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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Mir war nicht besonders gut zu Muthe; doch ich mußte wohl der Aufforderung genügen. Monsieur, vous-avez satisfait. – Kurz und gut, er lud mich ein, morgen beim Ausmarsche des Militairs mich einzufinden. Und was sahen da meine Augen? Der entnüchterte Soldat marschirte mit umgekehrter Uniform zur Strafe dafür einher, daß er sie entehrt hatte. Die Ehre und nicht der Stock regierte das französische Heer! Uebrigens würde er doch wahrscheinlich nicht so empfindlich für seine gegen mich begangene That bestraft worden sein, wenn er sich nicht, wie ich vom Offizier zugleich erfuhr, schon viele andere Unregelmäßigkeiten hätte zu Schulden kommen lassen.

Einige Tage nach der Schlacht (ich entsinne mich nicht mehr genau des Datums) rückte das französische Hauptquartier in Naumburg ein. Da bei der großen Unruhe an ein Schulehalten nicht zu denken war, so hatten wir Schüler volle Muße, uns herumzutreiben, und wir benutzten sie auch bestens; denn zu Privatstudien war Keiner unter solchen Umständen aufgelegt.

Auf dem Marktplatze wurden Breterbaracken errichtet, um einen Theil der den Kaiser begleitenden Garden aufzunehmen. Der ganze Marktplatz und die angrenzenden Gassen wimmelten beständig von Kriegern.

So verweilte also der Held des Jahrhunderts, der Sieger in so vielen Schlachten, dessen Adler bis nach dem Lande der Pyramiden geflogen waren, jetzt in denselben Ringmauern und in demselben alten und unscheinbaren Fürstenschlosse, welches ein paar Wochen vorher das preußische Königspaar beherbergt hatte! Welche Wandelung! Hatte vielleicht den König, als er so ernsten Angesichts vor seinen Truppen dastand, eine Unglücksahnung beschlichen, die ihm das Herz beengte? Wer kann das wissen? – Wäre der König, so hieß es späterhin, seinen Ideen allein gefolgt, so würde es vielleicht anders gekommen sein; denn diese waren die richtigeren, allein er hatte nicht Selbstvertrauen genug, um energisch durchzugreifen; er war zu bescheiden. – Nach den Ereignissen liebt es die öffentliche Meinung gewöhnlich, sich über Dinge auszusprechen, von denen sie nicht das Geringste mit Bestimmtheit wissen kann.

Daß ich, wie Alle, begierig war, den Mann zu sehen, welcher Europa’s Reiche bis in den Grund erschütterte, brauche ich nicht erst zu sagen; und ich sah ihn und zwar in einem Augenblicke, wo ich es am wenigsten gerade erwartete. Es war an einem Vormittage, wo eben sehr wenige Neugierige vor der Schloßwache versammelt waren und ich mich mit Betrachtung der verschiedenen aus- und eingehenden Offiziere beschäftigte. Das Insgewehrtreten der Wachen machte mich aufmerksam und ich erwartete nun irgend einen Marschall erscheinen zu sehen. Allein es war Napoleon selbst, welcher alsbald aus dem Eingange des Schlosses trat. Wäre mir sein Gesicht nicht schon durch die zahlreichen Abbildungen desselben bekannt gewesen, so würde mich der von allen Franzosen begeistert erhobene Ruf: „Vive l’empereur!“ davon in Kenntniß gesetzt haben. Mit raschen Schritten, die Hände auf den Rücken gelegt, durchmaß der Kaiser den kleinen Raum vor dem Portale bis zur hölzernen Barriere, die mit Linden bepflanzt war, und da ich gegenüber stand, so konnte ich jeden seiner Gesichtszüge deutlich sehen. Sein gelblicher Teint erinnerte an seine südliche Heimat; sein Auge blickte gebieterisch und doch freundlich auf seine Getreuen umher, die ihre verschiedenen Kopfbedeckungen voll Enthusiasmus schwenkten. Ein für mich ganz neues Schauspiel, was gar nicht mit der Dressur der Soldaten, welche ich bisher gesehen hatte, übereinstimmte.

Ich habe späterhin Napoleon noch einmal gesehen, wo er ein behäbiges Embonpoint gewonnen hatte; allein der Napoleon von 1806 gefiel mir doch besser. Er hatte noch nicht so viel Feierliches, ich möchte sagen, Studirtes an sich; er war noch der kleine Korporal, mit welchem sich die Soldaten beim Uebergange über die Alpen Scherze zu erlauben hatten wagen dürfen.

Wie ganz anders ging es doch in diesem französischen Hauptquartiere zu, als im preußischen! Nirgend auch nur die geringste Spur von Steifheit und Zopfthum; kein Gedanke an jene scheue, ja sklavische Furcht des gemeinen Soldaten vor seinen Oberen, wenn er nicht im Dienste war, wo der militairische Gehorsam allerdings zur vollen Geltung kam. Die Offiziere redeten vertraulich mit ihren Leuten und scherzten sogar mit ihnen. Das Beispiel des Kaisers trug gewiß viel zu diesem kameradlichen Tone bei. Und trug nicht nach Napoleon’s Ausspruche jeder gemeine Soldat die Hoffnung auf einen Marschallstab mit sich? Nur das militairische Verdienst, nicht die Geburt gab Auszeichnung, und so konnte leicht in der nächsten Schlacht sich Mancher die Epauletten verdienen, und später sich über seine bisherigen Vorgesetzten erheben, welcher jetzt noch die Muskete trug.

