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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

kam er an ein paar hell erleuchteten, aber mit Gardinen versehenen Fenstern vorüber, die ihn bewogen, stehen zu bleiben.

„Halt,“ sagte er bei sich selbst, „da drinnen treffe ich ohne Zweifel lauter Leute, die einer Unterstützung nicht bloß bedürftig, sondern auch würdig sind. Hier wohnt mein Freund Dr. Stillner, auch so ein gutmüthiger Narr, der allen Menschen helfen möchte und seit ein paar Monaten angefangen hat, wöchentlich zwei Mal des Abends armen kranken Leuten seinen guten Rath unentgeltlich zu ertheilen. Wenn ich nicht irre, ist heute einer seiner Tage, und ich werde Gelegenheit bei ihm finden, mich meiner Speziesthalerlast, die mir fast die Taschen zerreißt, um ein Bedeutendes zu entledigen.“

Ach, leider fand er bei dem Eintritt in das Parterrezimmer, in welchem Dr. Stillner seine Gratis-Consultationen zu ertheilen pflegte, seine Vermuthung in hohem Grade bestätigt.

Auf der an der Wand hinlaufenden, langen Bank saßen eine Anzahl bleicher, abgezehrter Jammergestalten beiderlei Geschlechts, von denen man es Vielen ansah, daß sie sich nur mit Mühe bis hierher zu schleppen vermocht hatten, um bei dem guten Doktor Rath und Hülfe zu suchen.

„Ei, sieh da, Herr Müller,“ sagte Dr. Stillner, der eben mit einem Gehülfen beschäftigt war, einem Arbeitsmann vom Dorfe die Füße zu verbinden, die derselbe auf dem weiten Wege nach der Stadt erfroren hatte; „was führt Sie denn zu mir?“

„Ja, Sie werden sich wundern, Doktor,“ entgegnete Herr Müller, indem er die Speziesthaler in seinen Taschen umrührte, so daß die armen Leute längs der ganzen Bank hoch aufhorchten; „ich habe eine Menge Geld zu verschenken, und wollte fragen, ob ich hier bei Ihnen einiges loswerden könnte.“

Die Franzosen haben ein sehr wahres Sprüchwort: „Ce n’est que le Premier pas qui coute – nur der erste Schritt kostet Ueberwindung – und seitdem Herr Müller, der Zeit seines Lebens jeden Pfennig, den er ausgegeben, erst drei Mal umgewendet, sich auf der Hallischen Bastei vom Taumel des Augenblicks so weit hatte hinreißen lassen, daß er große, schwere, blanke Speziesthaler unter die Gassenbuben ausgeworfen, erschien ihm ein solches Verschleudern des edlen Metalls gar nicht mehr als etwas so Entsetzliches und Hirnverbranntes, als wofür er es früher angesehen.

„Sie haben Geld zu verschenken?“ fragte Dr. Stillner. „Da kommen Sie allerdings bei mir gerade zum rechten Manne, denn hier sitzen eine Menge Leute, die nur ihre Gesundheit noch nothwendiger brauchen, als Geld.“

„Das dachte ich mir,“ sagte der sich allmälig in das Gebiet der Humanität verirrende Menschenfeind, „und deshalb bin ich hereingekommen. Ein reicher junger Mann, der nicht genannt sein will – denn daß ich selbst kein solcher Narr bin, das wissen Sie, Doktor – hat mir aufgetragen, eine gewisse Summe Geldes als Neujahrsgeschenk an Arme, die es wirklich bedürfen und verdienen, auszutheilen. Hilfsbedürftiger aber kann nach meiner Ansicht Niemand sein, als der, welcher kein Geld hat und obendrein noch krank ist. Sie kennen diese Leutchen hier, Doktor, und werden eine angemessene Vertheilung zu treffen wissen. Hier haben Sie.“

Mit diesen Worten warf Herr Müller ein paar Hände voll Speziesthaler vor den noch ganz verwunderten Arzt auf den Tisch und entfernte sich dann rasch, aber nicht ohne vorher bemerkt zu haben, wie manche bleiche Wange unter den Kranken, welche Alles dies mit angehört, von freudiger, dankbarer Bewegung erröthete; wie manches halb erstorbene Auge, von neuer Hoffnung und neuem Muthe belebt, wieder Glanz und Kraft gewann und die Schritte des unerwarteten Helfers in der Noth mit stillen Segenswünschen begleitete.

Als Herr Müller wieder auf die Straße heraustrat, war ihm ganz merkwürdig zu Muthe. Hatte der Auftritt auf der Hallischen Bastei ihn auf eine Weise erheitert, wie er es früher gar nicht für möglich gehalten hätte, so hatte jetzt die Scene in dem Berathungszimmer des Arztes eine ebenfalls noch nie geahnte Saite seines Herzens erklingen lassen. Die dankbaren Blicke, womit die Kranken ihn beim Hinausgehen begleitet, schwebten ihm, so flüchtig er sie auch gesehen, immer noch vor den Augen, und so wie seine Taschen leichter wurden, schien auch sein Herz leichter zu werden. Das Schneewetter hatte aufgehört, und von dem dunkelblauen Winterhimmel begannen jetzt die Sterne hell und klar herabzuflimmern. Herr Müller wußte nicht, was er von sich selbst denken sollte. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie eine That aus reinem Mitleid geübt, und es war ihm nicht eher eingefallen, Wohlthaten auszutheilen, als bis er von einem Andern Auftrag dazu erhielt. Er wunderte sich über den Eifer, den er jetzt in einer Sache entwickelte, die ihm anfangs so widerlich und verhaßt erschienen war. Wieder gedachte er der Worte, welche Magister Zinkelmann zu ihm gesagt: „Sie haben noch nie die Freude empfunden, andern Menschen eine Freude zu machen. Versuchen Sie es, und es wird sich Ihnen eine neue Welt erschließen.“

