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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Pariser Bilder und Geschichten.
Der Lazarus in der Matratzengruft.

Es war ein prächtiger Sommertag des Jahres 1850, als ich über die Boulevards von Paris entlang der Madeleinenkirche zuging. In jenem langsamen Tempo, welches sich wie ein Resultat des Wohlbefindens und der Behaglichkeit von Geist und Körper den Gliedmaßen mittheilt und den Ausdruck „Flaniren“ für die Pariser hervorgebracht hat, passirte ich die schöne Promenade, auf welcher die feine Welt soeben ihre gewohnte Mittagsrevue hielt.

Plötzlich sah ich einen hübschen, etwa vierzig Jahre alten Mann mir entgegen kommen. Es war Gérard de Nerval, einer meiner besten Freunde und einer der talentvollsten, wenn auch nicht gefeiertsten Schriftsteller Frankreichs. Sein Gesicht war stark, von kurzem Haupthaar bedeckt und von einem dunklen Backenbart umsäumt; der abwärts gezogene Schnurrbart, mit einem kleinen Büschel am Kinn, gab der Physiognomie etwas militairisch Männliches, während die sanften, fast träumerischen Augen unter der hohen Stirn einen Reflex von den Gefühlen dieses Mannes bildeten, der das Unglück hatte, mehr Dichter als Mensch zu sein. So wie Gérard in der That war, so erschien er auch; ein freies und offenes Gesicht, auf welchem die Güte, der Geist, der Witz und die Sanftmuth sich gelagert hatten. Er war einer jener Glücklichen, welche an der Seite der Prosa unserer Zeit wandeln, ohne sie zu sehen und ohne von ihr berührt zu werden, stets durch sein Ideal eingewiegt, immer zu jenen strahlenden Regionen der Poesie und der Liebe hingezogen, wo die traurigen Wirklichkeiten des Lebens erbleichen und die holde Lüge unserer Träume ihren Anfang nimmt.

Ich hatte seit Wochen Gérard nicht gesehen, obgleich ich sonst fast täglich mit ihm zusammen war. Indessen kannte ich diesen sonderbaren Charakter zu genau, um mich darüber zu verwundern. Gérard war im Stande am Morgen den Entschluß zu einer Reise nach dem Orient zu fassen, um am Mittage denselben mit fünf Sous in der Tasche auszuführen. Er hatte überdies die seltsame Manie, drei oder vier Wohnungen in verschiedenen Vierteln von Paris zu besitzen und ging wochenlang nicht aus, es wäre denn des Nachts gewesen, um sein Asyl im quartier latin vielleicht mit einem Zimmer an irgend einer Barriere zu vertauschen. Ueberrascht und erfreut zugleich begrüßten wir Beide uns herzlich.

„Mein Gott,“ rief ich lächelnd aus, „ich glaubte Sie bereits gestorben!“

„Noch nicht,“ antwortete Gérard; „aber es ist wahr, wir haben uns seit zwei Monaten nicht gesehen. Apropos, mein Lieber, Sie werden doch diesen Nachmittag mit mir zusammenbleiben, um so mehr, als ich in wenigen Tagen nach Weimar zu reisen gedenke?“

„Nach Weimar?“ fragte ich erstaunt.

„Ja wohl, nach Ihrem Deutschland; Stadler will es einmal; ich will es auch – eh bien, das genügt, um es auszuführen.“

Ich wußte, daß der Archivar Stadler ein Freund und Bruder für Gérard war; seine Börse öffnete sich stets für ihn. Unwillkürlich war ich mit dem talentvollen Uebersetzer des „Faust“ umgekehrt, und erst, als Gérard eine der Seitenstraßen einschlug, sah ich ein, daß er ein gewisses Ziel seinem jetzigen Gange vorgesetzt habe. Ich bat ihn deshalb, seine etwaigen Geschäftbesuche erst nach Belieben zu beendigen, da wir uns ja am Abende in irgend einem Café wiedersehen könnten.

„O nicht doch,“ erwiederte Gerard darauf; „ich gehe zu Heine. Der arme Teufel wird, wie Sie, glauben, daß ich schon längst gestorben sei. Sie sind ja ein Landsmann von ihm, also kommen Sie nur mit.“

Dies Argument war keineswegs geeignet, mich zu einer Begleitung zu bestimmen. Berühmte Leute ohne einen genügenden Grund mit Besuchen zu belästigen, war mir von jeher etwas Unangenehmes, und welche Ursache konnte ich haben, den in Paris wohnenden deutschen Dichter zu besuchen? Ich machte deshalb Gérard gegenüber die Bemerkung, daß Heine wahrscheinlicher Weise eine jede Visite dieser Art verabscheuen werde.

