinen Füße und ihre kleinen Hände, Du würdest Dich nicht minder darüber freuen, als ich.“

„Bleibe bei der Sache!“ rief ungeduldig Vater Collin. „Du sprachst von einer Veränderung, die mit unserer Melanie vorgegangen sein soll.“

„Melanie ist nicht mehr so heiter, als sonst; sie spricht wenig, und sucht sich der Gesellschaft zu entziehen. Stunden lang sitzt sie in ihrer Schlafkammer allein, und dabei arbeitet sie so emsig, als ob sie nicht genug verdienen könne. Gestern hörte ich sie einen tiefen Seufzer ausstoßen. Was fehlt Dir, Melanie? fragte ich erschreckt. Da ward sie feuerroth, zitterte am ganzen Körper und trocknete schnell die Thränen, die sich aus ihren Augen hervordrängten. Dann warf sie wie ärgerlich die Stickerei bei Seite, indem sie sagte: da habe ich schon wieder eine schöne Blume verdorben! Mir will Nichts mehr gelingen, seit ich für das neue Magazin arbeite! – Während sie sich eine Beschäftigung in der Küche machte, sah ich die Stickerei nach: Georg, die Arbeit war wunderschön, daß selbst ein Maler nichts daran zu tadeln gehabt haben würde. Du weißt, daß ich solche Sachen beurtheilen kann. Das arme Kind hatte diesen Vorwand ersonnen, um mich zu täuschen.“

„Und was glaubst Du nun, Mutter?“

„Ich glaube, daß Melanie verliebt ist.“

„In wen?“

„In unsern stillen Miethsmann, der das kleine Giebelzimmer bewohnt. Sobald sie ihn sieht, erheitert sich ihr Gesicht; sie grüßt ihn selbst mit einer Art Ehrfurcht. Sein Stübchen hält sie so sauber und rein, als ob sie es selbst bewohnte. Die Blumen pflegt sie mit einer besonderen Vorliebe, und neulich erst hat sie eine schöne Monatsrose in das Fenster gestellt, wahrscheinlich um ihm eine Freude zu bereiten, denn er liebt die Rosen mehr als alle andern Blumen.“

„Herr Adolf wäre nun eben der Mann nicht, den ich mir zum Schwiegersöhne wünschte!“ murmelte Vater Collin. „Der deutsche Musiker ist ein Sonderling. Man kann zwar Nichts gegen ihn sagen; aber sein stilles verschlossenes Wesen gefällt mir nicht. Seit einem Jahre wohnt er bei uns, und wenn er nicht zuweilen auf seiner Geige spielte, die er mit seltener Virtuosität zu behandeln versteht, so würden wir kaum wissen, daß wir einen Miethsmann im Hause hätten. Nein, Mutter, Melanie ist ein zu aufgewecktes, lebensfrohes Mädchen, sie kann an dem düstern Menschen keinen Gefallen finden. Hast Du bemerkt, daß er Aufmerksamkeit für Melanie zeigte?“

„Nein; er grüßt sie artig, aber kalt, wie er stets gethan. Und hierin glaube ich den Grund des Kummers unserer Tochter zu erblicken, denn ich lasse es mir einmal nicht nehmen: Melanie hat Kummer.“

Das Gespräch wurde durch Melanie’s Erscheinen unterbrochen. Die Mutter hatte nicht zu viel von der Schönheit ihrer Tochter gesagt – das junge Mädchen war ein reizendes, elegantes Geschöpf. Sie war sehr einfach, aber äußerst sauber und geschmackvoll gekleidet. Nachdem sie den kleinen Strohhut und den leichten Sommershawl abgelegt hatte, küßte sie zuerst dem halb erblindeten Vater, dann der Mutter die Stirn. Sie lächelte, aber es sprach sich in diesem Lächeln eine Melancholie aus, die ihrer Anmuth einen rührenden Reiz verlieh. Hätte Vater Collin sehen können, er würde der Ansicht seiner Frau beigepflichtet haben.

In diesem Augenblicke ließen sich die Töne einer Geige vernehmen. Vater Collin warf den Kopf in die Lehne feines Stuhls zurück, sah starr nach der Decke des Zimmers, und horchte mit dem Entzücken, das die Musik in erblindeten Menschen zu erregen pflegt. Mutter Collin, die jedes Geräusch zu vermeiden suchte, um ihrem Manne den Genuß nicht zu stören, ließ sich still neben dem Fenster nieder; aber dabei beobachtete sie Melanie, die in dem Augenblicke, in dem die Musik begann, wie eine Statue neben dem Tische stehen blieb; sie faltete die kleinen Hände und horchte den elegischen Tönen, als ob sie eine wunderbare, himmlische Musik hörte. Und wahrlich, es mußte ein Meister sein, der dem Instrumente solche Töne zu entlocken wußte. Der stille Miethsmann, wie ihn Vater Collin nannte, gab nur auf diesem Instrumente Lebenszeichen von sich, und wollte man von diesen Zeichen auf sein Leben schließen, so mußte man die Ansicht gewinnen, daß es ein trauriges, ein kummervolles war, denn seine improvisirten Melodien sprachen eine tiefe Melancholie, einen rührenden Seelenschmerz aus.

Während der Vater mit angehaltenem Athem lauschte, betrachtete die Mutter verstohlen ihre Tochter. Melanie schien zu beten; ihr feines, reizendes Gesicht drückte eine schwermüthige Freude aus. Plötzlich schien sie sich zu erinnern, daß man sie beobachten könne; sie sah zu ihrer Mutter hinüber. Madame Collin schüttelte das greise Haupt und drohete der überraschten Tochter mit dem Finger. Melanie ward purpurroth; sie wandte sich ab, und schlich leise aus dem Zimmer. Draußen trocknete sie zwei Thränen, die wie Perlen in den langen Augenwimpern flimmerten.

„Es unterliegt keinem Zweifel!“ dachte Mutter Collin. „Das empfindsame Mädchen hat sich durch die Musik von dem armen, aber interessanten Geiger fangen lassen? Gebe Gott, daß es noch Zeit ist, vorzubeugen.“



V.


Acht Tage später ereignete sich ein Vorfall, der die besorgte Mutter in ihrer Ansicht bestärken sollte. Sie war auf dem kleinen Vorsaale mit der Besorgung ihrer Wirthschaft beschäftigt, als die Glocke gezogen wurde. Mutter Collin öffnete die Thür. Ein langer, stattlicher Mann stand auf der Schwelle. Hinter ihm,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 535. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_535.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2017)