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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

Der Handwerksbursche hatte bei dem Eintreten des Reiters nur ein wenig und verstohlen aufgeblickt. Fast in demselben Momente hatte er den Blick wieder gesenkt. Aber er hatte seitdem seinen Gesichtszügen nicht wehren können, den Ausdruck einer großen Unruhe anzunehmen und zu behalten. Das schwarze Tuch und die vor das Gesicht gedrückte Hand konnten diese kaum verbergen. Er wagte auch anfangs nicht, dem durchbohrenden Blicke des mit den gekreuzten Armen stumm vor ihm stehenden Reiters zu begegnen.

Auf einmal aber erhob er sich entschlossen, und stellte sich dicht dem Reiter gegenüber; es war eine hohe, imposante Gestalt.

Er sah den Reiter gleichfalls durchbohrend an, aber mit blitzenden, zornigen Augen.

„Ja,“ sagte er, „Du irrst Dich nicht, ich bin es. Nun, was willst Du?“

„Aber, Mensch,“ erwiederte der Andere, „wie kommst Du hierher? Wie kannst Du es wagen?“

„Ich habe gewagt. Wage auch Du nun.“

„Du traust mir nicht, Thilo!“

Der Andere lachte. „Du hast Dich in eine Lage gebracht, daß Dir kein Mensch mehr traut.“

„Du verkennst mich. Ich bin kein Verräther.“

„So sprechen alle Verräther.“

„Und Ihr seid sogleich mit dem Worte Verräther bei der Hand.“

„Bist Du keiner?“

„Schrei nur nicht so, Mensch.“

„Man kennt Dich hier noch nicht?“

„Man könnte Dich kennen lernen. Mensch, daß Du, zum Tode verurtheilt, nach der Schweiz zurückkehren konntest, war schon ein Wagestück. Aber daß Du auch nach Deutschland kommst, das ist Tollkühnheit, das ist mehr als Tollkühnheit. Die geheimen Steckbriefe kündigen Dich schon seit gestern an. Ich wollte ihnen nicht glauben; ich konnte es nicht begreifen. Jetzt kann ich nicht begreifen, wie Du bis hierher hast kommen können, ohne zehn Mal gefangen zu werden. Wenn ich darüber nachdenke, wie Du weiter oder zurück, wie Du aus der Mausefalle, in der Du sitzest, wieder herauskommen willst, so steht mir der Verstand völlig still. Auf zehn Meilen in der Runde ist jetzt kein Gensd’arm und kein anderer Polizeimensch, der nicht auf Deinen Fang wartet. Du kannst keine zehn Schritte weit gehen, ohne daß sie Dich haben.“

Der anscheinende Handwerksbursch Thilo war etwas unruhig geworden. „Was bist Du denn eigentlich jetzt?“ fragte er, zugleich mißtrauisch.

„Zum Teufel, bekümmere Dich um Dich.“

„Was willst Du von mir? Mit mir?“

„Still! Der Wirth kommt zurück. Setze Dich wieder; habe wieder Zahnweh.“

Der Bürgermeister öffnete schon die Thür. Er brachte den Wein selbst. Der vermeintliche Handwerksbursch Thilo hatte sich in seiner frühern Lage wieder auf die Bank gesetzt. Der Reiter ging pfeifend in der Stube umher. Er schenkte sich ein Glas Wein ein, trank es aus, und stellte sich vor den Bürgermeister.

„Also der Herr Bürgermeister Heller?“ fragte er in seiner kecken, beinahe unverschämten Weise.

Der Bürgermeister blickte zornig, aber auch zugleich neugierig auf den bald so frechen, bald so fröhlichen Fremden. Aus Neugierde hatte er auch wohl selbst den Wein hereingebracht.

„Ich sagte es Ihnen schon,“ antwortete er kurz.

„Früher Unteroffizier gewesen?“

„Ja,“ antwortete der Bürgermeister, noch kürzer und mit wieder steigendem Aerger. Er haßte die Erinnerung an einen früheren Stand, den sein Polizeidiener mit ihm gemein hatte.

Der Andere fuhr unbekümmert fort. „Der jetzige Dienst ist wohl schwerer?“

„Leicht ist er nicht.“

„Und das soll eine Versorgung für einen braven, alten Soldaten sein.“

„Was soll man machen?“

„Richtig; man muß leben. Ihr alter Polizeidiener hat es noch schlechter.“

Der Bürgermeister wurde roth vor Zorn, aber zugleich neugieriger, einem Menschen gegenüber, der seine Verhältnisse so genau zu kennen schien, und der ihm völlig fremd war.

