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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

hinzutreten würde! Wie schlecht, welch’ eine elende, verworfene Verbrecherin bin ich nun, daß ich bis jetzt, bis zu einer solchen Veranlassung diese Rolle spielen konnte!“

„Und nun,“ fragte der Major weiter, „was war Dein Vorsatz für die Zukunft?“

„Habe ich eine Wahl? Ich verlasse Dich, verlasse Dich noch heute, in demselben Moment, in welchem Du mir noch zwei Bitten gewährt haben wirst.“

„Sprich sie aus.“

„Bleibe der Beschützer, der Vater meiner Agnes, und dann gib mir Deine Verzeihung.“

Sie hatte nur unter dem heftigsten Aufweinen die Bitten aussprechen können, und war dabei auf das Sopha zurückgesunken. Der Major antwortete ihr nicht gleich, sondern schritt wieder im Zimmer umher und suchte nach einem Entschlusse. Jetzt trat er zu ihr; ein fester Entschluß leuchtete aus seinen Blicken.

„Marie,“ sagte er –

Sie hatte bisher den Namen ohne Widerspruch angehört; die Gewohnheit hatte sie wohl in den ersten Augenblicken nicht zum Nachdenken darüber gelangen lassen. Der Entschluß, den sie in seinem Auge las, führte ihr dieses Nachdenken herbei.

„Nicht Marie,“ entgegnete sie, „entweihe den Namen nicht!“

Diese wenigen Worte erschütterten den starken Mann und seinen Entschluß.

„O, mein Gott!“ rief er, wandte sich wieder um und durchmaß die Stube, von neuem nach einem Entschlusse suchend. Denselben gefunden, kehrte er nochmals zu dem Sopha zurück. „Ich kann nicht anders, Marie,“ setzte er kleinlaut hinzu, „ich habe Alles, mein ganzes Innere geprüft, Deine und meine Lage ruhig überlegt; im Geiste das edle Herz, den klaren Verstand meiner Mutter gefragt; meinen Stolz, ja sogar meine Ehre erforscht; aber ich kann nicht anders, Marie! Nun beantworte mir nur noch eine Frage: hat jener Mensch Rechte an Dich?“

„Er ist mein Verführer, der Vater meines Kindes.“

„Hat er gesetzliche Rechte? Ist er Dein Mann?“

„Nein!“

„Wohlan, Marie, so bleibst Du mein!“

Sie sprang auf. „Nein, Hermann, –“

„Entscheide jetzt nicht, Du hast einen kräftigen Geist, der Schlag mußte Dich dennoch zu stark treffen; Du siehst noch nicht klar.“

„Auch Dich hat er getroffen, Hermann, auch Du –“

„Ich bin ein Mann; höre mich weiter –.“

„Höre vorher mich, Hermann, ich habe Dir noch nicht Alles gesagt; ich wollte Dir die Schmach einer Nachricht, vielleicht den Anblick jenes entsetzlichen Menschen ersparen. Gregoire ist hier; vor einer halben Stunde war er bei mir, hier, in diesem Zimmer, mit schmachvollen Anträgen, mit furchtbaren Drohungen, gar gegen Dich, gegen Deine Ehre, gegen Dein Leben.“

Die Nachricht schien den Entschluß des Majors nicht erschüttern zu können.

„Ich fürchte den Elenden nicht,“ sagte er, „und auch Du wirst ihn keinen Augenblick wieder zu fürchten haben. Höre nun mich weiter.“ Sie ließ ihn nicht weiter reden.

„Nein, Hermann, ich weiß Alles, was Du mir sagen kannst, und will auch glauben, daß Du Dich nicht täuschest, selbst für die Zukunft nicht; aber ich kann nicht, mein Entschluß steht unerschütterlich fest.“

„Du mußt mich hören, Marie, –“

„Ich kann nicht!“

„Um Deiner Kinder willen!“

„Auch für sie nicht; ich weiß, daß Du sie nicht verlassen wirst, Beide nicht!“

„Marie, um meinetwillen denn; willst Du mich völlig unglücklich machen? Beantworte mir nur noch eine Frage: Hast Du mich je geliebt? Liebst Du mich noch?“

Er sprach diese Worte mit dem Tone der innigsten, der wahrsten Liebe. Konnten sie den Eindruck auf das Herz verfehlen, das ihn so innig und wahr liebte?

