Seite:Die Gartenlaube (1856) 680.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Doch nicht meine Frau? Friedrich, Friedrich, um Gotteswillen, laß sie nicht zu mir, ich habe genug für heute, ich habe genug –“

„Nein, nein, gnädigrr Herr, der Criminalrath Müller,“ beschwichtigte ihn Friedrich. Richard sank ermattet in das Sopha zurück.

„Laß ihn hereinkommen. Lieber die ganze heilige Justiz, als – sie!“

Der Rath trat ein, Richard bemerkte es nicht. Er war in dem träumerischen Zustande, der oft einer furchtbaren Aufregung folgt, gleichgültig gegen Ort, Zeit und Personen. Der Rath betrachtete ihn mit durchdringenden Blicken; eine tiefe Trauer legte sich nach und nach auf sein wohlwollend freundliches Gesicht, denn der Mann, welcher hier vor ihm saß, apathisch, wie zum Tode gehetzt und in einer Geistesabwesenheit, die einen furchtbar tiefen Grund haben mußte, der Mann war nicht unschuldig!

„Guten Abend, von Moorhagen,“ sprach er ernst. Verwirrt sprang Richard auf und reichte ihm mit gewaltsam erzwungenen Lachen die Hand.

„Guten Abend, Criminalrath. Ihr habt wohl im Kasino auf mich gewartet?“ entgegnete er.

Der Rath sah ihn kopfschüttelnd an. Der junge Mann verwechselte die Tage merkwürdig. Sie waren am Tage zuvor zur gewöhnlichen Whistparthie im Kasino gewesen und trafen sich nur alle acht Tage dort.

„Ich dächte wir hätten uns gestern Abend im Kasino versammelt!“ sagte er bedeutungsvoll.

Richard sah ihn an und strich mit der Hand über die Stirn.

„Ja, gestern, richtig! Ich habe so viel gedacht seit gestern, daß mir Zeit und Stunde verflogen ist,“ flüsterte er, noch immer zerstreut und halb abwesend. „Setzen wir uns –“

Der Rath griff nach der Uhr. „Es ist spät, gleich zehn Uhr, aber setzen wir uns.“

Jetzt wurde Richard aufmerksam.

„Zehn Uhr? Was veranlaßt Sie denn zu einem so späten Besuche, etwas Wichtiges, Criminalrath?“ fragte er gefaßter.

„Vielleicht!“ entgegnete der Beamte lakonisch. „Eigentlich will ich Sie nur fragen, wo Sie gegen Abend gewesen sind?“ Richard zuckte sichtlich zusammen. „Fragen Sie nicht, fragen Sie nicht! Sie erinnern mich an die unglücklichste Stunde meines Lebens!“ rief er heftig.

„Sie haben Unglück gehabt?“ examinirte der Rath ganz gelassen.

„Unglück? Nein! Aber Aerger! Ich habe Demüthigungen erfahren; o, o, lassen Sie Alles ruhen! Es ist nun vorbei; ich gehe nach Amerika, um Ruhe zu finden. Vielleicht gehe ich nicht allein, doch davon später.“

(Fortsetzung folgt.)


Zipser.
Nach wirklichen Erlebnissen erzählt von Ernst Willkomm.
(Schluß.)

„Wenn sie wirklich um mich leiblich zu Grunde ginge,“ sprach Georg nachdenklich, „ich würde doch nie ganz glücklich werden. Aber ich liebe sie nicht, ich liebte sie nie! … Wie bleich saß sie letzthin am Flußrande, wie träumerisch sah sie vor sich hin auf das ausgebreitete Linnen, das in der Sonne bleichte! Sie dauert mich und dennoch – dennoch konnte ich nicht anders handeln. Der Alte, o der Alte ist an Allem Schuld!“

Die letzten Worte hatte Georg unvermerkt so laut gesprochen, daß die Stimme des Echos das Wort „Schuld“ halblaut wiederholte. Er fuhr zusammen und ein unbehagliches Gefühl beschlich ihn. Ohne sich weiter umzusehen, verließ er die Richtstätte und suchte auf dem geradesten Wege die Heimat auf.

Am Tage der Urtheilsvollstreckung strömten von nah und fern viele tausend Menschen herbei, um, wie dies bei derartigen Gelegenheiten immer geschieht, Zuschauer und Zeugen des blutigen Schauspiels zu sein. Alle Höhen und kleinen Hügel in der nächsten Umgebung der Richtstätte waren mit Neugierigen besetzt, selbst die vereinzelt stehenden Eichbäume trugen auf ihren knorrigen Aesten Knaben und Männer..

