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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

„Ja, drei. Ich habe sie, um das Abendessen zu ersparen, schon zu Bett geschafft.“

„Na, hier sind vier Spezies. Wenn Ihr Euern Mann unter die Erde habt, so kommt zu mir, und wir werden weiter sehen, was sich thun läßt. Gute Nacht!“

Und Herr Müller, den seine neue Aufregung nicht ruhen ließ, verschwand plötzlich, um anderweites Unglück aufzusuchen. Draußen schüttelte er den Kopf nachdenklich und fuhr mit der Hand über die Augen. Es war ihm sonderbar zu Muthe. Was er seit seiner Jugend nicht gethan – er trällerte ein lustig fideles Liedchen.

Er schlug nicht denselben Weg wieder ein, den er gekommen, sondern wollte sich quer über die Felder nach der Bettelgasse begeben, um sich dort, in dieser Kolonie der Armuth und des Elendes, seiner doppelten Last zu entledigen und Herz und Tasche vollständig leicht zu machen. Bei dem heftigen Schneegestöber war es nicht leicht, auf dem richtigen Wege zu bleiben, denn der Thurm der Johanneskirche, nach welchem er sich hätte richten können, war vollständig unsichtbar. So war er schon eine Zeit lang fortgewandert und begann allmälig zu vermuthen, daß er vom richtigen Wege abgekommen sein müsse, als er eine lautrufende Stimme hinter sich vernahm. Er blieb stehen und horchte, bis er endlich hörte, daß sein eigener Name gerufen ward.

„Hier bin ich!“ rief er. „Was gibt es denn?“

Er sah ein Licht auf sich zukommen und hörte rasche Tritte.

Es war die Ziegelstreicherwittwe, die er so plötzlich verlassen und die ihm mit einer Laterne nachgelaufen war.

„Ach, Herr Müller,“ rief sie, „ich dachte mir gleich, daß Sie den rechten Weg verfehlen würden! Wo wollen Sie denn hin?“

„Ich will hinüber in die Bettelgasse und wollte gleich querfeldein gehen, um nicht erst den weiten Umweg durch die Hintergasse machen zu müssen.“

„Ach, du mein Himmel!“ sagte die Frau. „Wenn Sie noch sechs Schritte weit gegangen wären, so hätten Sie ertrinken müssen. Schauen Sie nur her.“

Sie hielt ihre Laterne vor sich hin und kaum ein Paar Schritte weit von der Stelle, wo er stand, sah er eine breite und tiefe Grube, aus welcher die Ziegelstreicher Lehm zu holen pflegten. In ziemlicher Tiefe unten sah er den trüben, von dem Wind leicht hin- und herbewegten Wasserspiegel.

Müller stand erstarrt; was er früher um keinen Preis gethan, er nahm die Hand der armen Wittwe und drückte sie recht herzlich.

„Eure Stimme hat mich gerade noch zur rechten Zeit aufgehalten,“ sprach er. „Es ist als ob die Vorsehung die Hand mit im Spiele hätte. Zeigt mir mit Eurer Laterne ein wenig den Weg; ich habe heute Abend noch mehr zu thun.“

Herrn Müller’s Aufregung stieg immer höher. Seine glückliche Rettung schien ihm ein wahres Wunder zu sein. Die hundert Spezies des Herrn von Schönberg waren ziemlich alle, aber er beschloß, seine wohlthätigen Wanderungen auf eigene Rechnung noch länger fortzusetzen.

„Alles dies war die Wohlthätigkeit eines Anderen,“ murmelte er. „Wie einem bei einer uneigennützigen That, die man auf eigene Kosten übt, zu Muthe ist, weiß ich ja immer noch nicht. – So ist’s gut,“ sagte er zu seiner Begleiterin, als er endlich die Johanniskirche erblickte, „nun weiß ich den Weg. Also kehrt nur wieder um und seid gutes Muthes. Gute Nacht!“

In der Bettelgasse angelangt, begab er sich zunächst zu der armen Frau Graupner, um sie von der eingelegten Exekution zu erlösen und ging dann von Haus zu Haus, bis nicht blos der letzte Spezies des Herrn von Schönberg, sondern auch der nicht unbedeutende Betrag Papiergeld, den er in seiner Brieftasche bei sich trug, ausgegeben war.

Wir wollen nicht alle die einzelnen Scenen malen, welche bei dem Erscheinen des unerwarteten Helfers in den Hütten der Armuth stattfanden, sondern erwähnen blos, daß Herr Müller, als er die letzte Schwelle hinter sich hatte, eine Nässe, die nicht von dem fallenden Schnee herrührte, seine Wangen herabrinnen fühlte.

Es war ziemlich spät, als er wieder durch das Grimmaische Thor in die Stadt einpassirte. Er kam an dem Hause vorüber, in welchem der Maler wohnte und bemerkte, daß derselbe Licht hatte. Er dachte daran, wie viel dem armen Künstler an der Erlangung jenes Bildes gelegen gewesen und besann sich, daß es nächstfolgenden Tag in der Auktion an die Reihe kommen würde.

