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Blätter und Blüthen.


Census der Arbeiter von Paris. Die verschiedenen französischen Regierungen haben sich oft Mühe gegeben, in ihrem Interesse, Alles über Allen und Jeden zu wissen innerhalb der Republik, des Königs- oder Kaiserreichs, sich auch über Gewerbe und Handel genaue statistische Wissenschaft zu verschaffen. Man versuchte es 1791, aber vergebens. Napoleon befahl 1807 seinem innern Minister, zu erforschen, wie viel in jedem Gewerbs- und Handelszweige Menschen beschäftigt seien. Die Ergebnisse waren höchst unvollständig und unsicher. Louis Philipp versuchte etwas Aehnliches 1831, aber auch ohne Erfolg. Die Nationalversammlung von 1848, die eine neue Untersuchung anstellen ließ, bekam blos unvollkommene Notizen aus verschiedenen Departements und aus dem wichtigsten, der Seine, gar keine. Es schien, als entziehe sich das souveräne Volk der bureaukratischen Controle und als wolle es nicht mehr, wie capite censi, gezählt werden. Aber die Handelskammer ging 1849 gründlich und umfassend an’s Werk und hat nach beinahe vierjähriger ununterbrochener Arbeit die Resultate derselben in einem riesigen Buche von anderthalb Tausend Quartseiten ungemein genaue und specielle Kunde über die statistischen Verhältnisse der Gewerbe- und Handeltreibenden von Paris veröffentlicht. Die Untersuchungen beschränken sich auf Paris, den „Polizeibezirk“ von Paris, wie man in Deutschland sagen würde, innerhalb welcher die Municipaltaxe (Octroi) bezahlt wird. Die Bevölkerung betrug damals (1849) 1,053,262 Seelen, 235 weniger als 1846. In dieser Abnahme bildet Paris den schneidendsten Kontrast zu London, das alle Jahre um mehrere ganze Städte und mehr als 100,000 Menschen zunimmt. Die englischen Familien sind fast immer sehr zahlreich und in den mittlern und höhern Klassen sehen die dicken Waden von ein halb Dutzend Kindern in jeder Familie wie die dicksten Orgelpfeifen aus, und ihre blühenden rothen Backen ersetzen beinahe den Sonnenschein an trüben Tagen. In Paris sind zwei dünne, zarte Kinderchen in der Regel Alles, womit eine Ehe gesegnet wird. Oft gibt’s gar nichts, und was zur Welt kommt, geht zur Hälfte wieder davon, ehe es Steuern zahlen, Gewerbe treiben oder Soldat werden kann.

Paris war behufs der Schätzung in 326 Distrikte getheilt worden. Es ergaben sich 325 verschiedene Gewerbe, die darin getrieben wurden. Diese sind in 13 Gruppen getheilt und so arrangirt, daß jeder Distrikt mit den andern verglichen werden kann. Während der Untersuchung wurden über 32,000 Häuser besucht und protokollirt. Da keine Namen gegeben zu werden brauchten und nicht veröffentlicht werden sollten, glaubte man, im Durchschnitt ehrliche Aussagen und richtige Facta erhalten zu haben.

Wir finden in den Tabellen 64,816 Meister und Arbeitgeber verzeichnet, welche 342,530 Menschen beschäftigten. Diese 407,346 Gewerbtreibenden producirten zusammen einen Werth von 400 Millionen Thalern (um Franks u. s. w. stets in verständlichere, anschaulichere Werthe zu übersetzen). Diese ungeheuere Summe schließt freilich alle Kosten der verbrauchten Rohmaterialien in sich und wird blos producirt, wenn, um eine ausgeleierte politische Phrase zu gebrauchen, „Ordnung herrscht in Paris“ und weder von Unten noch Oben diese Ordnung bedroht noch eingeschnürt und ausgesogen wird.

Auch bekamen wir einen Begriff von der viel ventilirten unglücklichen Frage weiblicher Arbeit. Von den Gewerbtreibenden waren 112,891 weiblichen Geschlechts, darunter 4851 Mädchen unreifen Alters, viele unter zwölf Jahren. Von Knaben unter fünfzehn Jahren mußten 16,863 für’s Brot arbeiten. Von Lehrlingen männlichen und weiblichen Geschlechts gab es 19,078. Die Lehrlingszeit variirt von zwei bis sechs Jahren, doch finden wir in 1400 Fällen Bestimmungen für eine unbestimmte Zeit, die von dem Meister abhängig gemacht war. Danach scheint die Lage der Lehrlinge eine sehr unglückliche und der ärgsten Willkür preisgegebene zu sein. Die Lehrlinge, verlassene, schutzlose Kinder, bezahlen in der Regel kein Lehrgeld in hartem Gelde, wahrscheinlich desto mehr in harter Behandlung und Arbeit bin in’s Unbestimmte. Viele erhalten Kost und Logis, worüber man sich sehr dunkele Bilder ausmalen kann.

