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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

sich bald wieder, und nachdem ihm seine zweite Frau ebenfalls ein Kind geboren hatte, ging er davon und ließ seine Familie im größten Elende zurück. Rouy benahm sich jetzt auf eine wahrhaft bewundernswerthe Art. Nicht nur nahm er sogleich seiner Schwester Kind zu sich, sondern auch das andere, denn sein Zartgefühl, – – um das ihn so manche überfeinerte Delikatesse beneiden dürfte – duldete nicht, daß der Bruder seines kleinen Neffen darbe, während dieser sich einer liebevollen Versorgung erfreute. So erhält nun Rouy außer seiner eigenen Familie fünf hülflose Wesen lediglich durch seiner Hände Arbeit; aber wie edel auch seine Handlungsweise ist, hat ihn doch noch Niemand überreden können, daß er irgend mehr gethan hätte, als einfach nur seine Pflicht. Und ist denn nicht auch wirklich die Barmherzigkeit eine hochheilige, gebieterische Pflicht?

Ein anderer charakteristischer Zug verschiedener Individuen, welchen die Akademie Preise zuertheilte, ist die unermüdlich hingebungsvolle Krankenpflege, durch welche mehrere edelsinnige Frauenzimmer sich auszeichneten, auf deren Geschlecht begreiflicherweise diese Form der Wohlthätigkeit sich zumeist beschränkt. Diese Frauen sind in der Regel äußerst arm, einige unter ihnen sogar schwächlich und verkrüppelt, aber Alle haben in jeder Beziehung die erhabenste Selbstverleugnung bewährt. Ja noch mehr: obwohl fortwährend am Krankenlager der Unglücklichen und Nothleidenden anzutreffen, erhalten sie sich doch, einsam und ohne Stütze, lediglich nur durch ihren eigenen Fleiß. Wir sagen „sie,“ denn mit sehr geringfügigen Unterscheidungen ist das Leben des Einen dieser edlen Wesen das Leben Aller; – ein Leben großherziger Nächstenliebe und Selbstopferung.

So, ob wir nun von Susanne Monnet sprechen, die während der Pflege ihrer alten und hinfälligen Mutter zuerst den erhabenen Ruf vernahm, der sie alle irdischen Gedanken aufgeben hieß, um sich ganz nur den Kranken und Armen zu widmen; oder von Bertine Guidin, der verkrüppelten aber edlen Bauerndirne, deren karger Tagelohn von 4 Rgr. während der ganzen letzten dreiundvierzig Jahre zum größeren Theile den Unglücklichen der Gemeinde zufloß; oder von Katherine Quéron, die – nachdem sie mit der bewundernswürdigsten aller christlichen Tugenden, der Vergebung des erlittenen Bösen, sich den Peinigern ihrer Jugend geopfert hatte – durch ihren rastlosen Eifer und die selbstvergessendste Hingebung, namentlich während der Cholera, sich den schönen Namen der „Vorsehung des Dorfes“ erwarb, – ob wir nun von Einer dieser oder von allen Dreien sprechen wollten, immer müßten die Worte kalt und matt erscheinen, mit denen wir versuchten die That zu schildern, welche diese, in ihrer Dunkelheit so erhabenen Lebensläufe verklärten.

Katherine Quéron unterscheidet sich jedoch selbst von ihren Gefährtinnen noch durch einen bemerkenswerthen Zug. Sie lebt in einem abgelegenen Dorfe, wo ein Arzt nur selten zur Hand ist. Dieser Umstand veranlaßte sie, bei ihrer Krankenpflege die verschiedenen Symptome der Krankheiten und die Wirkungen der Heilmittel mit besonderer Aufmerksamkeit zu studiren. Ihre Erfahrung wurde mit der Zeit sehr bedeutend, und sie hat nicht nur mehrere überraschende Kuren gemacht, sondern es gelang ihr auch Viele wieder herzustellen, an deren Rettung die Aerzte selbst verzweifelt hatten. In Anerkennung der seltenen Ausdauer und Geisteskraft, mit der sie sich, vom reinsten Wohlwollen getrieben, so schätzbare Kenntnisse angeeignet hat, bestimmte ihr die Akademie einen Preis von 2000 Francs.

Wir wollen diesen Bericht mit einem Falle beschließen, der uns erkennen läßt, welcher fast unglaublichen Selbstverleugnung das menschliche Herz fähig ist und welcher Reichthum gottgleicher Liebe noch immer diese, scheinbar nur der niedrigsten Selbstsucht hingegebene Erde heiligt.

Fanny Müller war Dienstmädchen in einem Pariser Hotel. Unter den Gästen befand sich ein geflüchteter italienischer Offizier, der an einer schweren Wunde litt, die zu verbinden Fanny’s tägliche Aufgabe war, wodurch sie näher mit ihm bekannt wurde. Nach einiger Zeit kündigte ihm der Eigenthümer die Wohnung. Des Italieners Hülfsmittel waren gänzlich erschöpft, und er sah sich dem äußersten Elende preisgegeben. Fanny’s Lohn betrug ungefähr zehn Thaler des Monats, wovon sie bereits eine hübsche Summe zurückgelegt hatte, die sie jetzt dem unglücklichen Ausländer zu widmen beschloß. Sie miethete eine kleine Wohnung für ihn, möblirte sie, und da er genug musikalische Kenntnisse besaß, um Unterricht zu geben, suchte sie ihm Schüler zu verschaffen, was ihr auch zum Theil gelang. Des Italieners kleiner Sohn befand sich damals mit seiner Mutter in London, kam aber jetzt nach ihrem plötzlichen Tode zu seinem Vater zurück. Obwohl ihre Last hierdurch verdoppelt wurde, klagte Fanny nicht. Sie fuhr fort, den Italiener zu unterstützen, und bestritt die ganze Erziehung seines Sohnes.

