Seite:Die Gartenlaube (1856) 579.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Und wer ist ihr bei der letzten Toilette behülflich gewesen?“

„Madame hat in dem verschlossenen Zimmer ohne Hülfe Toilette gemacht. Es war unmöglich, mir Eingang zu verschaffen. Als sie die Thür öffnete, erschien sie in Trauer und schritt, ohne mich anzusehen, die Treppe hinab in den Saal. Gleich darauf trug man sie leblos in das Zimmer zurück.“

Der Kommerzienrath befahl der Kammerfrau, sich zu entfernen. Dann betrachtete er schweigend eine Zeit lang die bleiche Gattin. Zum ersten Male empfand er Mitleid; aber es war nur das Mitleid mit der zerstörten Schönheit. Henriette war auch jetzt noch schön wie eine Heilige.

„Sie hat mich nie geliebt!“ murmelte er. „Unsere Verbindung war eine Geschäftssache, und keine Herzensangelegenheit. Von allen meinen Unternehmungen ist dies die einzige, die mir fehlgeschlagen. Das Weib bleibt Weib!“ fügte er mit Bitterkeit hinzu. Henriette regte sich; sie fuhr mit der Hand nach der Stirn und öffnete die Augen. Dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus.

„Henriette!“ rief Otto.

Sie sah ihn starr und regunglos an. Dann erhob sie mühsam den Kopf und nahm eine sitzende Stellung ein. Otto wollte sie unterstützen – sie wehrte ihm durch eine Bewegung der Hand.

„Lassen Sie die Kammerfrau kommen!“ flüsterte sie kaum hörbar.

„Ich habe zu einem Arzte geschickt; er kann nicht lange mehr bleiben.“

„Die Hülfe des Arztes bedarf ich nicht. Ich will keinen Arzt!“ fügte sie hastig hinzu.

„So mag die Kammerfrau eintreten. Die Unterredung, die Ihr rücksichtsloses Benehmen nothwendig gemacht hat, kann stattfinden, wenn Sie sich erholt haben!“ sagte Otto kalt. Dann wollte er die Glocke ziehen.

„Bleiben Sie! Bleiben Sie!“ rief sie mit gewaltsamer Anstrengung. „Sie haben mit mir zu reden – ich fühle mich stark genug, Sie anzuhören. Vielleicht habe auch ich Ihnen noch etwas, zu sagen. Führen Sie mich zu dem Sessel am Fenster dort.“

Henriette saß an dem Fenster, dessen Flügel offen stand. In langen Zügen athmete sie die frische Luft ein, die vom See herüber kam. Die Abendröthe beschien ihr todtbleiches Gesicht, dessen Muskeln von Zeit zu Zeit wie im Krampfe zuckten. Ihre großen, trockenen Augen schwammen in einem seltsamen Glanze. Der aufgeregte Otto gewahrte diese verhängnißvollen Zeichen nicht, er dachte nur daran, seinen Groll auszulassen.

„Madame, trotz Ihrer Schwäche haben Sie es gewagt, mich in den Augen jener ausgewählten Gesellschaft zu compromittiren – ich kann Ihrem Zustande kein Mitleiden zollen, denn sie haben mit einer Berechnung gehandelt, die einen hohen Grad von Bosheit voraussetzen läßt.“

Die bleiche Frau lächelte wie eine Wahnwitzige.

„Ihre Voraussetzung ist nicht falsch!“ flüsterte sie. „Sie haben Recht, wenn Sie meinen festen Willen Bosheit nennen. Bin ich Ihre Sklavin? Sind Sie mein unumschränkter Herr? Es steht Ihnen frei, mich zu hassen, selbst mich zu verachten – aber Sie haben nicht das Recht, mich zu mißhandeln. Ehe ich diese Welt verlasse, wollte ich Ihnen zeigen, daß ich Charakter besitze. Jetzt geben Sie Auftrag, daß man mich in das Irrenhaus schafft. Man wird Ihnen glauben, daß ich wahnsinnig bin – Sie können sich jener Herren und Damen aus der großen Welt, die mich in dieser Trauertoilette gesehen, als Zeugen bedienen. Was wollen Sie mehr? Komme ich Ihrem Wunsche nicht entgegen? Als Sie mich von meinem Vater kauften, war ich eine ebenso folgsame Tochter, als ich heute eine fügsame Gattin bin, wo Sie sich meiner wieder entledigen wollen. Um den Kaufpreis sind Sie betrogen, Herr Kommerzienrath; man zahlt Ihnen für eine zerstörte Schönheit nichts zurück.“

„Unglückliches Weib, wer hat diese Gedanken in Ihnen angeregt?“

„Sie, mein Herr, Sie, und Ihr trauriger Reichthum! Hätten Sie Ihr goldenes Netz nicht ausgespannt, ich wäre heute ein glückliches Geschöpf, und der arme betrogene Mann wäre nicht auf dem Schaffotte gestorben. Sie haben ihn, Sie haben mich gemordet!“ rief sie in einer furchtbaren Aufregung. „Und nun verlassen Sie mich, daß ich ruhig sterben kann!“

„Jetzt begreife ich Alles!“ murmelte Otto erschüttert vor sich hin.

