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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

zeigte sich, auch an den Fenstern nicht. In dem Augenblicke, als die Dame die Schwelle der Thür überschreiten wollte, bog um eine Ecke des Schlosses ein Wagen und fuhr auf den Perron der Terrasse. Im Nu stürzte eilig aus dem Schlosse, durch die nämliche Thür, in welche die Dame eintreten wollte, ein junges hübsches Mädchen; es war Emma von Rixleben, die Nichte der Generalin.

Sie flog überrascht vor der Dame zurück. Die Fremde hielt ruhig ihre Schritte an. Emma hatte sich schnell erholt, und nahete sich der fremden Dame; aber wie sie eben überrascht zurückgeflogen war, so wäre sie jetzt, von einem anderen Gefühle plötzlich ergriffen, beinahe noch einmal zurückgewichen. Sie sah in ein selten so regelmäßiges, schönes Gesicht; aber die Farbe dieses Gesichtes war von einer erschreckenden Blässe; die feinen Lippen waren in diesem Augenblicke fast violett; die großen, schwarzen Augen stierten wie verwirrt, wie in einen bodenlosen Abgrund, vor sich hin. Vor wem stand das unschuldige und unbefangene, mit der Welt und ihren Leidenschaften und Lastern und all’ ihrem Treiben noch unbekannte Kind? Welche Gefühle, welche Begierden, welche Leidenschaften regten das Innere dieser Fremden bis zu solchem Ausdrucke, bis zu solcher Entstellung ihres Aeußeren auf? Und welche Gedanken, welche Gefühle regte der Anblick plötzlich in dem Innern des jungen Mädchens wach? War es Furcht, Entsetzen, Haß, Widerwillen? War es vielleicht noch zugleich ein anderes Gefühl? Jedenfalls konnte sie nur mit Widerstreben sich der Fremden nahen.

Dieser schien der Eindruck nicht zu entgehen, den sie auf das Mädchen machte; auch der Grund schien ihr nicht unklar zu sein. Sie belebte und milderte schnell den Blick ihrer Augen, und hatte eine solche Gewalt über sich und ihr Aeußeres, daß sie auch sofort ihrem ganzen Gesichte einen anderen Ausdruck, selbst seiner Farbe einen Anhauch von Leben verleihen konnte.

„Emma?“ fragte sie freundlich das Kind, das mit fragendem Blicke, aber zu scheu vor ihr stand, um ihrer Frage auch durch Worte Ausdruck zu geben.

Bei dem so freundlich ausgesprochenen Namen fuhr das Mädchen heftig zusammen; aber gewaltsam raffte sie sich auch sofort wieder auf.

„Also Marie?“ rief sie. „Sie sind Marie? O endlich, endlich! Wie wird Hermann sich freuen!“

„Wo ist er?“ fragte die Fremde.

„Kommen Sie! Kommen Sie! Ich führe Sie zu ihm. Ich hatte es ihm ja versprochen, und war auf dem Wege zu Ihnen, Sie abzuholen!“

Sie hatte die Hand der Dame ergriffen und wollte sie mit sich fortziehen, in die Thür, in das Haus. Aber auf einmal stürzte eine Fluth von Thränen aus ihren Augen, sie preßte wie krampfhaft in ihren Händen die beiden Hände der Dame, sie drohete umzusinken. Die Fremde hielt sie in ihren Armen, und legte sie an ihre Brust; sie selbst zitterte heftig.

„Was ist Ihnen, meine liebe Emma?“

Das Mädchen schlug die Augen zu ihr auf; sie begegnete einem liebevollen Blicke.

„Werden Sie mir nicht böse,“ bat sie. „Die Ueberraschung! Meine Heftigkeit! Die Tante muß mich oft darüber schelten; auch Hermann. Aber sein Sie mir nur nicht böse. Wir lieben sie Alle so sehr! Auch ich, auch ich! O, wie wird Hermann sich freuen, wie werden wir Alle glücklich leben!“

Sie hatte sich vollkommen wieder erholt und aufgerichtet, war auch ruhiger geworden. „Kommen Sie,“ fuhr sie fort, „ich führe Sie gleich zu Hermann, er ist bei seiner Mutter. Ich löse mein Versprechen; wie wird er überrascht werden; erst in zwei Stunden konnte man uns erwarten.“

„Sie wußten hier von meiner Ankunft?“ fragte die Dame.

„Wir hatten nur gehört, daß der Postwagen umgeworfen habe. Hermann war in großer Unruhe. Um ihn desto eher aus der Ungewißheit zu reißen, beschloß ich, Ihnen entgegen zu fahren. Sie wissen, er darf nicht.“

„Gutes Kind!“

„Sie waren also wirklich in dem Wagen?“

„Ich es war.“

„Und Sie haben keinen Schaden genommen bei dem Unfall?“

„Gottlob, nein!“

„Aber wie können Sie schon hier sein? Nach unserer Berechnung wären Sie zu dieser Zeit kaum in Holzminden eingetroffen?“

„Ich miethete in Lauenförde einen Wagen, in dem ich direkt durch das Gebirge hierher fuhr.“

„Das haben Sie schön gemacht.“

Emma war wieder das völlig unbefangene Kind, das über Plaudern die heftigsten Gefühle der Augenblicke vorher vergessen konnte. So führte sie die Dame in das Haus, und durch den Flur zu einer Thür.