Nicht lange jedoch, so wurde der verwundete Offizier unfähig, seine Schüler zu besuchen, und verfiel daher gänzlich Fanny’s Fürsorge. Ihre bescheidenen Mittel waren nun erschöpft; doch, auf bessere Tage hoffend, borgte sie Geld von ihren Bekannten. Ihre Lage wurde jedoch schlimmer und schlimmer. Die Gläubiger mahnten, und nur durch Opfer, die in ihren Verhältnissen ungeheuer waren, vermochte sie ihre Forderungen zu befriedigen; allein sie that es, und die Schulden wurden bezahlt.

Fanny war seit Langem an einen braven jungen Mann aus ihrem Geburtsorte, im Norden Frankreichs, verlobt. Ihr Bräutigam, Pierre Bat, hatte durch jahrelangen Fleiß endlich die Summe von 2000 Francs gesammelt, und kam jetzt voll freudiger Hoffnungen nach Paris, um sein Mädchen aus dem Joche der Dienstbarkeit zu erlösen, und als Hausfrau heimzuführen, denn sein Schatz reichte hin zur Begründung eines kleinen Anwesens. Fanny liebte ihren Bräutigam mit der ganzen Glut ihres edlen Herzens. Sie erhob keinen Widerspruch gegen sein Verlangen, aber sie erzählte ihm, was sie gethan, wie ohne sie der arme Verwiesene im Elende umkommen, sein Sohn in Unwissenheit aufwachsen mußte; sie sagte ihm nur dies, und frug dann, was sie jetzt thun solle? „Wie Du bisher gethan,“ war Pierre Vat’s Antwort; und ihr seine 2000 Francs, sein ganzes sauer erworbenes Vermögen zur Fortsetzung ihres barmherzigen Werkes zurücklassend, kehrte er allein wieder nach seinem Dorfe zurück.

Seitdem ist der Verbannte gestorben. Nicht ein Sou von Pierre’s Ersparnissen ist mehr vorhanden – die ganzen 2000 Francs gingen für die Erhaltung des Italieners und seines Sohnes hin. Fanny ist noch immer in Paris, wo sie angestrengt arbeitet, um der Waise eine seiner Lebensstellung entsprechende Erziehung zu geben. Pierre und sie müssen getrennt leben; fünfzehn der schönsten Jahre ihres Lebens verflossen über dieser schweren Aufgabe, und Jahre der Anstrengung mag es noch erfordern, ehe sie die zu ihrer häuslichen Einrichtung nöthige Summe zusammenbringen. Doch arbeiten sie getrost fort, aufgerichtet durch ein glaubensfestes Vertrauen und eine mehr als irdische Hoffnung.

Hülfe kam endlich von einer Seite, woher sie am wenigsten erwartet wurde. Ein alter Geistlicher, der sie Beide seit vielen Jahren kannte und ihre geduldige Hingebung bewunderte, sandte einen Bericht dieser Thatsachen an die Akademie. Die Folge dieses Schrittes war, daß Fanny Müller, um ihre Verbindung mit Pierre Vat zu ermöglichen, eine Medaille von 500 Francs erhielt. Möge des Himmels Segen immerdar auf diesem hochherzigen Paare ruhen.

Solcher Art sind Diejenigen, welchen die Monthyon’schen Tugendpreise zu Theil werden. Ueber ihre geduldige Hingebung, ihre aufopfernde Nächstenliebe, ihre ungeheuchelte Demuth kann jetzt der Leser selbst urtheilen. Wenig dachten sie an eine Belohnung, als sie ihr edles Werk trieben! Und wollte Gott, daß statt sechzehn, hundert Preise jährlich vertheilt würden, und nicht nur in Frankreich, sondern in jedem christlichen Lande; wäre es auch nur, damit noch etwas Dauernderes und Würdigeres in den Annalen der Völker der Bewunderung der Zukunft überliefert werde, als die Berichte blutiger Triumphe.

Es ist uns unbekannt, wiefern die Akademie Sorge trägt, die jährlich zu ihrer Kenntniß gelangenden und von ihr ausgezeichneten Edelthaten dem Volke in den weitesten Kreisen bekannt zu machen; allein gewiß, eine Reihe entsprechender Darstellungen solcher Lebensläufe würde zugleich die schönste Volksbibliothek und das wirksamste aller Erbauungsbücher bilden. Die Vollbringungen des Genies, so herrlich und fördernd für das Ganze sie auch immer sein mögen, wirken doch nur drückend und entmuthigend auf den Betrachter, der von ihnen auf sich selbst zurückgeht, und kein ähnliches Vermögen in sich fühlt; oder aber, sie entzünden eine niedere, selbstische Ehrsucht, die nur nach Ruhm und eitler Auszeichnung dürstet, gleichviel, ob sie durch Segen oder durch Fluch errungen werden soll. Nicht so bei diesen Bildern; hier wird nicht die Phantasie gereizt, der Hochmuth und Egoismus aufgestachelt, sondern das Herz wird ergriffen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 672. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_672.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)