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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Wir reisen ja nicht mit ihm.“

„Und sodann – alsdann – jener schlechte Mensch, jener Verräther –“

„Von wem sprechen Sie?“

„Soll ich den Namen des Menschen noch nennen, der Deine Schwester unglücklich gemacht, sein Vaterland verrathen hat?“

Fräulein Charlotte wurde doch unruhig, zumal da sie nicht geradezu lügen wollte. „Sie meinen, er sei in der Schweiz?“ fragte sie listig.

„Die sämmtlichen Flüchtlinge sind da.“

„Aber nach den letzten Zeitungsnachrichten – die Wahrheitsliebende betonte das Wort Zeitung – ist er in Amerika.“

„Diese Revolutionäre sind überall.“

„Aber, Vater, er ist zum Tode verurtheilt“

„In der Schweiz sind Subjekte, die zwei, drei Mal zum Tode verurtheilt sind.“

Die Dame stimmte einen andern Ton an. Sie mußte zum Ende kommen. „Vater,“ rief sie verwundert, „Sie fürchten sich doch nicht vor jenen Menschen in der Schweiz? Sie waren Criminalrichter –.“

Der Geheimerath lachte; er lachte stolz, und konnte es, denn er hatte in seinem Amte keinen Menschen gefürchtet, nicht einmal seinen Präsidenten und Minister. Er hatte nur seine Pflicht gethan und haßte nur die Revolution und die Kammergerichtsassessoren, die er mit ihr identificirte.

„Ich wußte es,“ sagte Fräulein Charlotte, nicht minder stolz. Und mit einer ihr eigenthümlichen, vielleicht, vorgesehen ihre Lage, auch einem Professor der Philosophie einleuchtenden Logik, setzte sie hinzu: „Also, wir reisen in die Schweiz, Väterchen?“

Dem Vater mochte die Logik nur halb einleuchten. „Aber Charlottchen –“

„Das ist schön, das ist herrlich.“

„Aber Mädchen –“

„Wie freue ich mich –“

„Aber wir müssen die Sache doch noch überlegen, mein Kind –“

„Gewiß, gewiß. Gleich bei Tische. Befehlen Sie, daß ich auftragen lasse?“

„Thue das, es ist schon spät.“

Fräulein Charlotte eilte zuerst zu der ältern Schwester. „Erschrick nicht, Louise!“

„Was gibt es wieder?“

„Wir reisen in die Schweiz.“

Die beiden Schwestern lagen einander weinend in den Armen, doch Fräulein Charlotte nur einen Augenblick. Sie eilte weiter in die Küche und ließ auftragen.

Drei Tage später saß der Geheimerath Fischer mit seinen beiden Töchtern auf der Eisenbahn, die von Berlin über Magdeburg, Braunschweig, Hannover, Minden nach Köln führt. Von da fuhren sie mit dem Dampfschiffe den Rhein hinauf.

Die beiden Töchter waren glücklich; nicht ganz so der Geheimerath. Zuerst machten ihm Land und Gegend viel zu schaffen. In der Nähe von Berlin ging es noch an.

„Wie schön liegt der Thiergarten da,“ sagte er zufrieden; „und der Kreuzberg ist doch ein stattlicher Berg.“ – Auf der Haide von Großbeeren sagte er: „die Fichten wachsen doch recht ansehnlich hier.“ Auf der Trebnitzer Haide aber, als der graue, dicke Thurm von Trebnitz über die „ansehnlichen“ Fichten herübersah: „Und welche romantische Stellen unsere schöne Mark hat!“ Immer aber blieb er dabei: „Ueber Berlin geht doch nichts!“

Allein bei Coswig fing sein Verdruß an, und er mußte auch nach anderen Trostgründen suchen und greifen. Als er durch den schönen Park von Wörlitz fuhr, recitirte er den Vers von den Felsen, die man nicht in die Tasche stecken, und von den Seen, die man nicht durch die Hunde solle aussaufen lassen. In Braunschweig und Hannover aber rief er: „Eigentlich sind diese Länder doch nur preußische Enclaven und wer weiß, in wie langer oder kurzer Zeit – !“ Er schwieg mit einer wichtigen Miene.

