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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Auch nach ihnen behält Wiesbaden immerhin seine Reize. Dieses plötzliche, großartige, fast großstädtische Leben in dem kleinen verborgenen Winkel.“

Fräulein Charlotte rümpfte die Nase. Der Geheimerath aber sagte in einem halb zornigen, halb belehrenden Tone:

„Großstädtisch können Sie denn doch dieses Leben unmöglich nennen.“

„Freilich,“ entgegnete der Fremde, „wenn man das Leben von Berlin damit vergleichen wollte! Indeß in mancher Beziehung hat die Saison hier selbst ein großartigeres Leben und Treiben aufzuweisen, als Berlin.“

„Ich möchte doch wissen, in welcher?“

„Zum Beispiel im Industrieritterthum.“

„Ah, mein Herr, glauben Sie das nicht.“

„Ich versichere Sie dennoch. Nirgend, in keiner noch so großen Residenz, wird das Gaunerwesen, namentlich das vornehme, mit mehr Verschmitztheit und zugleich Frechheit getrieben, als in den Bädern, besonders hier in Wiesbaden.“

Charlotte fing an, den Fremden mit mißtrauischen Blicken zu betrachten. Sie wollte ihrem Vater einen Wink geben; allein der alte Inquirent war in seinem Elemente, und dann sah er nicht rechts und nicht links.

„Haben Sie das Verbrecherwesen in großen Städten kennen gelernt, mein Herr?“ fragte er den Fremden.

„Mitunter. Und gerade darum kann ich meine Behauptung aufrecht erhalten. In den Bädern treten die Industrieritter in ganz andern Gestalten, unter ganz andern Formen auf; feiner, gewandter, mit mehr Aplomb. Man kann sie in Residenzen ganz genau kennen, und sich vor ihnen zu hüten gelernt haben; im Bade läuft man dennoch Gefahr, ihr Opfer zu werden.“

Fräulein Charlotte wurde mißtrauischer. Der Geheimerath lächelte sehr verächtlich. Der Fremde fuhr unbefangen fort:

„Auch in großartigerem Maßstabe treiben sie in Bädern ihr Wesen. Wo sie in großen Städten um Hunderte prellen, betrügen sie hier um Tausende.“

„Pah!“ warf der Geheimerath weg.

„Ich könnte ihnen gleich ein Beispiel anführen. In Berlin hat vor einigen Jahren eine gewisse Bommert ihr Unwesen getrieben.“

„Bommert?“ rief der Geheimerath, im höchsten Grade überrascht.

„Der Name fällt Ihnen auf?“

„Bommert? Bommert? Was wissen Sie von der Person?“

„Sie kennen sie also?“

Der Geheimerath sah zweifelhaft bald den Fremden an, bald vor sich hin. Der Fremde kam seiner Unbeholfenheit zu Hülfe.

„Ich verdiene Ihr Mißtrauen,“ sagte er mit einem feinen Lächeln. „Ich war nicht offen gegen Sie. Ich habe mich selbst einer kleinen Hinterlist gegen Sie schuldig gemacht. Es ist das sonst meinem offenen, leider zu offenem Charakter fremd. Aber der Beamte ist vor Allem Beamter. Ich habe die Ehre, den Herrn Geheimerath Fischer aus Berlin zu sprechen?“

„Woher kennen Sie mich, mein Herr?“

„Nur aus dem Fremdenbuche. Ich bin Polizeibeamter hier.“

„Und in welcher Absicht, Herr – Herr –?“

„Mein Titel thut nichts zur Sache, Herr Geheimerath. Wir sind hier nicht in Berlin. – Ah, entschuldigen Sie. Ich sagte es ja, ich bin leider zu offen. Mein Name ist übrigens Klein. Aber Sie wünschen zu wissen, warum ich mich der List gegen Sie bediente?“

„In der That, Herr Klein.“

„Eine äußerst gewandte und verschmitzte Gaunerin hat seit Kurzem in Ems, Schwalbach und Schlangenbad vielfältige Betrügereien verübt, und heute bekommt die hiesige Polizei die Nachricht, daß sie wahrscheinlich ihre Reise nach Wiesbaden genommen habe. Nach einzelnen von ihr mitgetheilten Zügen kam ich unwillkürlich auf den Gedanken, die Person könne die Bommert sein, die vor einigen Jahren vom Criminalgerichte zu Berlin steckbrieflich verfolgt wurde, gleichwohl seitdem spurlos verschwunden war. Ihr Steckbrief mit Signalement ist zwar hier; aber, Herr Geheimerath, Sie, als erfahrener, gediegener Inquirent, werden bester wissen, wie geringen Anhalt und Zuverlässigkeit solche Signalements geben.“

„Woher wissen Sie,“ fragte der Geheimerath wieder, „daß ich Inquirent war?“

„Ich hatte die Ehre, Ihnen zu sagen, daß ich Polizeibeamter bin.“

„Freilich, freilich.“

„Ich beschloß daher, den günstigen Zufall Ihrer Anwesenheit zu benutzen, und Sie, Herr Geheimerath, unmittelbar um persönliche, anhältlichere Auskunft zu bitten. Daß ich den kleinen Umweg wählte – ah, man gewöhnt sich zu leicht an die Wege der Polizei. Entschuldigen Sie mich.“

Der Geheimerath fühlte sich nur noch geschmeichelt.