Der Kaiser trat mitten unter eine Gruppe Soldaten, und richtete an ein paar derselben kurze Fragen, nickte mit dem Haupte und ging dann weiter. Sein treuer Mameluck Rustan folgte überall seinen Schritten; aber auch ohne diese Bewachung war er in der Mitte seiner ihn fast anbetenden Soldaten sicher, da Jeder für ihn sein Leben zu opfern bereit war. Vor der Erscheinung des großen Corsen, auf welchen meine ganze Aufmerksamkeit gerichtet war, trat dieser Rustan in den Hintergrund, und ich achtete auf ihn erst mehr, als der Kaiser mir den Rücken beim Fortgehen wandte, und doch wäre er wohl auch werth gewesen, daß ich mir sein Bild eingeprägt hätte. So aber sah ich nur noch flüchtig seine auffallende Bekleidung, und den Schritten des Kaisers zu folgen, um auf seinen Begleiter genauer sehen zu können, wagte ich nicht.

Der Kaiser verweilte in Naumburg, so viel ich mich entsinne, kaum anderthalb oder zwei Tage. – Der Kriegsschauplatz rückte nun in die Ferne; die französischen Truppen zogen ab, und es blieb zuletzt nur noch ein kleines Depot und die große Menge der Verwundeten in den Kirchen und Privathäusern zurück.

Ein junger französischer Chirurg, dessen Bekanntschaft ich gemacht hatte, nahm mich mit in die Domkirche, wohin ihn täglich mehrmals seine Pflicht rief. Welch’ einen jammervollen Anblick hatte ich da! In den weiten Hallen dieser herrlichen Kathedrale, einem der berühmtesten Bauwerke des Mittelalters in Deutschland, lagen neben einander Hunderte von Verstümmelten. Einige schienen resignirt, Andere wehklagten und jammerten laut. Einige stießen Flüche aus. Ueberall Blutspuren und herumliegende blutige Fetzen irgend eines unbrauchbar gewordenen Verbandes u. s. w. Ich mag die Scenen, die Gesichter, die ich da sah, nicht schildern; noch bei der Erinnerung daran bebt mir das Herz. Ein ekelhafter, mephitischer Dunst war in der sonst so reinen Atmosphäre dieses Gotteshauses verbreitet. Selbst auf die Emporkirchen hatten sich manche der Unglücklichen geschleppt und waren, verlassen und ungepflegt, verschmachtet; erst der Verwesungsgeruch ihrer Leichname hatte ihre Gegenwart verrathen. Vermuthlich hatten die Armen ein ruhigeres Plätzchen suchen wollen und nicht bedacht, daß sie in ihrem Verstecke nicht aufgefunden werden konnten, da man ihre matten Stimmen in dem Geräusche unten nicht vernahm.

Der östliche Theil der Domkirche bildet den, bei dem protestantischen Gottesdienste nicht mehr benutzten, hohen Chor, wo jedoch, um dies hier beiläufig zu bemerken, nach alter Stiftung, täglich noch die katholischen lateinischen Gesänge dreimal des Tages von protestantischen Vicarien und Choralen gesungen wurden.

Auf diesem hohen Chore wurden jetzt am Altare die Amputationen etc. vorgenommen, und vier herrliche, mächtige Pergamentbände, Geschenke von Päpsten, mit den kunstvollsten Initialgemälden geschmückt, kurz, prächtige Werke alter Schreibekunst, die bisher auf den Pulten im Chore ihren Platz gehabt hatten, dienten dabei nicht selten als Unterlagen, und waren über und über mit Blut besudelt.

Tagtäglich holte der Leichenwagen aus dem Dome und den andern Kirchen, sowie aus den Privatwohnungen die Todten ab, um sie hinaus vor das Marienthor zu schaffen, wo dem städtischen Gottesacker schräg gegenüber eine tiefe, lange Grube gegraben war, welche sie aufnahm. Vier- und fünffach wurden da die Leichen aufeinander geworfen, und die Schichten mit Kalk bedeckt, bis der Raum gefüllt war. Man sprach von 1500, welche nach und nach hier ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Noch mehrere Jahre nachher zog sich über das wieder beackerte Feld ein Streif von üppiger als anderwärts grünenden Saaten hin und bezeichnete diese weiten Gräber.

Krankheiten in der Stadt waren die Folge der Aufhäufung so vieler Verwundeten, und manche Familien starben fast ganz aus. Nach und nach entleerten sich die Stätten des Elends, und nur aus weiter Ferne noch ertönte der Kriegeslärm, bis der Friede von Tilsit den Ländern eine verhängnißvolle Ruhe verschaffte. Der Rückmarsch der Sieger kostete aber noch Sachsen wie Preußen ungeheure Opfer an Hab und Gut.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 612. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_612.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)