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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Das ist der Tödi, mein Fräulein, beinahe zwölftausend Fuß hoch.“

„Und die Doppelspitze rechts neben ihm?“

„Das sind die Scheerhörner. Aber, mein Fräulein, wenn ich Sie eine kleine Strecke weit dort höher den Berg hinauf geleiten dürfte, so würden wir die Gegend noch besser übersehen, und ich würde Ihnen Alles noch klarer bezeichnen können.“

Die Tochter sah fragend den Vater an. Dieser sagte:

„Wenn Sie die Güte haben wollten, Herr College!“

„Es wird mir eine Freude sein, Herr Geheimerath.“

Das Wirthshaus zur Waid liegt nicht völlig auf der Höhe des Berges. Man steigt aber gleich hinter ihm auf einem angenehmen Fußwege zu der Höhe hinan. Der Pfad führt zuerst an einem Föhrenwäldchen, dann an dichter Laubwaldung entlang. Oben auf seiner Spitze ist der Berg ganz mit Wald bedeckt. Auf einem lichten Einschnitt in diesen hat man in der That eine noch weitere Aussicht, als unter den Kastanien am Wirthshause. Dorthin führte der neue Stadtgerichtsrath seine neue Gesellschaft. Den Damen hatte er bald einen leisen Wink gegeben. Er unterhielt sich darauf ausschließlich mit dem Geheimerath.

Oberhalb des Föhrenwäldchens waren die beiden Damen verschwunden. Der Geheimerath bemerkte es nicht. Er war in das Gespräch mit dem „Collegen“ vertieft.

„Ja, ja, ein schönes Land, diese Schweiz, und doch so unglücklich.“

„Unglücklich, Herr Geheimerath?“

„Ich versichere Sie.“

„Aber die Leute hier fühlen sich vollkommen glücklich. Sie beneiden kein anderes Volk und sind der Meinung, jedes andere müsse sie beneiden.“

„Wirklich? Ja, ja. Ich habe schon etwas davon erfahren. Aber das ist ja gerade der tiefste Grad des Unglücks, wenn man dieses nicht mehr fühlt, wenn diese Gesetzlosigkeit, diese Anarchie den Leuten schon zur andern Natur geworden ist. Wo mögen denn meine Mädchen stecken?“

„Die Damen werden einen Augenblick in dem Schatten des Waldes ausruhen wollen.“

„Ich muß mich doch nach ihnen umsehen.“

„Erlauben Sie, daß ich die Damen suche?“

„Wir gehen gemeinschaftlich.“

Sie gingen gemeinschaftlich. Nach einer Weile traten ihnen die beiden Damen unter den Bäumen her entgegen. Beide sahen verstört aus. Louise hatte verweinte Augen; Fräulein Charlotte war sehr blaß. Sie waren, als sie von ihren Begleitern sich getrennt hatten, unbemerkt vom Vater, auf den Wink des Herrn Hartmann, in den Wald gegangen.

Ein junger Mann war ihnen dort bald entgegengetreten. Louise hatte sich ihm in die Arme geworfen, und lange vor Weinen und Schluchzen nicht sprechen können. Auch in den Augen des kräftigen Mannes hatten Thränen gestanden. Fräulein Charlotte hatte sich, mehr nach dem Rande des Waldes hin, auf einen Baumstamm gesetzt, um die Liebenden allein zu lassen und Wache zu halten. Die Liebe findet auch unter den heftigsten Thränen ihre Worte.

„Ich lasse Dich nie wieder, Louise!“

„Nur Augenblicke sind uns zugemessen, Karl!“

„Du bist wieder mein. Nichts reißt Dich aus meinen Armen!“

„Mein Vater ist wenige Schritte von hier!“

„Du bist meine Braut. Du bist es noch, nach Gesetz und Recht. Ein bloßer Eigensinn konnte das Band nicht zerreißen. Du gehörst mir, Louise. Nicht wahr, Du willigst ein?“

„Ich bin Tochter!“

„Louise, ich schwöre Dir, ich lasse nicht wieder von Dir!“

„Schwöre nicht, Karl, ich kann nicht!“

„Ich schwöre es dennoch, bei meinem Leben, bei meiner Seligkeit. Ich habe noch nie einen Schwur gebrochen. Du wirst mein hier, oder ich folge Dir, wohin Du gehst. Jenseits der Grenze erwartet mich der Tod, oder statt dessen ewige Gefangenschaft. Ich folge Dir über die Grenze, bis in Dein väterliches Haus, wenn Du hier nicht einwilligst, die Meine zu werden.“

„Karl, Du bist grausam!“

„Ich habe es geschworen. Ich kann nicht mehr anders.“

Das unglückliche Mädchen mußte laut aufschreien. Fräulein Charlotte eilte herbei. Sie hatte gehorcht, und hatte noch mehr errathen.