Henriette hatte die Hände gefaltet, und bewegte wie betend die Lippen. Zwischen den kleinen weißen Händen, die heftig zitterten, hielt sie das Medaillon mit der verwelkten Rose. Dem Kommerzienrath schien es, als ob sie, trotz der erschrecklichen Leichenblässe, so schön sei, wie sie noch nie gewesen. Die rothe Camelie, das schwarze üppige Haar, die Blässe des Gesichts und das Trauerkleid bildeten schneidende Kontraste. Otto ward von Befürchtungen und Mitleiden ergriffen. Das schöne Geschöpf, an dessen Seite er glänzen und sich beneiden lassen wollte, war rasch wie eine Blume vergangen.

Der Arzt erschien. Henriette sah ihn mit einem schmerzlichen Lächeln an, als wollte sie sagen: jede menschliche Hülfe ist vergebens; sie entzog sich jedoch einem Examen nicht, und antwortete auf alle an sie gerichteten Fragen. Der Doktor forderte, daß die Kranke zu Bett ginge, und schrieb ein Recept.

„Ich komme morgenfrüh wieder!“ sagte er. Dann entfernte er sich. Otto begleitete ihn bis in das Vorzimmer, wo er ihm die letzten Vorgänge mittheilte. Dann forderte er einen unumwundenen Ausspruch des Doktors.

„Madame ist sehr krank!“ antwortete er. „Es verbindet sich ein moralisches Leiden mit einem physischen, die, Beide vereint, rasche Fortschritte gemacht haben.“

„Ist sie noch zu retten? Was ist zu thun?“

Der Arzt zuckte die Achseln.

„Lassen Sie diejenigen meiner Collegen kommen, denen Sie das meiste Vertrauen schenken – ich kann mich irren. Madame ist jung und scheint eine große Nervenstärke zu besitzen.“

Nachdem der Doktor dringend Ruhe anempfohlen, entfernte er sich mit dem Versprechen, am nächsten Morgen zwei Collegen zu einer Berathung mitzubringen.

Otto kehrte zu seiner Frau zurück, und bat sie, zu Bett zu gehen; sie weigerte sich, blieb in dem Lehnstuhle am Fenster sitzen, und fuhr fort, andächtig den Sonnenuntergang zu beobachten. Die Bergen jenseits des See’s glüheten im ersten Abendröthe. Die abendliche Stille des Gartens unter dem Fenster ward nur durch den Gesang einzelner Vögel unterbrochen. Otto war unschlüssig, was er beginnen sollte. Die Kranke schien sich seiner Anwesenheit nicht bewußt zu sein, sie richtete keinen Blick auf ihn. Die Sonne verschwand hinter den Bergen, und das Zimmer ward dunkel. Auf den Befehl des Herrn kam die Kammerfrau mit Licht. Die rasch eintretende Abendkühle machte die Kranke frieren, sie zitterte am ganzen Körper. Trotzdem weigerte sie sich noch immer, zu Bett zu gehen; sie schloß das Fenster und ließ sich von der Kammerfrau zu dem Divan führen. Die arme Frau war so schwach geworden, daß sie sich nur mühsam fortschleppen kannte. Aus ihren Befehl mußten noch die Kerzen eines dreiarmigen Leuchters angezündet werden, das Zimmer war ihr nicht hell genug.

„Ihr Verstand hat wirklich gelitten!“ dachte Otto. „Ich kann nicht mit ihr rechten.“

Er empfahl der Kammerfrau die größte Aufmerksamkeit, und wollte sich entfernen, da ihm der Anblick der Kranken peinlich ward. Kaum hatte er das Vorzimmer betreten, als er auf dem Korridor das Geräusch hastiger Schritte und die Stimme seines Kammerdieners hörte, die einem Ankommenden den Eintritt zu weigern schien.

„Wo ist Herr Winter?“ hörte man eine Stimme rufen.

„Bleiben Sie, ich werde Sie melden!“ antwortete der Diener, indem er die Thür öffnete und eintrat.

Ein bleicher junger Mann mit langen schwarzen Haaren folgte ihm auf dem Fuße.

„Hier ist mein Herr!“

Der Kommerzienrath wich bestürzt zurück.

„Was ist das? Was ist das?“ murmelte er, indem er den mit Schweiß und Staub bedeckten jungen Mann anstarrte. „Adolf Mölling!“

„Erbeben Sie vor einem Todten, den Sie als Verbrecher auf dem Schaffotte sterben ließen?“ rief Adolf mit durchdringenden Stimme. „Die Todten, mein Herr, verlassen ihre Gräber nicht, aber die Lebenden kommen, um ihre Ehre zu rächen!“

„Nicht weiter!“ rief der Kommerzienrath, der seine Fassung wiedergewonnen hatte. „Hier waltet ein Mißverständniß ob – folgen Sie mir in mein Zimmer, wir werden uns erklären!“

„Zählen Sie darauf, daß ich mich Ihnen erkläre!“ rief Adolf, dessen Augen glüheten. „Zuvor aber werde ich einer Sterbenden Verzeihung bringen, wenn es nicht zu spät ist.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 579. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_579.jpg&oldid=- (Version vom 22.6.2020)