Seite:Die Gartenlaube (1857) 059.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

hier abzuspeisen, und dann den mit Steckbriefen verfolgten Sträfling wieder in die Hände seiner Verfolger zu spielen, und unterdeß Dich selbst ruhig in die Arme des sentimentalen großen Herzens zu legen. Nein, Madame, so wird es nicht werden. Zuerst –“

„Gregoire,“ unterbrach die Frau ihn, „Du kennst mich und die Festigkeit meiner Entschlüsse. Ich habe Dich von manchem Verbrechen zurückzuhalten gewußt, das ich vorher erfuhr.“

„Du hattest einen starren dummen Eigensinn.“

„Du weißt auch, daß ich mich gegen Dich nie verstellt habe.“

„Du hast seitdem die Komödie gelernt.“

„Bei Gott, Gregoire, ich habe kein unwahres Wort zu Dir gesprochen, kommt mein Mann in diesem Augenblicke hier herein, so werde ich in Deiner Gegenwart meinen Entschluß ausführen. Und entfernst Du Dich nicht bald – wie gern ich ihm auch die Schmach Deines Anblicks ersparte – ich lasse ihn hierher rufen.“

Der Verbrecher wurde wieder ernsthaft.

„Antoinette,“ sagte er, „ich glaube in der That, Du wärst thöricht genug dazu. Aber höre jetzt auch mich an. Ich bin nicht zu Dir gekommen, um Dein Glück, das Du hier gefunden hast, zu zerstören, sondern es vielmehr mit Dir zu theilen. Und das geht auf einem sehr einfachen Wege an. Wir setzen nur die Rollen in der Weise fort, wie Du die Deinige begonnen hast. Ich werde der Mann Deiner verstorbenen Schwester, der aus der lebenslänglichen Haft sich befreit hat, und ein ganz ordentlicher, tugendhafter Mensch geworden ist, und hier –“

„Sprich nicht weiter, Unglücklicher,“ rief mit Entsetzen die Frau. „War das nicht der empörendste Hohn, so bist Du ein Wahnsinniger!“

„Du bist eine Närrin, Antoinette. Wir werden hier glücklich werden. Dein edler Mann wird mir seinen Schutz nicht versagen –“

„Gregoire,“ unterbrach ihn wiederholt die Frau, „kein Wort weiter, oder ich rufe meinen Mann.“

„Ist das Dein Ernst?“

„Mein voller Ernst!“

„Zum Teufel, so höre vorher noch ein paar andere Worte von mir. Weißt Du, daß das Haus mit Gensd’armen umsetzt ist?“

„Sie suchen Dich schon!“

„Nicht mich, aber einen geheimen politischen Emissär, der vor einer Stunde bei Deinem Manne war, und wenn ich will, auch Deinen Mann, um ihn vorläufig in das Kastell zu Kassel und von da weiter nach Mainz zu bringen, wo an ihm sicher das Todesurtheil vollzogen werden wird, das an mir vorüberging.“

Die Majorin war erblaßt.

„Unmensch, Du hast auch schon hier den Verräther gemacht?“

Que faire? Il fort gagner la vie. Du stehst, ich kam doppelt bewaffnet zu Dir, mit der Güte und mit der Gewalt. Suche Dir jetzt aus. Noch ist Dein Mann sicher; nur jener, der bei ihm war, wird verfolgt; die Dummköpfe vermuthen ihn noch hier. Ach, Antoinette, die französische Polizei fängt an, schlecht bedient zu werden; es scheint mit der Wirthschaft zum Ende zu gehen. Nun, wofür hast Du Dich entschieden?“

Die Majorin war mit großen Schritten im Zimmer umhergegangen; sie ging entschlossen auf die Thür zu, neben welcher die Klingel hing. Der Verbrecher hatte sie nicht aus den Augen gelassen; er vertrat ihr den Weg, und hielt sie fest.

„Nicht doch, Antoinette!“

Aber der feste Entschluß hatte in dem schwachen Weibe eine ungewöhnliche Körperkraft erzeugt. Sie riß sich von ihm los, stieß ihn von sich und zog heftig an der Klingel.

Der Elende erschrak bei dem lauten Tone.

„Thörin, trotziges Geschöpf!“ rief er, „Dein sentimentaler Held könnte mich erschießen, ich bin unbewaffnet. Noch ist mir mein Leben zu lieb. Wir sehen uns wieder, heute, jeden Tag. Wisse, ich lasse Dir keine Ruhe, bis Du wieder mein bist.“ Er verschwand durch die Thür. Gleich darauf trat ein Bedienter ein.

„Sobald mein Mann zurückkehrt, geben Sie mir Nachricht.“

Die Frau von Rixleben war angegriffen, erschöpft; sie mußte sich in ihren Sessel zurücklehnen, um sich zu erholen, um wieder Kräfte zu gewinnen, Kräfte für den schwersten Entschluß, für die schwerste Stunde ihres Lebens.

