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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

No. 46. 1856.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Herr Klein.
Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung.)



II.
Polizeiwidrige Gesinnungen.

Wenn man von Frankfurt am Main nach dem Norden reisen will, ohne die neueren großen Straßen, Eisenbahnen u. s. w., zu berühren – man kann manchmal seine Ursachen dazu haben – so nimmt man seinen Weg von Frankfurt nach dem Städtchen Königstein am Abhange des Taunus, wo man zugleich eine sehr schöne, großartige Schloßruine findet, und von dieser aus eine der schönsten Aussichten hat, die der Taunus in so reicher Fülle darbietet. Man gelangt von da weiter auf der alten Poststraße über Limburg, Wetzlar, Gießen, Marburg, Kassel zu seinem nördlichen Ziele.

Es war im Sommer des Jahres 1852, als der Bürgermeister und zugleich Postmeister und Posthalter zu Königstein Herr Heller, des Abends noch etwas spät in dem Bureau saß und behaglich seine Pfeife rauchte. Er war ein „zwölf Jahre gedienter Unteroffizier,“ der auch die „Befreiungskriege“ mitgemacht hatte. Nach Beendigung seiner zwölf Jahre hatte er eine „Civilversorgung“ erhalten; anfangs eine kleine, bis er zuletzt zu jener doppelten, eigentlich dreifachen, avancirt war. Daneben hatte er die Erlaubniß, Gastwirthschaft zu führen, was aber kein Amt war, keinen Gehalt und keinen Titel abwarf, und daher als eine Civilversorgung nicht betrachtet wurde. Er saß in seinem Bureau; man konnte fragen: in welchem der drei Bureaus für jene drei Posten? Allein er hatte mit Erlaubniß seiner hohen Vorgesetzten nur ein einziges Bureau, in welchem jeder der drei Posten seine besondere Ecke und seinen besondern Tisch hatte. Er versah alle seine Geschäfte allein, und so mußte er denn auch natürlich in allen drei Ecken und an allen drei Tischen arbeiten. Indessen machte ihm das keine große Beschwerde, denn alle seine drei Posten waren ja eben „Civilversorgungen.“ Die meiste Zeit brachte er daher auch, wenn die Gastwirthschaft ihn nicht in Anspruch nahm – für die er aber einen Kellner hatte – zwar in seinem Bureau zu, aber in keiner jener drei Ecken, sondern in der vierten, die er für neutrales Gebiet erklärt hatte, und in der er mithin außeramtlich thun konnte, was er wollte, also auch rauchen. Er war übrigens noch eine große, starke, magere Unteroffiziersfigur, hatte aber gleichwohl schon den Anfang dazu gemacht, sich ein kleines, spitzes Bürgermeisterbäuchlein zuzulegen.

Er saß auf seinem neutralen Gebiete und rauchte. Um ihn her war es still, sowohl in seinem Bureau, in seiner Gaststube, als in der Straße des Städtchens. Die Landstraße von Frankfurt nach dem Norden war schon längst durch die neuen Verkehrsstraßen veraltet, und wurde sehr selten mehr befahren. Reisende, die den Königstein besehen wollten, kamen nur aus den Städten und Bädern in der Nähe, Frankfurt, Wiesbaden, Schwalbach u. s. w., und kehrten gleich nach Sonnenuntergang zu den Orten zurück, aus denen sie hergekommen waren. Die Bewohner des Städtchens hatte der Bürgermeister Heller mit zwölf Jahre gewohnter Strenge an Ruhe und Ordnung gewöhnt.

Plötzlich wurde die Stille des Abends unterbrochen. Der Galopp eines Pferdes ließ sich hören; er kam die Straße herauf, von Frankfurt her. Vor dem Hause des Bürgermeisters und Postmeisters, auch Posthalters, hielt er mit einem Male und mit einem lauten, weithin schallenden Peitschenschlage an. Der Bürgermeister – dies war sein vornehmster und deshalb im Verkehre sein einziger Titel – wurde neugierig; aber er blieb auf seinem neutralen Gebiete sitzen; er konnte ja noch nicht wissen, ob überhaupt, oder in welcher seiner amtlichen Eigenschaften er werde in Anspruch genommen werden. In Anspruch sollte er genommen werden.

Nach wenigen Sekunden trat Jemand rasch in das Zimmer. Es war ein kleiner, beweglicher Mann in großen, weiten Reiterstiefeln, die bis über die Knie hinaufreichten, enganliegenden gelbledernen Beinkleidern, strohgelber Weste, blauem kurzen Reitrocke, und kleiner blauer Kappe mit breiter silberner Borde; in der behandschuheten Hand trug er eine große schwere Reitpeitsche. Das ganze Aeußere des Mannes verrieth einen Reisecourier, wie reisende Herrschaften sie früher sehr häufig vorausschickten, um Extrapostpferde, Quartier und andere Nothwendigkeiten und Bequemlichkeiten der Reise vorher zu bestellen. Die neuere Art des Reisens auf Eisenbahnen und in Dampfboten, noch mehr der Telegraph haben sie meist entbehrlich gemacht. Durch Königstein ging weder Eisenbahn, noch Dampfschiff, noch eine Telegraphenlinie.

„Guten Abend, Herr Bürgermeister,“ grüßte der Courier.

„Alle Donnerwetter, Scheerer, wie sieht man Sie denn einmal wieder?“

„Nicht wahr? Schlechte Zeiten, Herr Bürgermeister.“

„Ja, ja, sehr schlechte Zeiten, Herr Scheerer.“

„Kein Verkehr, kein Leben mehr in der Welt.“

„Diese verdammten Eisenbahnen, diese einfältigen Telegraphen –“

„Und vor Allem, Herr Scheerer, diese verdammte Revolution, die ist Alles daran Schuld.“

„Gewiß, gewiß. Aber ich bin eilig, Herr Bürgermeister. Sechs Pferde Extrapost, vier für den herrschaftlichen Wagen und zwei für die Dienerschaft.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 633. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_633.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)