„Er lebt aber auch,“ sagte er.

„Die Polizei macht Ihnen hier wohl am meisten zu schaffen?“

„Es geht.“

Der Fremde lachte. „Gut geantwortet. Es geht auch, wenn der Teufel los ist.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Ist seit heute Abend nicht der Teufel bei Ihnen los, lieber Herr Bürgermeister Heller?“

Der Bürgermeister stutzte; er sah den fremden Reitersmann neugieriger, mißtrauischer an.

„Also wirklich!“

„Was ist wirklich? Was wissen Sie, Herr?“

„Ich? Nichts. Aber horch, ich höre Waffen! Ah, ah, Sie haben Ihre Gensd’armen schon hierher bestellt. Ich sagte es ja; heute Abend ist bei Ihnen der Teufel los.“

Man hörte wirklich in dem Gange vor der Stube ein leises Geräusch, wie von Waffen. Gleich darauf steckte der alte Polizeidiener sein graues Gesicht durch die Thür.

„Herr Bürgermeister, sie sind da!“

„Plaudertasche!“ brummte der Bürgermeister.

Er verließ verlegen und zornig die Wirthsstube. Der Reiter wandte sich an den Handwerksburschen.

„Es gilt Dir, Thilo, dem zum Tode verurtheilten ehemaligen Kammergerichtsassessor von Thilo, einunddreißig Jahre alt, großer, schlanker Figur, Gesicht oval –“

Der ehemalige Kammergerichtsassessor von Thilo unterbrach ihn. „Ich bin in Deiner Gewalt. Es bleibt sich gleich, ob ich Dir vertraue oder nicht.“

„Vertraue!“

„Werde ich wirklich schon mit Steckbriefen verfolgt?“

„Gewiß.“

„Bin ich in Gefahr?“

„In der größten, die ich kenne.“

„Willst Du und kannst Du mich retten?“

„Ob ich will? Keine Frage. Ob ich kann? Zum Teufel, das ist eine verzweifelte Frage. Von hier, von diesem alten Bürgermeister kann ich Dich leicht befreien. Aber wohin dann? – Doch laß hören. Was machst Du hier? Was hast Du vor? Wohin willst Du?“

„Ich folge meiner Braut.“

„Der Galgen ist Deine Braut, bestenfalls das Zuchthaus.“

„In diesem Augenblicke bin ich ihr eigentlich voraus.“

„Gott gebe, daß es wahr sei.“

„Spotte nicht, ich bin in einer verzweiflungsvollen Lage.“

„Das weiß Niemand bester als ich. Wer ist Deine Braut?“

„Sie muß jeden Augenblick hier eintreffen.“

„Und dann?“ Der ehemalige Kammergerichtsassessor wollte antworten, als der alte Polizeidiener eintrat. Die beiden Fremden schwiegen und nahmen die Miene an, als ob sie kein Wort mit einander gesprochen hätten, einander gar nicht kannten.

Der Polizeidiener warf zunächst einen Blick auf die Fenster der Stube, als wenn er sich vergewissern wollte, ob sie zugemacht seien. Sie waren zu. Dann nahm er einen Stuhl, stellte diesen an die Eingangsthür der Stube und ließ sich darauf nieder. Er saß so, daß Niemand zur Stube ein oder aus konnte, ohne über seine ausgestreckten Beine zu schreiten. Er warf finstere, grämliche Blicke auf die beiden Fremden. Es konnte diesen kein Zweifel darüber sein, daß sie seine Gefangenen seien, deren Bewachung ihm sehr strenge anbefohlen sein müsse. Der Herr von Thilo wurde unruhiger.

Der Reiter mußte auf einmal laut auflachen. Er nahete sich dem Polizeidiener, dessen finsteres Gesicht über das freche Lachen noch ingrimmiger wurde.

In demselben Augenblicke hörte man draußen einen Wagen rasch fahren, und gleich darauf vor dem Hause halten.

Der Polizeidiener warf neugierige Blicke nach dem Fenster, und als er sich überzeugte, daß er so nichts sehen könne, horchte er neugierig nach dem Gange vor der Stube. Man hörte dort fremde Stimmen. Die beiden Fremden wechselten unterdeß Blicke.

„Ist sie das?“ fragten die Augen des Reiters.

„Sie ist es!“ antworteten die des Andern.

Sie suchten zugleich ängstlich einen Ausweg aus der Stube; es bot sich keiner dar.

Unmittelbar darauf öffnete sich die Thür des Zimmers. Es erschienen in dieser, halb noch in dem nur dunkel erleuchteten Gange,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_635.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)