In diesem Augenblicke ertönte das Abendglöckchen vom Nikolaithurme und schien die Worte des Magisters zu wiederholen. Er schämte sich, sich selbst gestehen zu müssen, daß so viel Wahrheit darin lag. Er wollte nicht glauben, daß er sich sein ganzes Leben lang geirrt – daß die bloße Vertheilung der Wohlthaten eines jungen Verschwenders ihm das Geheimniß des wahren Glückes gelehrt.

Aber das langjährige Eis seines Herzens war nun gebrochen. Er machte sich Vorwürfe, daß er von den Umständen der armen Kranken nicht nähere Kenntniß genommen, es drängte ihn förmlich, wieder umzukehren, und ehe fünf Minuten vergingen, sah er sich in dem Zimmer des Arztes. Er fragte die Patienten alle der Reihe nach aus, unterrichtete sich von ihren Verhältnissen, schrieb sich ihre Namen auf und forderte sie auf, zu ihm zu kommen, wenn sie fernerhin etwas brauchten.

Nachdem er auf diese Weise Dem genügt, was nun schon innerer Drang geworden, zog er wieder aus wie ein fahrender Ritter des Alterthums, um Hülfsbedürftige und Nothleidende aufzusuchen. Eine seltsame Aufregung hatte sich seiner bemächtigt und manchmal konnte er sich nicht der Furcht erwehren, daß er nahe daran sei, wahnsinnig zu werden. Es dauerte nicht lange, so erhob sich wieder ein furchtbarer Sturm, der Himmel umwölkte sich und der Schnee wirbelte wieder die Straßen entlang, aber er wanderte rüstig und unbeirrt weiter.

Als er an die Ecke der Nikolaistraße kam, vernahm er in diesem Eckhause lautes Pochen. Er schaute durch das Fenster hinein und sah, daß es eine Tischlerwerkstatt war, in welcher eben ein Sarg zusammengenagelt ward. Herr Müller ging hinein.

„Auch keine hübsche Arbeit während der Feiertagszeit,“ redete er den Meister an, welcher ein lustiges Liedchen zu seiner Arbeit pfiff.

„Das ist wahr,“ antwortete der Tischler, ohne in seiner Arbeit inne zu halten; „wenn die Menschen aber einmal auch in der Feiertagszeit sterben, so müssen sie auch Särge haben.“

„Für wen ist denn dieser da?“ fragte Herr Müller.

„Da steht’s,“ sagte der Tischler, und deutete damit auf ein daneben auf einem Tische liegendes Blechschild, welches später auf den Sargdeckel genagelt werden sollte, und worauf die Worte standen: „Johann Georg Walther, geb. den 11. Mai 1701, gest. den 26. December 1757.“

„Walther!“ sagte Herr Müller, „den kenne ich; es ist der Ziegelstreicher am Schönefelder Wege. Also der ist gestorben; der arme Mann! Gute Nacht.“

Mit diesen Worten verließ er die Tischlerwerkstätte und ging durch die Georgenpforte und Hintergasse nach der damals am Schönefelder Wege stehenden kleinen Ziegelei. Es war sehr finster und der wirbelnde Schnee blendete ihn fast, aber er steuerte rüstig weiter, bis er die Ziegelei erreichte. Er pochte an und die Frau des Ziegelstreichers öffnete.

Herr Müller schauderte, als er bei dem Eintritt in das Zimmer – die armen Leute hatten nur ein einziges – die Leiche, mit einem weißen Betttuche bedeckt, auf einer Bank liegen sah. Er sah ihre starren Umrisse und scharfen Winkel durch die Decke hindurch, und eine seltsame Vision seines eigenen Todes schien vor ihm aufzusteigen. Eine gewisse unheimliche Scheu zwang ihn, ganz leise zu sprechen.

„Ich habe gehört, daß Euer Mann gestorben ist,“ redete Herr Müller die Wittwe an.

Die Frau setzte sich auf einen der wenigen alten hölzernen Stühle, die in dem Zimmer standen, bedeckte das Gesicht mit den großen rauhen Händen, und fing an zu schluchzen.

„Na, nur den Muth nicht verloren, gute Frau,“ fuhr er fort. „Ich bin gekommen, um Euch zu unterstützen. Ein Menschenfreund – er sagte jetzt nicht mehr: „ein junger Narr und Verschwender“ – hat mir eine Summe übergeben, die ich zur Unterstützung von Nothleidenden verwenden soll. Habt Ihr Kinder?“

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