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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

No. 1. 1857.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0 Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Verfehltes Leben.

Nach wirklichen Erlebnissen vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“


I.
Die Schwestern.

Es war ein schwerer Druck, der in den Jahren 1806 bis 1812 auf dem deutschen Vaterlande lastete. Er war um so schwerer, und die Geschichte wird für immer diese Zeit als eine um so traurigere bezeichnen, als gerade am meisten, am dienstfertigsten und selbst am fanatischsten Deutsche es waren, die der fremden Gewalt zur Unterdrückung des deutschen Volkes dienten. Sonst und anderswo ist das gemeinsame Leiden ein festes Band zum innigen Zusammenhalten, zu gegenseitiger Treue, zur gemeinschaftlichen Kräftigung, zum gemeinsamen Widerstande gegen den Druck. Die willfährigsten Schergen jenes fremden Druckes waren Deutsche, deutsche Beamten der fremden Machthaber. So gesellte sich zu gemeinsamen Leiden das gegenseitige Mißtrauen; so wurde das Unglück des Volkes so ungeheuer groß; so wuchs aber auch zu Riesengröße und Riesengewalt die allgemeine Erbitterung, der Zorn, die Wuth des Volkes empor. Solche Früchte sah das Jahr 1813.

An einem Morgen gegen Ende April des Jahres 1810 standen in einem, zu dem damaligen Königreiche Westphalen gehörigen Landstädtchen vor einem Wirthshause desselben zwei Gensd’armen beisammen. Der Eine war ein Vorgesetzter, der Andere ein Untergebener. Dieses Verhältniß kündigten nicht nur die Schnuren auf der Uniform des Ersteren an, sondern auch sein gewandteres, freieres Benehmen, während der Andere in seiner kahleren, aber noch immer sehr kleidsamen Uniform steif, gehorsam, eckig da stand. Freilich konnte diese Verschiedenheit im Aeußeren auch einen andern Grund haben. Der Vorgesetzte war, wie Physiognomie und Sprache zeigten, ein Franzose und der Untergebene ein Deutscher. Wie in jener traurigen Zeit die deutschen Beamten der Fremdherrschaft die dienstfertigsten und fanatischsten Diener dieser Herrschaft waren, so waren die Franzosen es, die sie am gründlichsten verachteten, und sich wahrlich keinen Zwang anthaten, wenn sie Gelegenheit hatten, diese Verachtung an den Tag zu legen. Auch der französische Gensd’arm behandelte den Deutschen mit einem leichten, verächtlichen Uebermuthe und der Deutsche wurde um so eckiger und serviler.

„Aber glauben Sie mir, Herr Sergeant, der Mensch sah gerade so aus, wie jener verfolgte Advokat.“

„Ah bah, Monsieur Sebald, ich erinnere mich der Sache nicht mehr.“

„Erinnern Sie sich nur, Herr Sergeant, der eine Advokat, der Doktor Kamps aus Osnabrück, hatte in der Betrunkenheit Seine Majestät den Kaiser geschimpft.“

„Ah bah, un ivrogne!“

„Einen Spitzbuben, einen Tyrannen!“

„Betrunken!“

„Nun, nun, Herr Sergeant, er wurde dafür doch erschossen.“

„Narr! Wollte nicht widerrufen; wollte nicht einmal vor dem Kriegsgericht sagen, daß er betrunken gewesen sei.“

„Diese Verstocktheit!“

„Bah, war doch ein besserer Charakter, so anders, als die andern Deutschen.“

„Und nun war, als er die schändlichen Worte gesprochen, der andere Advokat, der Stuve, bei ihm gewesen und hatte ihm stillschweigend zugehört. Er sollte auch vor das Kriegsgericht gestellt werden, aber seine Freunde hatten ihn auf die Seite geschafft. Er wurde mit Steckbriefen verfolgt, und doch hat man seitdem nichts wieder von dem gefährlichen Menschen gehört. Ich wollte nun aber wetten, daß es derselbe ist, den ich vorhin auf meiner Patrouille gesehen habe, und der mit der Frau und dem Kinde auf dem Wege hierher ist.“

„Ah, Sie wollen wetten, Monsieur Sebald. Wetten ist keine Gewißheit!“

„Aber Sie haben die Steckbriefe, Herr Sergeant; sehen Sie die nur nach, so haben wir die Gewißheit.“

„Nichts, nichts, Monsieur Sebald; wie sollte der Mann sein so dreist, und kommen hierher? Ist unglaublich.“

„Da ist der Wagen, Herr Sergeant.“

In der That kam ein Wagen, eine gewöhnliche Reiselohnkutsche, die Straße heraufgefahren, nach dem Wirthshause zu, vor dem die beiden Gensd’armen standen.

Der Sergeant wollte nicht darauf achten und fortgehen. Ein an sich geringfügiger Umstand machte jedoch den gewandten und erfahrenen französischen Gensd’arm stutzig, und wurde die Veranlassung, daß er stehen blieb, den Wagen zu erwarten. Sein Begleiter blieb natürlich bei ihm.

Als der Wagen noch etwa dreißig bis vierzig Schritte entfernt war, hatte sich aus dem Schlage das Gesicht eines Mannes vorgebeugt, um auf der Straße, wahrscheinlich nach dem nahen Wirthshause, sich umzusehen. Die Augen des Mannes hatten die beiden Gensd’armen gesehen, und plötzlich, in demselben Augenblicke, fast wie unwillkürlich, war der Kopf des Mannes in den Wagen zurückgeflogen.

Zwar kam er gleich wieder nachlässig zum Vorschein, und die Augen sahen mit völliger Unbefangenheit umher, und blieben sogar mit eben so vollkommener Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit auf den Gensd’armen haften, die unmittelbar vor der Thür des Wirthshauses standen, an welchem allem Anscheine nach der Kutscher mit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_001.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2021)