Die Lohnverhältnisse bewegen sich in einem weiten Spielraume. Während manche Schneider wahre Geheimrathseinnahmen erwerben. 3 Thaler täglich, also wahre Nationalversammlungsdiäten, bringen es andere Schneider wiederum kaum bis 6 Sgr. täglich. Fleischer erhalten von 5 Sgr. bis 1 Thlr. 10 Sgr., Juweliere von 6 Sgr. bin beinahe 4 Thlr. täglich. Die Durchschnittslöhne wöchentlich stellen sich etwa so: Juweliere und Vergolder 10 Thlr., Bäcker und Schneider 6 Thlr., Schuhmacher 5 Thlr., Tischler 6–8 Thlr., Maurer 5 Thlr. 10 Sgr., Kutschenmacher 7 Thlr., Stubenmaler 6 Thlr., Hutmacher 7 Thlr., Drucker und Setzer 7 Thlr., Schlosser 6 Thlr., Putzmacher 6 Thlr., Wäscherinnen 3 Thlr. Von 950 Näherinnen in den verschiedenen Phasen verdient im Durchschnitt täglich keine mehr als 5 Sgr. Hood’s Lied vom „Hemde“ paßt vielleicht noch mehr auf Paris, als auf London.

Eine andere Tabelle läßt uns in die Häuslichkeit der „arbeitenden Klassen“ einen Blick thun: 122,000 männliche und 68,000 weibliche Individuen lebten in Zimmern, von ihnen selbst meublirt, 4000 männliche und 12,000 weibliche mit Eltern und Verwandten, 6000 männliche und 2000 weibliche bei ihren Arbeitgebern und 34,000 männliche und 4000 weibliche in meublirten Zimmern. 38,000 Chambregarnisten! Von den männlichen Individuen konnten nur 147,311 lesen und schreiben, unter den weiblichen 68,219. Und so ist das Verhältniß in dem geist- und wissenschaftsreichen Haupte von Frankreich!

Wie steht es in den Provinzen aus? In den Dörfern? Erklärt dies nicht allein die Schicksale und Ergebnisse des „allgemeinen Wahlrechts?“ In der größern Hälfte Frankreichs reicht man blos durch ein fliegenbeflecktes Portrait der heiligen Jungfrau und eins von Napoleon in der schmutzigen Hütte über die blos thierische, hungrige Existenz hinaus. Und der in Paris concentrirten Kultur fehlt es an sittlicher und intellectueller Basis, an Freiheit im Innern, an Freiheit von Außen. Kultur, Luxus, Industrie, Kunst und Handel huldigen der Form, der Mode, den Bedürfnissen des Scheins und raffinirter Unmoralität. Riechfläschchen, Schminke, falsche Waden und culs, wollüstige Statuetten, transparente Karten und Bücher mit Illustrationen, die nur im Verborgenen fabricirt und verkauft werden aber in solchen Massen, daß die Polizei nicht ernstlich wagt, durch strenge Verfolgung vielen Tausenden das Brot zu nehmen), Fuder von Artikeln, die in England unter dem Titel „French Letters“ an den Schaufenstern berüchtigter Winkelstraßen feil geboten werden, und sonstige Bedürfnisse der blasirtesten, übersättigten Ausschweifung und Verirrung der Civilisation bilden eine Hauptphase französischer Produktion. Die pariser Industrie namentlich ist zu den Bedürfnissen gesunder, moderner Kultur, die die Menschen sittlicher, einfacher, geschmackvoller und gesunder macht, in Widerspruch gerathen. Sie arbeitet hauptsächlich für Roués und Dandys, für den Schein und Schund der civilisirten Menschheit, welche inzwischen von ihrem eigenen, immer besser erkannten Interesse mehr und mehr zum Soliden, Sittlichen und Schönen getrieben wird. Deshalb zeigt Paris immer sichtlichere Spuren des Verfalles. Die bloße Abnahme an Bevölkerung um einigt Hunderte ist relativ zu dem ungeheuern Wachsthum anderer Brennpunkte der Bildung der Beweis eines ganz bedeutenden Verfalles in physischer, sittlicher und produktiver Potenz überhaupt. Ohne den Zufluß und die starke Vermehrung der Deutschen in Paris würde in manchen Straßen längst Gras wachsen. Die arbeitenden Klassen von Paris sind bereits ziemlich zur Hälfte Deutsche. Und in deren Händen sind meist die gesunden, lebenskräftigen, nützlichen und schönen Industrien. Die Pariser selbst und deren starke Vermehrung aus den Provinzen kommen immer kürzer gegen die dämonischen Elemente, welche an dem Verfalle der großen, schönen, glänzenden, jetzt kaiserprächtigen französischen Metropolis still und ununterbrochen arbeiten. Die ganze „westliche Civilisation“ wird unter vielen, blutigen Opfern durch eine lange, theure Schule der Erfahrung im Kampfe mit dem Osten und ihrer eigenen Ungesundheit erst allmälig zu einer soliden, neuern Basis und Phase getrieben werden.