Als er bei Minden, an der schönen Weser, an der herrlichen Porta Westphalica wieder auf preußisches Gebiet gekommen war, hatten jene patriotische Gedanken schon Vieles zur „Vermittelung“ in seinem Innern beigetragen. „Ganz Preußen gehörte ja eigentlich nur zu Berlin, wie ja auch das große römische Reich nur die erweiterte Stadt Rom gewesen war.“ Dieser Trost geleitete ihn weiter und verließ ihn nicht in dem schönen Düsseldorf, in dem majestätischen Dome zu Köln, in dem reizenden Siebengebirge, in dem lieblichen Koblenz, auf dem großartigen Ehrenbreitenstein, auf dem ganzen schönen Rheinstrome, zwischen allen den malerischen Bergen, Thälern und Ruinen.

Aber dieser Trost konnte nur anhalten bis Bingen. Da kam er wieder in fremdes Land. Und mit jedem Schritte auf dem Lande, und mit jeder grünen Welle, die der mächtige, herrliche Strom ihm entgegenwälzte, wurde die Gegend reicher, schöner, großartiger, die Berge romantischer, die Thäler heimlicher, die Ruinen malerischer. Das Herz that ihm weh.

Noch einen glücklichen Augenblick hatte er in Mainz. Er sah dort wieder preußische Uniformen, und er hörte dort jenen mythischen Major auf der Schiffbrücke, der, als alle Welt den herrlichen Sonnenuntergang und die goldene Pracht bewunderte, in welcher die alte Stadt mit ihrem Dome, der breite Rheinstrom, die gegenüberliegenden Berge, die Spitzen des Taunus, die breiten Rücken und hohen Felswände der fernen Rheinberge, der weiße Johannisberg und hinten in weiter Ferne der Donnersberg dalagen, da in begeistertem Zorne ausrief: „Ei was, meine Damen und Herren, das sollten Sie bei uns in Berlin sehen!“

Hinter Mainz war es vorbei. Einen andern Verdruß machte ihm seine Menschenkenntniß. In seiner Brust trug er eine neue Ausgabe von Lavater’s physiognomischen Fragmenten, verbessert und vermehrt mit den Erfahrungen und daraus hergeleiteten Abstraktionen des Berliner Inquirenten; und zugleich seitdem er einmal auf Reisen war, des Touristen, der aus Berlin kam, aus der Stadt, über die nichts in der Welt ging. So hielt er schon gleich hinter Jüterbogk einen jungen Mann, der dort in das Eisenbahncoupe einstieg, für einen Dieb, der aus der Strafanstalt zu Brandenburg entsprungen sein müsse, weil der Mann mit einem scheuen, verschleierten Blicke einstieg und Niemandem gerade in das Auge sehen konnte.

„Eine echte Zuchthausphysiognomie,“ flüsterte er seiner jüngsten Tochter zu. „Ich kenne diesen verschleierten Blick, der schillert und verschwindet, wie eine grüne Eidechse im Laube. Sie scheinen immer halb nach den Taschen ehrlicher Leute, halb nach dem Galgen zu schielen.“

„Aber Vater,“ erwiederte Fräulein Charlotte; „es ist ja ein ganz anständiger junger Mensch. Sehen Sie nur die gute Kleidung, die schneeweiße Wäsche und die feinen Hände.“

„Ich versichere Dich, Charlotte, ich kenne die Menschen; wer weiß, wo der Kerl schon wieder gestohlen hat.“

Aus der nächsten Station stieg eine adelige Dame in das Coupé; es war kein Zweifel über ihren Stand, denn ein Major in voller Uniform, der sie bis an den Wagen begleitete, nannte sie meine gnädigste Frau. Die gnädige Frau kannte den jungen Mann, und es wies sich aus, daß er ein Kandidat der Theologie war, der seine Probepredigt in einem benachbarten Dorfe halten wollte.

Am schlimmsten erging es ihm am Rhein. Auf dem Dampfschiffe spazierte sehr breit auf und ab ein spitzer, hagerer Herr, eine dicke, breite ältere und eine schiefgewachsene jüngere Dame. Alle drei hatten gelbe Gesichter, schwarze Augen, schwarze Haare, lange, dicke Nasen.

„Eine spanische Grandenfamilie,“ flüsterte der Geheimerath seiner Tochter zu. „Die kastilische Gesichtsbildung, der südliche Teint, die stolze Haltung lassen keinen Zweifel.“

„Aber Vater, es ist eine Frankfurter Judenfamilie; ich habe sie vorhin unter sich sprechen hören.“

„Das verstehst Du nicht. Was verstehst Du von der Frankfurter Sprache? Du warst nie dort.“

Gerade redete ein junger jüdischer Reisender die Familie in Frage an: „Herr Ellwanger, Madame Ellwanger, freue mich sehr, Ihne wohl zu sehen! Auch das Fräuleinche!“


(Fortsetzung folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 608. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_608.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2017)