Die beiden Kinder spielten wieder zu ihren Füßen. Sie waren durch den Eintritt des fremden Mannes nur einen Augenblick darin unterbrochen worden, als die kleine Agnes, geängstigt durch sein plötzliches geräuschloses Erscheinen, sich an die Mutter gedrängt hatte. Das Kind hatte seinen Vater nicht wieder erkannt. Die lange Haft, der gemeine Ausdruck seines Gesichts, der ganze, zur Vollendung ausgeprägte äußere Charakter des gemeinen Verbrechers hatten ihn für das zarte Gedächtniß des fünfjährigen Kindes unkenntlich gemacht. Wohl dem armen, kleinen Wesen! Die Unterredung ihrer Mutter mit dem Manne hatte einen äußerlich ruhigen Verlauf genommen. Das Kind hatte daher nicht darauf geachtet, und sein Spiel mit dem Brüderchen wieder fortgesetzt. Die Kinder hatten Glöckchen, kleine Thiere, Häuser, Stuben. Das Mädchen baute auf, ordnete und richtete ein; der Knabe riß auseinander, zerstörte, warf umher. Das Mädchen las geduldig wieder zusammen, bauete wieder auf, ordnete wieder; der Knabe warf es wieder wild und bunt durcheinander. Beide lachten und freuten sich, und wurden nicht müde im Aufbauen und Zerstören.

Schon so früh das Bild des Lebens und Treibens der Menschen, des ewigen Aufbauens und Zerstörens des Glücks, des fremden und des eigenen! Die Kinder waren nur fröhlich und unschuldig dabei. Die unglückliche Frau sah das Spiel der Kinder; sie nahm keinen Theil daran, und konnte sie das, nach dem eben Erlebten, so nahe vor dem Ende ihres Schicksals?

Nur dieses, nur ihr Schicksal stand vor ihr: ihr vergangenes Leben, ihre Zukunft, ihre Träume über beide. Wie hatte sie als reines, unschuldiges Mädchen von sechzehn Jahren sich ihre Zukunft so rein, so unschuldig, so schön geträumt! Da war der Verführer gekommen, und hatte sie und ihr Leben vergiftet. Welches Elend hatte sie ertragen an der Seite des Verbrechers, dem sie nicht entfliehen, vor dem sie kaum sich retten konnte, daß er sie nicht in seine Verbrechen mit hineinriß! Und hatte er nicht dennoch sie zur Verbrecherin gemacht? Hatte er nicht, durch seine tägliche Frivolität, durch tägliches Beispiel, ihr Herz, ihren Sinn, ihr ganzes Wesen so durch und durch vergiftet, daß ihre reine, edle Liebe zu ihrem Kinde, das heiße Streben für dessen Wohl und Glück sie zu keinem andern Mittel greifen ließ, als zu einem empörenden, furchtbaren gemeinen Verbrechen? Konnte die böse Aussaat gute Frucht tragen? Dennoch war sie so verblendet gewesen, daß sie von einer glücklichen Zukunft geträumt hatte. Nochmals von einer glücklichen Zukunft! Ihr Leiden, ihre ewige Angst, die Angst des Gewissens, die Angst vor Entdeckung, hatte in dem ersten Augenblicke ihres Entschlusses zu dem Verbrechen klar und lebendig vor ihr gestanden. Und doch wurde sie nicht mit glücklich in dem Glücke ihres geliebten Kindes? War, nachdem sie von ihrem zum Tode verurtheilten, und wie sie glauben mußte, hingerichteten Manne befreit war, eine Entdeckung ihres Verbrechens jemals zu befürchten? Mußte nicht zuletzt auch die Stimme des Gewissens schweigen vor dem so laut redenden Zeugnisse des Glückes ihres Kindes? Sie hatte ihren Entschluß ausgeführt; sie hatte den Schritt des Verbrechens gethan; es war vorbei, unwiderruflich vorbei. Sie konnte nicht zurück, obwohl sie täglich wollte. Sie liebte den Mann, den sie betrogen hatte, und konnte nicht mehr von ihm lassen. Schon von dem Verführer hatte sie sich nicht losreißen können; ihr Herz fühlte sich an ihn gefesselt; aber welche andere, reinere, edlere Liebe erfüllte ihr ganzes Innere für den Mann, mit dem sie jetzt verbunden war! Eine reine, edle Liebe, und sie entdeckte sich ihm nicht? Sie setzte den Betrug, das Verbrechen gegen ihn fort? Er liebte sie; er liebte in ihr seine Marie; er liebte sie mit der ganzen Kraft seines kräftigen Herzens. Sein Herz war verwachsen in diese Liebe; starb diese, so mußte es mit ihr verbluten, sterben!

Konnte sie ihm ihr Verbrechen entdecken? So glaubte sie; so glaubte ihr vielleicht zu leichtgläubiges Herz, so redete vielleickt ihre eigene Liebe zu dem Manne, die Sorge für ihr Kind, bethört und bethörend dem Herzen nur zu. In dieser Bethörung wurde sie in der That glücklich; nur auf Stunden, Augenblicke; dann aber auch so glücklich, so selig! Die Gewissensqual, die Angst vor Entdeckung kam furchtbar hinterdrein, um so furchtbarer, je mehr sie sie verbergen mußte, je mehr sie nur sich glücklich zeigen durfte. Aber waren jene Stunden, nur Augenblicke des Glücks, nicht eine Bürgschaft, daß das Glück dauernder, daß es für immer zu ihr wiederkehren könne? Hatte sie nicht sogar einen Anspruch hierauf? Lebte sie nicht der strengsten Ausübung ihrer Pflicht, der Tugend, der Liebe und Sorge für ihren Mann, für ihre Kinder? – Lebte sie wirklich der Tugend, der Pflicht, der Liebe zu dem Manne, den sie noch immerfort, täglich, ja stündlich

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_059.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)