„Dort,“ sagte sie, „dort ist Hermann bei der guten Tante. Lassen Sie uns leise gehen, wir wollen Beide überraschen.“

Je unbefangener und ruhiger das Kind wurde, desto unruhiger wurde wieder die Fremde. Sie schien jetzt sich Gewalt anthun zu müssen, um nicht umzusinken; sie drückte jetzt krampfhaft die Hand des Kindes, das sie führte, und zitterte heftig und immer heftiger. Ihr Gesicht wurde wieder leichenblaß; sie schien auf einmal alle ihre Gewalt über sich verloren zu haben. Die Thür hatten sie erreicht, Emma riß dieselbe auf.

„Marie ist da!“ rief sie in das Zimmer hinein.

Der Major saß mit der Generalin im Sopha, in einem Gespräche begriffen. Beide sprangen bei dem Rufe auf.

Die fremde Dame stand noch in der Thür, halb hinter dem jungen Mädchen, das sie führte; der Major konnte sie nur halb sehen. Sie sah den hohen, kräftigen, stolzen, schönen Mann, und neben ihm die schöne, ehrwürdige alte Dame. Ihr Auge irrte unstät auf den beiden edlen Gestalten. Auf einmal schien es sich mit einem Nebel zu bedecken; es starrte, als wenn es nichts mehr sähe; sie war dem Umsinken nahe.

„Marie, meine Marie!“ rief der Major.

Er war auf sie zugeflogen, hatte sie in seinen Armen aufgefangen, und trug nun die Ohnmächtige auf das Sopha.

„Marie, meine theure, meine geliebte Marie!“

Sie schlug die Augen wieder auf; sie lag in seinen Armen, an seiner Brust; er bedeckte sie mit seinen Küssen.

„Hermann, mein Hermann!“ lispelte sie.

Der Major jauchzte auf. „O, endlich höre ich auch Deine Stimme wieder.“

Sie umfing ihn mit ihren Armen und erwiederte seine Küsse.

„Ich habe Dich wieder!“

„Nichts soll uns mehr trennen.“

„Nichts!“ sagte die Generalin, die an der Seite des Paares stand.

Marie erhob sich; die Generalin schloß sie in ihre Arme. „Mein theures, theures Kind!“

„Gütige Mutter meines Hermann, schenken Sie auch mir Ihre Liebe.“

„Auch Deine Mutter, meine Marie! Wir Alle lieben Dich, Du edle Dulderin. Wie viel hast Du gelitten, um Hermann’s willen, und ich wußte es nicht; ich wußte nicht, wo Du warst, und konnte Dich nicht trösten, nicht aufrichten, nicht lieben!“

Marie hatte sich erholt; ihr Gesicht hatte wieder Farbe, ihre Augen wieder Glanz bekommen. Die Generalin schien sich in den Anblick des schönen Mädchens zu verlieren.

„Wie bist Du schön, Marie!“ rief der Major.

„Ich bin sehr gealtert,“ erwiederte sie erröthend. „Ich fürchtete, Du müßtest mich um zehn, anstatt um drei Jahre älter wiederfinden.“

Der Major sah sie prüfend an. „In der That,“ sagte er, und er erblaßte plötzlich, als wenn er einen tiefen Stich in das Herz bekommen habe. Aber schmerzlich lächelnd setzte er schnell hinzu: „Konnte es anders sein? Drückt in solcher Zeit nicht ein Jahr schwerer als zehn andere? Auch ich habe gealtert. Wie sehr wirst Du mich verändert gefunden haben!“

„Ich sehe nur meinen theuern Hermann, der so unglücklich war, dessen Leben fortan, wenn es nach meinen Wünschen geht, nur Glück sein soll.“

Man sah nur Glück in den schönen Gesichtern des Paares; nur Glück umstrahlte das würdige Gesicht der Generalin.

Aber in einem andern Gesichte zeigte sich der Ausdruck einer tiefen, schmerzlichen Trauer. Emma von Rixleben nahete sich nicht der Gruppe der Glücklichen. Sie stand am Fenster, allein, verloren wie in ahnende, schwer ahnende, ängstliche Träume. Und wer sie so sah, mußte meinen, sie sei plötzlich, in dem kurzen Zeitraume von wenigen Minuten, aus einem unbefangenen Kinde zu einer Jungfrau gereift, deren Herz schon angefangen habe, bange und leidend zu schlagen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 35. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_035.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)