„Hm!“ sagte er, „ich will doch einmal zu meinem Freund Stempler gehen.“

Advokat Stempler wohnte nicht weit und öffnete selbst die Hausthür, als Herr Müller geklingelt hatte.

„Stempler,“ fragte Herr Müller, „gehen Sie morgen in die Auktion bei Dr. Rivinus?“

„Jawohl,“ entgegnete der Advokat, „Sie doch auch?“

„Nein,“ erwiederte ersterer kurz, „ich habe keine Zeit, und wollte Sie eben deshalb bitten, einen kleinen Auftrag für mich zu übernehmen.“

„Was wünschen Sie denn?“ fragte der Advokat, dem es sehr sonderbar vorkam, daß sein Freund, der doch eher selbst dergleichen Aufträge übernahm, jetzt ihm einen ertheilen wollte.

„Es wird morgen ein kleines Gemälde mit an die Reihe kommen; es steht im Katalog unter Nr. 1123, eine Landschaft. Wenn Jemand mehr als fünfundzwanzig Thaler darauf bietet, so lassen Sie es nicht weg. Es ist ein echter Cornelius Schund oder wie der Maler sonst geheißen haben mag. Ich muß es haben. Ich kann nicht eher ruhig schlafen. Hören Sie wohl?“

Herr Stempler betrachtete seinen Freund mit forschendem Blicke und hielt ihm das Licht dicht vor die Nase.

„Sind Sie auch wohl?“ fragte er.

„Wohl!“ rief Herr Müller. „In meinem Leben habe ich mich weder an Geist noch an Körper so wohl befunden, wie heute. Kommen Sie morgen im Vorbeigehen mit zu mir herein und ich will Ihnen Geld mitgeben, wenn Sie es nicht einstweilen verlegen wollen.“

„Schon gut,“ entgegnete der Advokat; „ich werde mit zu Ihnen hineinkommen, nicht sowohl um des Geldes willen, als vielmehr um zu sehen, ob Sie noch bei derselben Laune sind wie heute Abend. Gute Nacht!“

Es schlug eben Zehn und alle Kaufläden waren bereits geschlossen, als Herr Müller nach Hause eilte. Wohl gingen ihm noch allerhand mildthätige Projekte im Kopfe herum, aber es war nun zu spät, um diesen Abend noch irgend etwas vornehmen zu können und überdies war er auch müde zum Umfallen.

Als er wieder vor seinem Hause stand, war es ihm, als wäre er aus einem langen Traume erwacht.

„Endlich bin ich hinter das Geheimniß gekommen,“ murmelte er still vor sich hin, „obschon ich sechzig Jahre alt geworden bin, ohne es zu wissen. Und alles dies durch die eigensinnige Grille des jungen Sausewindes, des jungen Herrn von Schönberg.“

Die alte Margarethe öffnete die Hausthür und Barbara kam ihm aus der Wohnstube entgegen.

„Wir sind in Sorge um Dich gewesen, lieber Vater,“ sagte sie. „Du bist schon so lange fort und hast noch nicht zu Abend gegessen.“

„Weiß wohl, meine gute Barbara,“ entgegnete er, indem er seine Tochter auf die Stirn küßte. „Ich habe aber so viel zu thun gehabt, daß ich weder an Essen noch an Trinken habe denken können. Ich kann Dir heute nicht erzählen, wo ich gewesen bin und was Alles vorgefallen ist. Trage mir mein Essen auf und gehe dann zu Bett, denn wir müssen morgen alle bei Zeiten wieder auf den Beinen sein. Morgen ist, wie Du weißt, Sylvester, und da wollen wir einmal thun, was wir noch nie gethan, und Gesellschaft zu uns bitten – eine so lustige Gesellschaft, wie sie in diesem alten Hause noch nicht beisammen gewesen ist. Wir wollen, so Gott will, mit dem neuen Jahre auch ein neues Leben beginnen. Ich bin nicht mehr – –“ er redete nicht aus, streichelte aber der Tochter freundlichst die Wangen.

Barbara legte ihr Gesicht auf seine Schulter und brach in Freudenthräuen aus.

„Geh’ nun zu Bette, Barbara,“ bat ihr Vater. „Du wirst morgen viel zu thun haben. Und noch eins, Barbara – denn ich möchte Dich gern ganz fröhlich und glücklich wissen – Friedrich soll auch mit kommen. Ich glaube, es gibt in Leipzig keinen besseren und rechtschaffeneren jungen Mann als diesen.“

Barbara stand am nächsten Morgen zeitiger auf als gewöhnlich.

Sie hatte die ganze Nacht von den Anstalten zu der bevorstehenden Festlichkeit geträumt und würde die rechte Stunde verschlafen haben, wenn Margarethe sie nicht geweckt hätte. Sie kleidete sich schnell an und verließ in freudiger Erregung ihr Schlafzimmer, als ob heute ihr Hochzeitsmorgen wäre. Es war dies das erste Mal in ihrem Leben, daß es ihrem Vater eingefallen war, einen Sylvesterabend zu feiern und sie freute sich darüber wie ein Kind.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 703. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_703.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)