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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

vor dem Hafenthore lehnen. An der Landungsbrücke drängen sich Männer, Frauen, Kinder ohne Unterschied des Ranges. Stämmige Packträger in blaugestreiften Blousenjacken eilen nach dem Schiffe, aus dessen Sicherheitsventil jetzt in weißen Säulen mit pfeifendem Gezisch die bewegende Kraft des Dampfes fährt. Die wohlgenährten Droschkenkutscher beeilen sich ebenfalls, der Landungsbrücke möglichst nahe zu kommen, um Passagiere aufzunehmen, kurz, das bunte Durcheinander der Hülfbereiter und Neugierigen, das bei keiner Landung fehlt, bietet dem ferner stehenden Zuschauer ein erheiterndes Bild rührigster Thätigkeit und gesündesten Volkslebens.

Bald aber wird Ohr und Auge auf einen andern, noch viel anziehenderen Gegenstand hingeleitet. Mitten im geordneten Knäuel der vor Anker liegenden Schiffe, wo bisher nur ein Zusammentreffen vieler Jollen und schwer beladener Boote bemerkbar war, hört man laute, weithin vernehmbare, wenn auch nicht immer verständliche Rufe einer festen männlichen Stimme. Gleich darauf erfüllt einförmiges Johlen singender Stimmen die Luft, das zwar nicht melodisch, doch aber eigenthümlich klingt, Ketten klirren, das knackende Geräusch gezahnter Eisenräder kreischt dazwischen. Ein Boot, von zwei oder drei Ruderern getrieben, schießt zwischen den Ducs d’alben[1] in den freien Strom heraus, und schleppt hinter sich ein Tau. Wir sehen die Jolle nur einige Augenblicke, dann verschwindet sie wieder, wird nochmals sichtbar, und bald darauf zittert das Tau in der Luft und schlingt sich um einen der Hafenpfähle, von kräftigen Matrosen geschickt und unter talkartigem „Hoi-ho!“ gehandhabt. In dem Schiffsgewirr macht sich eine Bewegung bemerkbar. Die Masten eines Vollschiffes gleiten langsam an den sie umgebenden Raaen anderer Schiffe vorüber, und der Ruf einiger Zuschauer am Quai: „Nun legt es aus!“ sagt uns, daß ein zur Abfahrt bereites Fahrzeug so eben Anstalt trifft, den Hafen zu verlassen.

Es ist ein Packetschiff, das einige Hundert Auswanderer an Bord hat – und mit eintretender Ebbe stromabwärts segeln will. Kopf an Kopf gedrängt, stehen die Heimathmüden auf dem Deck des Fahrzeuges, mit erstaunten Mienen bald das Gewühl im Hafen, bald die arbeitenden Matrosen betrachtend, die des Kapitains Kommandoruf auf die Raaen beordert hat, um hier die Segel zu entfalten und den einige Striche südlich gelaufenen Wind zu benutzen. Unwillkürlich duckt sich mancher Aengstliche, wenn er die gelenken Menschen mit katzenartiger Geschwindigkeit die Wanten[2] hinanlaufen, sich in das Takelwerk schwingen und hier, oft nur mit einem Fuße auf scheinbar dünnem Seile sich haltend, die schwersten Arbeiten rasch und sicher vollbringen sieht. Andere winken mit Hüten und Tüchern Verwandten oder Bekannten am Strande zu, wo zwischen den Zuschauern auf Kisten und Kasten, mit blanken Blechgeschirren behangen, ein Trupp anderer Auswanderer sitzt, und regungslos auf den bewegten Strom und das langsam fortziehende Schiff hinausblickt. Noch Anderen, die mit schwerem Herzen vom alten Vaterlande scheiden, zittert eine Thräne im kummerschweren Auge. Das alte Elend liegt vielleicht hinter ihnen, aber die Sorge, die mit ihnen grau geworden, haben sie nicht zurücklassen können. Ein Häuflein Kinder, noch unzurechnungsfähig und darum leicht befriedigt, hockt auf den zum Strome hinabführenden Treppen, sie halten sich fest umschlungen, und geben ihre Verwunderung über die neue Welt, die ihnen entgegentritt, durch laute Ausrufe zu erkennen. Aber Niemand achtet auf diese rührende Kindergruppe. Man hat keine Zeit, die Flut läuft ab, die Sonne sinkt, weit unter Altona, wo der Strom sich fast zur Bucht ausweitet, thürmen sich Wolken auf und verheißen zur Nacht windiges Wetter. „An Bord, an Bord!“ mahnt dringend die harte Stimme des Bootführers, die Kinder werden seitwärts gedrängt, die Mutter drückt sie seufzend an sich, und bald ist die Familie zwischen ihren aufgeschichteten Habseligkeiten neben andern Schicksalsgenossen im schaukelnden Boote untergebracht.

Inzwischen hat das seewärtssegelnde Auswandererschiff die zu Berg kommende Flotte erreicht. Ihre Segel bedecken fast die ganze Breite des Stromes, dessen Wogen jetzt wie geschmolzenes Erz im Abendsonnenlicht funkeln. Und so weit das Auge reicht, es gewahrt immer mehr Segel, diese wie dunkle Flecken in der Luft sich abzeichnend, jene blendend weiß, andere wieder purpurfarbig, je nachdem ein greller Sonnenstrahl oder der Schatten einer vorüberziehenden Wolke sie streift. Ueber dem Borde des in See gehenden Schiffes wirbelt weißlicher Rauch auf, der Schuß einer Schiffskanone hallt dumpf wieder an dem geräuschvollen Ufergelände, ihm folgt ein zweiter und dritter, die aufkommenden Schiffe flaggen, und einem zerrinnenden Schatten gleich zerfließt das Fahrzeug in den sonnig feuchten Nebeln, die der Abend über den schwelgenden Strom breitet.