Es war ein heißer Augusttag, die Luft klar und still. Gegen zehn Uhr Vormittags zeigte eine vor dem Stadtthore aufwirbelnde dicke Staubsäule den draußen Harrenden an, daß der Trauerzug mit der Delinquentin sich nähere. Eine Viertelstunde später war die Unglückliche am Platze. Gleichzeitig mit dem Eintreffen der Delinquentin erschien auch ein Reitersmann, der sofort Aller Augen auf sich zog. Die Meisten kannten und erkannten diesen Mann. Einer flüsterte es dem Andern zu: „Er ist’s! Es ist der alte Zipser!“ und Mancher deutete mit der Hand nach dem Rappen, der jetzt gerade durch die zurückweichende Menge sich Bahn brach und in gemessenem Trabe dem Rabensteine sich näherte.

In einer Entfernung von etwa hundert Schritten hielt Zipser sein Roß an, hob sich hoch auf in den Bügeln, daß seine imposante Gestalt mit dem wallenden Silberhaar weithin erkennbar war. Er trug seinen auffallenden Hut und den schwarzen faltigen Mantel mit dem hechrothen Unterfutter.

Noch zeigte sich Niemand auf dem Richtsteine, als ein Knecht. Zipser erhob seine Rechte, stellte sich abermals in die Bügel und beschrieb langsam mit der erhobenen Hand einen Kreis in der Luft. Hierauf ließ er sich zurücksinken in den Sattel, spornte den Rappen, daß er wiehernd in die Zügel biß und sich in einen stolzen Galopp setzte. Es gewährte einen prächtigen und eigenthümlichen Anblick, wie der seltsam gekleidete Mann, das Haupt von greisem Haar umwallt, hoch aufgerichtet wie ein mächtiger Herrscher, dem Alles Unterthan ist, um den Rabenstein galoppirte. Als er ihn einmal umkreist hatte, trat Georg mit den Beiständen aus der Mauerhöhlung auf die schmale Plattform. Ihm folgte, von zwei Knechten geführt, die Verurtheilte. Sie sah bleich, gebrochen, aber rührend schön aus in dem Schmerz, der sie erfüllte und zitternd vor dem Tode, den sie zugleich fürchtete und verwünschte. Ein gemeinsamer Laut des Mitleids entrang sich den Lippen Tausender.

Der stolze Reiter konnte Georg nicht entgehen. Er sah den Greis und zuckte zusammen. Zum zweiten Male umkreiste Zipser, in kurzen Pausen seine behandschuhte Rechte über das Haupt erhebend und dann wieder senkend, das Schaffot. Als er zum dritten Male sich im Sattel hob, vernahmen Viele ein krächzendes Geschrei, und mit hastigem Flügelschlage zogen drei Raben über die Menschenwoge dahin und folgten dem unheimlichen Reiter auf seinem Ritte.

Jetzt hielt der alte Mann sein Roß an und stellte sich im Angesicht des Rabensteines so auf, daß Georg ihm bei Ausübung seines Amtes gerade in das ernste versteinerte Antlitz sehen mußte. Die Raben aber flogen rastlos, immer ihr häßliches Geschrei ausstoßend, in weit gezogenen Kreisen um das Schaffot.

Georg wechselte mehrmals die Farbe. Er vermied es, dem unglücklichen Mädchen in’s Gesicht zu blicken, denn diese bleichen, wehmuthweichen Züge, dies bittende, im Schmerz schon halb gebrochene Auge gemahnten ihn an Sabine. Bisweilen sah er wirklich nicht die Verurtheilte, sondern die verlassene Braut vor sich, und eine furchtbare Angst bemächtigte sich seiner Seele.

Je näher die Minute kam, wo er das Bluturtheil vollziehen sollte, desto heftiger wurden seine Beängstigungen. Es flirrte ihm vor den Augen, die Hände zitterten, rothe und blaue Lichter zuckten in der hellen glühend heißen Augustluft. Die Raben aber zogen fort und fort ihre magischen Kreise um den Gebannten und der alte Nachrichter saß regungslos wie ein Geist auf seinem schwarzen Hengste.

Endlich schlug die verhängnißvolle Stunde. Das Urtheil war der Unglücklichen nochmals verlesen worden; kräftige Männerhände fesselten sie an den Stuhl, eine Binde legte sich um die Augen der Halbtodten.

Man reichte Georg das Schwert. Zitternd und zögernd ergriff er es – die Raben schrieen lauter und flogen in engeren Kreisen um das Schaffet.

Georg zückte, seinen ganzen Muth zusammennehmend, das Schwert, senkte es aber sogleich wieder, um zögernd einen Schritt zurückzutreten. Der Geistliche näherte sich dem zagenden Manne und sprach ihm ermuthigende Worte zu. Georg seufzte und erhob abermals das blitzende Richtschwert. Die Raben schwebten jetzt

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 680. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_680.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)