„Ich stehe Ihnen gern zu Diensten, Herr Klein.“

„Also die Bommert?“

„Ich habe sie genau kennen gelernt. Ich selbst war in Berlin ihr Inquirent.“

„Ich kam also an die beste Quelle.“

„Die Person ist gebürtig aus einem Dorfe bei Graudenz in Westpreußen, wo ihr Vater Fleischer war. Ihr voller Name ist Anna Maria Bommert. Sie führt aber stets eine Menge anderer Namen. Sie begann ihre Verbrechen in ihrem sechzehnten Jahre mit Diebstählen in ihrer Heimat; trieb sich dann beinahe achtzehn Jahre in den Provinzen West- und Ostpreußen, in Polen und in Rußland umher, stehlend und betrügend, oder ihre Diebereien und Betrügereien in den Zuchthäusern verbüßend. Immer in verschiedener Gestalt, denn ihre größte Kunst bestand darin, durch Toilette, Schminke u. s. w. sich unkenntlich zu machen. Sie wandte sich endlich Berlin zu, um dort ihre Verbrechen großartiger fortzusetzen. Sie wurde aber schon unterwegs, in Küstrin, ergriffen, bei einem Ladendiebstahle. Ladendiebstähle bildeten ihre Lieblingsbeschäftigung. Sie wurde zu zehnjähriger Zuchthausstrafe verurtheilt, und in die Strafanstalt in Spandau gebracht. Aber wie sie schon früher fast überall mit großer List und Frechheit aus den Zuchthäusern entwichen war, so gelang ihr dies auch in Spandau. Von einer Mitgefangenen, die nach Beendigung ihrer Strafzeit entlassen wurde, und ihre mitgebrachten Kleidungsstücke zurückerhielt, wußte sie sich ein Kleid und eine seidene Mantille zu erschwindeln. Sie verbarg diese bis zu einer gelegenen Zeit in dem gemeinschaftlichen Schlafsaale. Die Zeit schien ihr an dem Tage gekommen zu sein, als ein neuer Portier der Strafanstalt zum ersten Male seinen Dienst versah. Sie schlich sich mit dem erschwindelten Kleidungsstücke aus dem Schlafsaale, kleidete sich auf dem Flur rasch um, und ging nun dreist an die Ausgangsthür der Strafanstalt. Dem neuen Portier gab sie sich für die Schwester des Direktors aus; sie habe in der Anstalt die Aussicht über die Tapisseriearbeiten, und ertheilte ihm noch einen Auftrag. Er öffnete ihr die Thür; sie entkam.“

„Das war ihr letztes Entweichen?“ fragte mit einem listigen Lächeln der Polizeibeamte von Wiesbaden den Berliner ehemaligen Criminalbeamten.

Der Geheimerath erröthete.

„Gewissermaßen nicht.“

„Darf ich bitten?“

Sie ging von Spandau direkt nach Berlin. Hier wurden auf einmal in kurzer Zeit eine Menge der listigsten und bedeutendsten Ladendiebstähle verübt. Manchmal hatte man auf Niemanden Verdacht werfen können; manchmal hatte man hinterher gewagt, ihn auf eine unbekannte, sehr vornehm aussehende Dame zu werfen. Die Dame war aber, dem Anscheine nach, in jedem Laden eine andere gewesen. Um so weniger konnte man der Diebin auf die Spur kommen. Endlich wurde sie auf einem großen Diebstahle in einem Seidenladen ertappt, und in die Stadtvogteigefängnisse des Criminalgerichts eingebracht. Ihre Lügen, ihre Ausflüchte übergehe ich; sie bilden nur Romane, und Romane gehen eigentlich der Justiz und Polizei nichts an.“

„O, ich bitte,“ sagte der Herr Klein.

Der Geheimerath fuhr fort:

„Sie wurde, genauer von den Leuten in Augenschein genommen, als die Urheberin der vielen Ladendiebstähle anerkannt. Durch Vernehmung der Spandauer Gefängnißbeamten wurde, trotz ihres Leugnens, festgestellt, daß sie die Bommert war.“

„Und darauf?“ fragte der Herr Klein den stockenden Geheimerath.

„Darauf entkam sie.“

„Aus der Berliner Stadtvogtei?“

„Hören Sie, Herr Klein. Als sie eines Tages wieder zum Verhör gebracht wurde, hatte sie sich von einer Mitgefangenen ein Umschlagetuch und eine Haube geliehen. Sie hatte darin das Aussehen einer ehrsamen Bürgersfrau. So wurde sie durch den Gefangenwärter in die Verhörstube geführt. Die Verhörzimmer des

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 624. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_624.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)