Seite:Die Gartenlaube (1856) 567.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

die Verblendung! Und habe ich nicht ebenfalls ein Verbrechen begangen, um reich zu werden, um in der Welt zu glänzen? Du hast einen reichen Verwandten vergiftet – ich habe Dein Leben vergiftet, ich habe Dich in den Zustand versetzt, der Dich zu dem fähig machte, was Du gethan. Verzeihe mir, verzeihe mir, mein armer Freund! Ich büße ja meine Verirrung durch die fürchterlichsten Qualen. Otto hat mich nicht aus Liebe, er hat mich aus Eitelkeit zu seiner Frau gemacht. Der reiche Mann wollte nicht nur um sein Vermögen, er wollte auch um seine Frau beneidet sein. Wenn er mich liebte, so würde er meinen Schmerz ehren, würde mich beklagen!“

Mitternacht war längst vorüber, als die arme Frau zu Bett ging. Nach einer schlaflos verbrachten Nacht stand sie wieder auf. Ihr Gesicht war bleicher, als sonst, ihre Augen waren trübe vom Wachen und Weinen. Sie rief die Kammerfrau, um Toilette zu machen.

„Bringe mir das einfache schwarze Kleid, Lisa, das ich gestern getragen habe!“

„Verzeihung, Madame!“ stammelte Lisa.

„Was soll ich verzeihen?“

„Der Herr Kommerzienrath hat mir untersagt, Ihnen das schwarze Kleid zu bringen.“

Henriette zuckte zusammen.

„Er compromittirt mich in den Augen meiner Domestiken!“ dachte sie, und ihr Stolz erwachte. Sie sann einige Augenblicke nach, dann sagte sie: „Lisa, ich befehle Dir, das Kleid zu bringen!“ „Das wird unmöglich sein, Madame!“ „Unmöglich, warum?“

„Weil es der Herr Kommerzienrath diesen Morgen verbrannt hat.“

Die bleiche Frau preßte beide Hände auf ihr Herz, als ob sie einen jähen Schmerz fühle, den sie unterdrücken wollte.

„Es ist gut, Lisa! Bringe mir den weißen Batistoberrock!“

„Madame, der Herr Kommerzienrath hat Ihnen nur die Garderobe von farbigen Stoffen gelassen.“

„Auch das noch!“ flüsterte Henriette. „Er will mich zwingen, in schreienden Farben zu erscheinen. Wohlan denn, ich füge mich, weil er mein Mann ist, weil ich nicht anders kann!“

„Was für ein Kleid befiehlt Madame für heute?“

„Wähle nach Gefallen, Lisa; das einfachste ist mir das liebste!“

Lisa erschien wieder mit einem eleganten Kleide von hellgelber Seide, das reich mit weißen brüsseler Spitzen verziert war. Henriette erinnerte sich, daß Otto oft gesagt hatte, diese Farbe stände ihr vorzüglich. Sie konnte nicht zweifeln, daß Lisa nach seinem Befehle handelte. Schweigend ließ sie sich ankleiden. Als die Toilette vollendet war, ging sie in den Saal. Otto erwartete sie zum Frühstück. Bewundernd sah er seine Frau an, denn sie war trotz der Blässe von einer Schönheit, die ihn entzückte. Das marmorbleiche Gesicht drückte nicht mehr den rührenden Schmerz und jene Schwärmerei aus, die gestern den verliebten Gatten verletzten – in den reizenden Zügen lag eine eisige Ruhe, ein Anflug von Trotz, der ihre Schönheit pikant machte. Der Kommerzienrath verfehlte nicht, den artigen Gatten zu spielen, wenn auch mit jener Affektation, die eine natürliche Folge der gestrigen Unterhaltung war. Wie es schien, hatte sich Henriette gefügt, und Otto dachte mit großer Genugthuung:

„Was meine Nachsicht und Zärtlichkeit nicht vermochte, bewirkt dir Strenge; Henriette wird mir später Dank wissen, daß ich sie geheilt habe! Fahren wir fort in dem neuen Systeme!“

Hätte der Kommerzienrath in der Seele seiner Frau lesen können, er würde gefunden haben, daß der eingeschlagene Weg nicht zu dem erwünschten Ziele führte. Der arme Mann wußte nicht, daß in Henrietten eine Leidenschaft schlummerte, die Alles bewältigte, selbst die Autorität eines Ehemannes.



X


Die Worte der Mutter Collin in Betreff Melanie’s hatten Adolf Veranlassung zum ernsten Nachdenken gegeben. Das junge Mädchen war ihm nicht mehr gleichgültig, es erregte Anfangs Interesse, und später die regste Theilnahme. Der junge Mann kannte die Pein unglücklicher Liebe, und er bedauerte Melanie von Herzen, wenn sich bestätigte, daß ihre erste Liebe auf ihn gefallen sei. Melanie hatte keine Ahnung von dem, was die Schwatzhaftigkeit ihrer Mutter angerichtet hatte. Es entstand ein seltsames Verhältniß zwischen den beiden jungen Leuten. Während Melanie den Musiker eifersüchtig auf den Schreiber des Briefs, den er ihr gebracht, wähnte, schloß Adolf aus dem befangenen Benehmen Melanie’s, daß sie ihn wirklich liebte. Adolf war bestürzt über diese Entdeckung, und Melanie zeigte eine jungfräuliche Schüchternheit, die ihre anmuthige Schönheit noch erhöhete.