Eine Meeresfahrt im Archipel. (Ein Erlebniß von Pr. v. C.) Es war eine heitere Gesellschaft, die das Schicksal den 4. Mai 1853 auf dem Verdeck des kleinen griechischen Dampfboots „Suliot“, versammelte, Engländer, Italiener, Deutsche, Armenier, Griechen, Polen, meist aber Franzosen, und zwar Französinnen saßen in bunten Gruppen auf den Polsterdivans umher, und im Gemisch der Stimmen und Sprachen war es auch hier die französische, die alle Nationalitäten verschmolz und es den schlanken griechischen Stutzern und den ernsten Armeniern möglich machte, mit den Damen schöne Worte und vielleicht auch jene flüchtigen Gefühle zu tauschen, die, wo südliche Feueraugen in die sanfteren des Nordens blicken, so schnell die Herzen beschleichen und die Elasticität der Gemüther erhöhen. Zwei blonde Töchter der Provence, die mit ihrem Vater, einem reichen Seidenhändler, von Smyrna nach Marseille unterwegs waren, sangen, von jungen Landsleuten unterstützt, Romanzen und Lieder in die laue Sommerluft hinaus, denen bald die übrige Gesellschaft lauschte; die Engländer unterbrachen ihr Schachspiel, die Italiener politische Discourse und ein paar deutsche Gelehrte, die von der Ebene von Troja kamen, ihren Streit über die Lage von Priams Weste, um den Melodien der provencalischen Liebeslieder zu horchen, die so sanft und schmelzend über die Lippen der schönen Mädchen glitten, und so gut zu dem herrlichen Abend stimmten, der die phantastischen Formen der griechischen Felseninseln mit Purpur färbte. Man hatte am Vormittag den Golf von Smyrna verlassen, und wogte nun, vom linden Südwind getrieben, unter der Küste von Chios, der schönsten Insel des Archipels, hinter derem kühn geschweiften Felsgebirge, das die Myrthe und der Lorbeer ewig grün umkränzen, die Sonne niedersank. Wie ein kolossaler Blumenkorb ragt Chios aus der schwarzblauen See, und aus den Thälern voll Orangenhainen trug der Abendwind die Blüthendüfte weithin über das Meer, das hier spiegelglatt zu schlummern scheint, und wenig den Ungestüm ahnen läßt, mit dem es an dem Klippengestade im Norden der Insel brandet.

Die Gesellschaft am Bord war bezaubert von dem Reiz den Abends, und als das letzte Sonnengold aus den Fluten erblich, und wir im Hafen von Kalamoty auf eine Stunde anlegten, ging man vom Gesänge zum Tanze über, und begrüßte jubelnd den Mond, der über die Küste Kleinasiens aufging, und die Erleuchtung des improvisirten Ballsaales vervollkommnete. Böte brachten Früchte und Blumen, die bald die Tänzerinnen schmückten, die nach den Klängen einer Guitarre so ahnungslos auf dem schwankenden Schiffe wie auf dem Rasen ihrer Heimath hüpften. Ach, wie waren Louison und Henriette, die Sängerinnen, fröhlich, und wie innige Blicke hatten ihre Tänzer, der Römer und der Pole, für sie, denen die hinter’s Ohr gesteckte rothe Rose so gut zu den dunkeln Locken stand. Immer noch höre ich die Freudenklänge jenes Abends und sehe die heitern Gestalten, die so bald im nassen Abgrund verschwinden sollten.

Wir, Graf S., der mich nach dem Piräus begleitete, und ich, hatten uns ganz hinten in’s Schiff an die Flaggenstange zurückgezogen, wo wir niemand störten, und Himmel und Meer überblickend war uns längst ein schwaches Wetterleuchten aus einem schmalen Wolkenstreif aufgefallen, der im Norden auf der See zu ruhen schien, und da wir nicht Neulinge auf dem Wasser, waren wir ganz auf einen schnellen Wechsel der uns umgebenden

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