„Ja, Hermann,“ rief sie, „ich liebe Dich, habe Dich schon von dem Augenblicke an geliebt, als ich Dein Herz erkannte, und ich erkannte es ja gleich in dem ersten Blicke Deines Auges, dem ersten Tone Deiner Stimme! O, glaube mir, Hermann, zweifle nicht an meiner Liebe; aber gerade darum muß ich von Dir scheiden. Hätte diese Liebe mich nicht verzehren müssen, wenn Du mich nicht wieder geliebt hättest? Und kann Dein Herz noch Liebe zu der Betrügerin, der Verbrecherin fühlen?“

„Zu Dir immer, Marie!“

„Nein, nein! Schon bisher hast Du ja mich nicht geliebt, nur die todte Marie; nur durch Selbsttäuschung, durch gewaltsame Selbsttäuschung konnte ich glücklich werden, wenn ich vergaß, daß ich nicht die war, der eigentlich Deine Liebe galt. Und wie gern täuschte ich mich so! Wie war diese Täuschung mir zum Bedürfniß, zur Gewohnheit geworden! – Es ist vorbei, für immer vorbei!“

„Marie,“ entgegnete er, „täuschest Du Dich jetzt nicht? Wen habe ich denn geliebt seit anderthalb Jahren? Wen habe ich mit meinen Armen umfangen, an mein Herz gedrückt, auf meinen Knien geschaukelt? Von wessen Lippen hat das Wort der Liebe in den süßesten Tönen derselben mein Herz mit Glück, mit Seligkeit erfüllt? Wessen edlen, kräftigen Geist habe ich bewundert? Wessen schönes, großes Herz habe ich angebetet? War es nicht immer Du und nur Du?“

„Als Maske der Todten!“ setzte sie hinzu.

„Aber die Maske ist abgefallen, und Du bist doch dieselbe, geblieben; nur dasselbe Herz, denselben Geist, wie sie jetzt sind, habe ich geliebt; nichts ist anders in mir geworden, Du selbst warst Deine Maske; Du stehst nun ohne sie da, wie Du mit ihr warst.“

„Das sind Sophismen, Hermann.“

„Das sind Sophismen der Liebe, ja, Marie oder Antoinette, der Liebe, die nicht von Dir lassen kann. Du hast Recht; Marie bist Du nicht mehr, Marie ist todt; die schöne, edle, gute, von mir so innig geliebte Marie ist todt; mein Herz kann nur noch die Trauer der Liebe für sie haben; es wird sie ewig bewahren. Ewig und ungeschwächt neben dem Glücke der Liebe für die Schwester der Todten, für meine Gattin, für die Mutter meines Kindes, für die, die ich nur –“

Sie unterbrach ihn mit fester Stimme.

„Hermann,“ sagte sie bittend, „erschwere Dir und mir nicht die letzten Augenblicke, die wir noch beisammen sind, beisammen sein können. Du liebst mich, ich weiß es, aber wir müssen uns dennoch trennen, mögen Dein Herz und Deine Liebe Dir zureden, was sie wollen; nur eins bleibt bestehen, und Dein Geist muß es Dir in jedem Momente des klaren Schauens zeigen: ich bin eine Verbrecherin, ich habe Dich in dem Heiligsten betrogen, was der Mensch hat, und eine Verbrecherin kann, darf Dein Herz nicht lieben; könnte es, dürfte es aber auch, ich könnte und dürfte nie an diese Liebe glauben; ein Wölkchen auf Deiner Stirn, ein trüber Blick Deines Auges würde mir ihr Ende verkünden, und mein Leben wäre dann eine ununterbrochene Qual, eine ewige unerträgliche Pein! Spare daher jedes fernere Wort, mein guter, mein edler Hermann! Ein schweres, aber kein unersetzliches Unglück hat Dich betroffen; um so mehr mußt Du starker Mann es tragen. In unserem Kinde, dem lieben Friedrich, blühet Dir ein neues Glück; laß darum auch meine Agnes eine Knospe in dieser Blüthe sein. Jetzt müssen wir scheiden, auf der Stelle, um unserer Aller willen. So lebe denn wohl! Meine beiden Bitten, die ich vorhin aussprach, hast Du mir schon gewährt; ein so braver, edler Mann, wie Du, wird mein armes Kind nicht verlassen. Und Deine Verzeihung lag in Deinen Worten. Habe Dank dafür, Dank für alle Deine Liebe, Deine Güte. Lebe wohl!“

Sie hatte auch jetzt die Kraft, mit ihrer schönen, klaren Milde zu sprechen, und ihm die Hand zum Abschiede zu reichen. – Noch machte der Major einen Versuch.

„Marie, Antoinette,“ rief er, „wenn Du vor anderthalb Jahren als Antoinette zu mir gekommen wärst, mir den Sterbegruß Mariens gebracht, und Dich und Dein Kind in meinen Schutz gegeben hättest, hätten sich nicht auch dann unsere Herzen gefunden? Du hast das heute gethan –“

„Sie hätten sich gefunden,“ unterbrach sie ihn mit einem schweren Seufzer. „Das war mein Verbrechen, daß ich es nicht that; daß ich es erst heute gethan habe, dafür muß ich büßen. Ich wäre glücklich geworden für immer, und hätte Dich nicht unglücklich gemacht, daß Du Armer nun mit mir büßen mußt, für mein Verbrechen. Aber ist auch nicht das ein Fluch des Verbrechens, daß auch Andere mit darunter leiden müssen! – Lebe wohl!“

Sie wand ihre Hand, die er noch immer gefaßt hielt, aus der seinigen; er wollte sie gewaltsam an sein Herz drücken; sie sah ihn flehend an.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_062.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)