Eines Tags saß Adolf nachdenkend in seinem Zimmer; seine Geige lag vor ihm auf dem Tische, die Musik gewährte ihm keine Zerstreuung, da die bleiche Dame und Melanie ihn ernstlich beschäftigten.

„Es ist Zeit,“ murmelte er vor sich hin, „daß ich meinem Leben eine Richtung gebe, die mir ersprießlich ist. Ich verlasse dieses Haus und Genf – ein Vorwurf kann mich nicht treffen, denn ich habe der armen Melanie kein Wort von Liebe gesagt, viel weniger noch ein Versprechen gegeben. Um ihr die Ruhe des Herzens wiederzugeben, bringe ich das Opfer, jene bleiche schöne Frau nicht mehr zu sehen. Morgen werde ich dem Fürsten sagen, daß ich ihn nach Moskau begleiten will.“

In diesen, Augenblicke klopfte man leise an seine Thür. Er öffnete und Melanie trat ein. Sie trug einen Karton unter dem Arme.

„Herr Mölling,“ flüsterte sie, „ich möchte Sie um eine Gefälligkeit bitten.“

Der Musiker verneigte sich schweigend. Erst heute erkannte er, daß Melanie anmuthig schön war, wie eine Rose, die sich zu entknospen beginnt. In ihrer Erscheinung lag eine Poesie, die der schwärmerische Virtuos in ihrem ganzen Umfange erfaßte.

„Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich heimlich an einer Stickerei arbeite, deren Ertrag zu einem Geburtstagsgeschenke für meine Mutter bestimmt ist.“

„Ja, Mademoiselle! Sie sprachen von einem Trauerkleide.“

„Ich habe es diese Nacht vollendet. Wollen Sie es sehen?“ fragte sie mit der naiven Freude über die gelungene Arbeit.

Adolf fand wenig Interesse daran; aber er konnte es dem reizenden Kinde nicht abschlagen.

„Erlauben Sie mir, daß ich Ihre Kunst bewundere!“ antwortete er.

Melanie öffnete den Karton und zeigte eine Stickerei, die wirklich bewunderungswürdig war. Blumen und Blätter von schwarzem Schmelz wanden sich durch das schwarze Kleid vom feinsten Seidenflor. Die Blumen stellten aufgeblühte Rosen dar, und die Blätter Immortellen. Adolf lobte die sinnreiche Arbeit.

Hätte er gewußt, daß er das Kleid bewunderte, in dem Henriette seinen Tod betrauern wollte!

„Nun erlaube ich mir, die Bitte auszusprechen,“ begann Melanie, indem sie den Karton wieder schloß. „Ich kann die Arbeit erst morgenfrüh abliefern, und den heutigen Tag muß ich in dem Magazine zubringen. Meine Mutter hat bereits Verdacht geschöpft, und sie wird jedenfalls meine Abwesenheit benutzen, um ihre Neugierde zu befriedigen – würden Sie erlauben, daß dieser Karton in Ihrem Zimmer bleibt?“

Adolf öffnete einen Schrank in der Tapete, setzte den Karton hinein, verschloß die Thür und überreichte Melanie den Schlüssel.

„Dessen bedarf es nicht!“ sagte sie ablehnend.

„Nehmen Sie, Mademoiselle; Sie können dann zu jeder Zeit über Ihre Arbeit verfügen.“

Melanie nahm dankend den Schlüssel und wollte sich entfernen. Adolf hielt sie sanft bei der Hand zurück.

„Mademoiselle,“ sagte er mit bewegter Stimme, „ich werde in einigen Tagen Genf verlassen, um einem ehrenvollen Rufe nach Moskau zu folgen. Uebernehmen Sie es, Ihren guten Eltern meine Abreise mitzutheilen, damit sie über dieses Zimmer weiter verfügen können.“

„Nach Moskau wollen Sie gehen?“ flüsterte Melanie.

„Mit dem Fürsten W., der mich in seiner Kapelle angestellt hat.“

Melanie zitterte am ganzen Körper; sie ward blaß wie eine Lilie.

„Mein Gott, was ist Ihnen?“ fragte Adolf bestürzt.

Sie entwand ihm ihre bebende Hand.

„Ich wünsche Ihnen Glück, Herr Mölling!“ antwortete sie mit gewaltsam angeeigneter Fassung. Dann verneigte sie sich, und verließ rasch das Zimmer.

„Die Mutter hat Recht!“ murmelte er traurig vor sich hin.

„Das arme Mädchen ist zu beklagen. O könnte ich ihm helfen.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 567. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_567.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2017)