Diese rasch wechselnden Bilder entrollt der Hafen Hamburgs vor unsern Blicken fast jeden Tag, wenn wir Zeit haben, einige Stunden seiner Beschauung zu widmen. Der Abend läßt diese Welt bunt wechselnder Bilder nicht untergehen, er ändert sie nur. Das Lichtbild verwandelt sich in den schattigen Abdruck einer Laterna magiea, wird aber vielleicht, gerade weil die Alles beleuchtende Sonne jetzt mangelt, nur um so interessanter und anziehender sich gestalten.

Von der Insel Steinwärder, wo die schwarzen Rauchkegel hoch ragender Schornsteine und die schmutzig-rothe Dampfschicht, welche über einem flammenden Schlackenfelde sich bald hebt, bald senkt, die große Thätigkeit viel beschäftigter Fabrikanlagen uns verräth, kehren Schaaren von Arbeitern um diese Zeit zur Stadt zurück. Feiert in jenen Werkstätten des Materialismus auch nicht die Arbeit, so treten für die Nacht doch Andere ein. Moderne Fabriken, die mit Dampf arbeiten, geben dem Menschen keine Ruhe, weder Tag noch Nacht. Wie der Bergmann im lichtlosen Schacht den Unterschied von Tag und Nacht aufhob, weil es ihm gleich war, ob er bei Sternenschein vor Ort das Fäustel schwingt, oder im Licht der allbeleuchtenden Sonne, so thut es in unserer erwerbsüchtigen, zeitgeizigen Gegenwart auch der Fabrikherr, weil er sonst nicht Schritt halten kann mit dem Raffinement der aus kluger Zeitbenutzung geldmachenden Konkurrenz.

Gleichzeitig verstummt das Gelärm auf den Werften, die schrillende Säge, welche Holz zu Schiffsplanken schneidet, schweigt, die letzten Dampfschiffe legen an. Alles bereitet sich vor, das Tagewerk zu beendigen und auszuruhen von den Lasten, unter denen man geseufzt. Von den aufsegelnden Schiffen erreicht eins nach dem andern den schützenden Hafen, und bald verläßt ein Theil der Equipage die schwimmenden Gebäude, um vielleicht nach Monate langer, gefahrvoller Reise endlich wieder den schwankenden Fuß auf die ernährende Mutter Erde zu setzen.

Nun taucht die Sonne, noch einmal einen langen heißen Abschiedskuß der Welt zuwerfend, hinter dem rollenden Wasserspiegel unter, hüben und drüben, bald fern bald nah, bald trüb’ bald hell, blitzt ein Licht, ein Flämmchen, ein Gasfunken auf, und ein neues Leben, das Leben der Nacht, das in großen Seestädten sich ganz eigenthümlich gestaltet, beginnt innerhalb und außerhalb der Thore. Ehe wir aber diese nächtliche Seite Hamburgs näher in’s Auge fassen, wenden wir uns einer Klasse Menschen zu, die man im Binnenlande auch nur dem Namen nach kennt, die aber ohne Frage unter allen modernen Menschen wenigstens Europa’s noch immer die meiste Ursprünglichkeit sich bewahrt hat, wenn schon zugegeben werden muß, daß diese Ursprünglichkeit sich auf Kosten menschlicher und sittlicher Bildung nur zu oft mehr als billig in die Brust zu werfen pflegt, wir meinen die Matrosen, diese wilden Sprößlinge der Natur, die ungezogenen Kinder einer harten Wirklichkeit, die unerschrockenen, kaltblütigen Jünger Neptun’s und Aeolus’, die trotz ihrer sturmvollen Weltfahrten doch bis auf den heutigen Tag die Kultur noch nicht dergestalt beleckte, daß sie ihr innerstes Wesen umzugestalten vermochte.




2. Matrosen am Lande.

Im Jahre 1855 besuchten den Hamburger Hafen 4593 Seeschiffe mit einer Bemannung von im Ganzen 40,102 Köpfen. Da nun in der lebhaftesten Verkehrszeit durchschnittlich die Zahl der vor Anker liegenden Schiffe auf 500 bis 600 veranschlagt werden darf, so läßt sich immer annehmen, daß fast ununterbrochen zwischen 3000 bis 4000 Seeleute sich in Hamburg aufhalten. Diese ansehnliche Menge fremder, größtentheils sehr junger oder doch in dem kräftigsten Lebensalter stehender Menschen gibt dieser Stadt einen physiognomischen Ausdruck, von welchem der Binnenländer sich schwer eine Vorstellung machen kann. Weil aber ohne diese wichtige Menschenrasse aller Seehandel, alle Schifffahrt undenkbar

  1. Ducs d’alben nennt man die Pfähle, welche, gewöhnlich fünf bis sechs an der Zahl mit starker Kette umgürtet, im Hafen eingerammt sind, um die Schiffe daran befestigen zu können.
  2. Die mit Strickleitern versehenen Seitentaue der Masten.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_030.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)