„Sie sind ein Wahnsinniger, Thilo,“ sagte sie zu dem jungen Manne.

„Ich bin ein leidenschaftlicher Mensch, ich weiß es. Aber diesmal hat meine Leidenschaft Recht.“

„Sie sind ein Narr, ein Grausamer. Louise hat Recht.“

„Wer ist grausamer? Sie, die sich und mich unglücklich macht?

Oder ich, der ich –?“

„Bei Lichte besehen, Louise, hat er so ganz Unrecht nicht.“

„Auch Du, Charlotte?“

„O, Charlotte, seien Sie unser Engel!“

„Es sei. Laßt mich überlegen; der Vater kommt. Ziehen Sie sich zurück. Laß uns gehen; kein Abschied.“

Sie riß die Liebenden auseinander. Sie trat mit der Schwester dem Vater entgegen. Dieser dachte an die Anarchie und das Unglück der Schweiz, und ahnete nicht das Unglück seiner einen, und die anarchischen Pläne seiner andern Tochter.

Des Abends im Hotel Baur mußte auf Befehl der jüngeren Schwester die ältere sich sehr früh in ihre Schlafstube begeben. Fräulein Charlotte blieb mit dem Vater allein; er war sehr aufgeräumt.

„Es freut mich doch recht, daß er kein Kammergerichtsassessor mehr ist.“

„Auch daß er nicht mehr naseweis sein will?“ fragte die Tochter.

„Hm! Er war wirklich heute liebenswürdig, Einzelnheiten abgerechnet. So wollte er die Schweiz für ein glückliches Land halten. Aber, das wird sich schon geben.“

„Wenn sich nur ein Anderes geben möchte!“

„Was meinst Du, Charlottchen?“

„Das Unglück der armen Louise.“

„Auch das. Habe Du nur noch ein paar Jährchen Geduld.“

„Ein paar Jährchen, noch so klein, sind immer ein paar Jahre. Und wenn es nicht anders mit ihr wird, so liegt sie nach einem Jahre im Grabe.“

„O, o, Charlotte, man muß nichts übertreiben.“

„Vater, wenn Louisens ehemaliger Bräutigam hier wäre?“

„Was? Ich will nicht hoffen.“

„Wenn Louise ihn heute gesprochen hätte?“

Der Vater war leichenblaß geworden. Er sah die Tochter starr an.

„Fahre fort,“ sagte er leise; leise, als wenn er vor innerer Bewegung nicht habe laut sprechen können.

Fräulein Charlotte fuhr fort; aber bebend vor entsetzlicher Angst, von der sie bei dem Anblicke des blassen Vaters mehr und mehr erfaßt wurde.

„Vater, ich muß Ihnen die Wahrheit sagen. Thilo ist hier; Louise hat ihn gesprochen.“

Der Vater sank in seinen Stuhl zurück, und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.

„Also Ihr habt mich betrogen!“

Die Tochter fiel vor ihm nieder, umfaßte seine Knie, und riß ihm beide Hände vom Gesicht. Sie mußte seine Gesichtszüge, seine Augen sehen. Thränen stürzten aus ihren Augen.

„Vater, verzeihe!“

„Fahre fort.“,

„Verzeihung, mein Vater, Verzeihung!“

„Fahre fort, befehle ich Dir.“

Sie fuhr in steigender Angst fort; sie mußte. „Sie bitten um Ihren Segen, Vater. Sie können nicht von einander lassen.

O, Vater –!“

„Schweig. Kein Wort weiter. – Kein Wort. Geh’ zu Bette.

Morgen früh reisen wir ab. Geh’, ich befehle es Dir.“

Der unerbittliche Punkt des Geheimeraths war noch immer der unerbittliche geblieben.

„Noch ein einziges Wort, Vater!“

„Keins.“

„Es betrifft mich.“

„Sprich.“

„Ich allein habe Sie betrogen, nicht Louise. Seien Sie nicht hart gegen die Unglückliche.“

„Es ist gut.“

Sie ging in die Schlafstube zu der Schwester.

„Es war vergebens, Louise. Und Du darfst auch von dem Vater nicht lassen. Ich hatte Unrecht, und will mit Dir zu Grunde gehen, aber von dem Vater darfst Du nicht lassen.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 646. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_646.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)