„Sie irren sich,“ entgegnete der intime Freund von Heinrich Heine; „er hat nichts lieber, als einige Nachmittagsstunden in Gesellschaft zu verleben. Nur des Vormittags und wenn er arbeitet sind ihm Besuche lästig; alsdann pflegt er auch ohne Umstände seine besten Freunde fortzuschicken.“

Gérard de Nerval’s Intimität mit dem kranken deutschen Dichter war mir längst bekannt; er war vielleicht der Einzige, den Heine aufrichtig geliebt hat, und dem er Alles, selbst das Geheimste, anvertraute. Mein Wunsch, den berühmten Dichter zu sehen, war sehr natürlich, und ich hoffte überdies, daß mir die Freundschaft Gerard’s als Empfehlungskarte vom besten Nutzen sein werde. Deshalb nahm ich keinen Anstand länger, bei so günstiger Gelegenheit Heinrich Heine zu besuchen.

Bald hatten wir die hohen schönen Häuser der stillen Rue d’Amsterdam erreicht. Einige Minuten später betraten wir nach einem Vorzimmer die Krankenstube Heinrich Heine’s.

Ein Gefühl der Angst und Wehmuth beschlich mich unwillkürlich. In der Nähe von Geistern, welche wir wegen ihrer Thätigkeit als ungewöhnliche, zu achten Ursache haben, bemächtigt sich selbst des Vorurtheilsfreiesten ein Gefühl der Unsicherheit und der Erwartung, welche jede Theorie von der Gleichheit aller Menschen in einen grauen Nebel auflöst. Seien es mit Recht oder mit Unrecht berühmte Männer, denen wir in unserer schlichten Menschlichkeit nahen; die Glorie mit ihrem mystischen Kranz zwingt uns unwillkürlich eine gewisse Ehrfurcht ab.

Heinrich Heine, dessen Lieder seit zwanzig Jahren schon seinen Ruhm priesen, und dessen gewaltige Phantasie selbst den größten Prosamenschen in wunderholde Sphären versetzt hatte, in einem so düsteren Aufenthalte und in einem so traurigen Zustande zu finden, das mußte wahrlich jedem Gemüth die Schauer des Mitleids und der Wehmuth verleihen.

Eine matte Dunkelheit ließ mich beim Eintritt in das Krankenzimmer längere Zeit in einem Zustande von Blindheit, während ein scharfer, den Athem benehmender Geruch mich überdies noch mehr betäubte. Unwillkürlich glaubte ich, daß dieser Aufenthalt nur von dem Athem Heine’s geschwängert sei, von jenem Athem, welcher alle schönen Blumen verwelken ließ, sobald er sie berührte. Endlich gewöhnten sich jedoch die Augen an dies Licht von Grabgewölben. Hinter einem, das Zimmer fast in zwei Hälften theilenden Tapetenschirm stand das Bett, in welchem der Unglückliche damals fast schon zwei Jahre lang mit seinen Schmerzen und Träumen lag, und wo er, ein Wunder für Alle und wohl auch für sich selbst, noch fünf Jahre lang sterben sollte. Kaum vermochte ich unter der leichten weißen Bettdecke den kleinen Körper wahrzunehmen, der ohne Muskeln, ohne Fleisch, fast ohne Blut, nur einem mit feiner Haut überkleideten Skelette glich. Eben so schwer wurde es mir Anfangs, auf dem Bettkissen Heinrich Heine’s kleines Gesicht zu unterscheiden, bei dessen Anblick mein Herz in der Brust plötzlich seinen heftigen Puls verlor und auf einige Augenblicke voller Mitgefühl erstarrte.

Die Stirn des Kranken trat weit hervor; nur spärliches Haar lag schlicht darüber hin; die Augenhöhlen waren tief; das eine Auge blieb gänzlich geschlossen, während das andere, starr und wässerig blau, nur hin und wieder durch einen wehmüthigen und blitzenden Glanz sich belebte und ein um so lebendigeres Farbenspiel annahm, je mehr der Kranke sprach. Sein Bart war weiß und struppicht und das einzige äußerliche Zeichen, daß der hier im Bett liegende Mensch kein Kind seiner Entwickelung nach, sondern ein Mann war.

Gérard wurde im Augenblick von Heine erkannt; er streckte ihm seine feine, kleine Knochenhand entgegen und sagte lächelnd: „Ich sehe doch, daß der Wille des Menschen eine magnetische Kraft besitzt; denn ich wollte Sie heute sehen. Der Teufel,“ fuhr Heine fort, „Sie scheinen nicht mehr eine und dieselbe Luft mit mir athmen zu wollen und sind trotzdem ein Dichter!“

Gérard stellte mich ihm darauf als einen Landsmann vor.

„Ah, es wird Mode werden,“ sagte Heine halb zu mir gewandt, „daß die deutschen Schriftsteller zu mir, wie die Muhamedaner nach Mekka pilgern. Und dabei sagen sie, daß ich keine

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 613. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_613.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)