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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

„Madame Bergt,“ flüsterte sie dringend, „kann ich Sie auf einige Augenblicke allein sprechen?“

„Ich bin allein, mein Mann befindet sich noch in seinem Bureau.“

Beide Frauen traten in das durch eine Kerze erleuchtete Zimmer. Die Fremde, die sich in der Eile nicht einmal eines Regenschirmes bedient hatte, schlug den durchnäßten Schleier zurück.

„Fräulein Spanier!“ rief Henriette überrascht.

Lydia’s reizendes Gesicht zeigte sich; es war hochroth von dem raschen Gehen.

„Ich bin es!“ sagte die junge Jüdin bewegt.

Henriette wollte ihr den vom Regen schweren Mantel abnehmen; Lydia lehnte es ab.

„Es bleiben mir nur wenig Minuten, um Ihnen eine Mittheilung von großer Wichtigkeit zu machen,“ flüsterte sie.

„Mir? Mir?“ fragte die junge Frau besorgt.

„Wir kennen uns kaum, Madame; aber ich halte es für meine Pflicht, ein Unglück von dem Haupte eines Mannes abzuwenden, den die ganze Stadt schätzt und achtet.“

„Großer Gott, betrifft es meinen Mann?“ fragte Henriette, die an den Präsidenten dachte.

„Auch den Herrn Sekretair Bergt – hören Sie mich an! Man kann uns doch nicht belauschen?“

„Nein, nein, wir sind allein.“

„Vor kaum einer halben Stunde kam der Kassenrendant Herr Ernesti, von Regen triefend und todtbleich, zu meinem Vater. Ich befand mich zufällig in demselben Zimmer. Der alte Mann brach fast zusammen. Auf einen Wink meines Vaters entfernte ich mich. Das Interesse für Herrn Ernesti trieb mich, an der Glasthür zu lauschen. Da hörte ich die furchtbaren Dinge, die ich Ihnen mitzutheilen gekommen bin. Der arme Rendant hat viertausend Thaler aus der ihm anvertrauten fürstlichen Kasse genommen, und morgenfrüh acht Uhr will der Präsident von Seldorf eine genaue Kassenrevision abhalten; man hat dem Rendanten aufgetragen, Bücher und Bestände vorzulegen.“

„Das ist traurig,“ flüsterte bebend Henriette; „aber wie kommt mein Mann mit dieser Angelegenheit in Berührung?“

„Ernesti hat meinem Vater nichts verschwiegen, um ihn zu bewegen, die fehlende Summe vorzustrecken. Der Zusammenhang der Unglücksgeschichte ist folgender: Herr Bergt hat vor ungefähr einem Jahre viertausend Thaler von meinem Vater auf Wechsel geliehen. Dieses Geld war mein Vater gezwungen zurückzufordern, da es nicht ihm, sondern dem Rathe Bronner gehörte. Man drohete also Herrn Bergt mit Wechselhaft.“

„Entsetzlich!“ flüsterte Henriette bestürzt.

„Ihr Gemahl wandte sich in seiner Angst an den Rendanten, und dieser brave Mann bemühete sich um die Summe. Ein Verwandter versprach ihm, sie in acht Tagen zu liefern. Inzwischen war der Wechsel verfallen, es handelte sich nur um einige Tage – der Rendant nahm das Geld aus seiner Kasse, um es in drei Tagen wieder hineinzulegen. Da ward ihm heute plötzlich die Revision angesagt. Nun kam er zu meinem Vater, um die Summe, die Herr Bergt ihm gestern gezahlt, auf acht Tage zu leihen.“

„Und Ihr Vater hat es verweigert?“

„Weil der Rath Bronner sein Geld bereits empfangen hat. Ich weiß, daß mein Vater in diesem Augenblicke von Kapitalien entblößt ist, denn er hat sich bei einer neuen Kredit-Anstalt in K. betheiligt. Wenn ich Alles zusammenstelle, so läßt sich der Schluß ziehen: der Präsident und der Rath wollen den armen Rendanten in’s Verderben stürzen. Fände die Revision vier Tage später statt, so würde der Kasse kein Thaler fehlen, denn Ernesti versichert, daß er sich auf seinen Verwandten verlassen könne. Nun hörte ich, daß mein Vater ihm den Rath ertheilte, sich an Fräulein von Hoym zu wenden, die allein im Stande sei, zu helfen. „Nie, nie!“ hörte ich den alten Mann ausrufen; „ehe ich diesen Schritt unternehme, will ich lieber untergehen!“

„Mein Gott! Mein Gott!“ flüsterte Henriette unter Thränen.

„Ich habe hin und her gesonnen, um ein Rettungsmittel zu finden,“ fuhr Lydia fort; „aber leider habe ich nur tausend Thaler zusammenbringen können, die ich Ihnen hiermit übergebe.“

Sie legte ein Taschenbuch auf den Tisch.

„Und was kann ich thun?“ fragte Henriette, indem sie die schöne Jüdin mit thränenschweren Augen ansah.

„Ich weiß, daß Sie die Freundin des Fräuleins von Hoym sind. Ein Wort von Ihnen genügt, um die zur Rettung erforderliche Summe vollständig zu machen. Der arme Rendant hat sich für Herrn Bergt geopfert, es kann demnach Madame Bergt nicht schwer werden, sich zu einem Schritte zu entschließen, den zu thun sie für Pflicht erachten muß. Es fehlen noch dreitausend Thaler – –“

„Wie deute ich das Interesse, daß Sie an der Sache nehmen?“ fragte Henriette.

„O, Madame, erlassen Sie mir in diesem Augenblicke jede weitere Erklärung, denn die Zeit ist zu kostbar, als daß wir sie mit Plaudern verbringen sollten. Morgenfrüh acht Uhr findet die Kassenrevision statt, und fehlt ein Thaler, so ist der brave Ernesti verloren. Sie müssen ihm diesen Abend noch ein Mittel zur Rettung seiner Ehre liefern.“

Lydia grüßte und verschwand. Henriette hatte die Entfernung der jungen Jüdin nicht bemerkt; sie betrachtete sinnend das Taschenbuch auf dem Tische. Die Stimme ihres Mannes, der die Treppe heraufkam, scheuchte sie empor. Jetzt erst bemerkte sie, daß sie sich allein befand. Der Sekretair ging in sein Zimmer.

„Was ist das? Was ist das?“ fragte sich Henriette. „Warum weigert sich Ernesti zu Cäcilien zu gehen, da er weiß, daß er von ihr geschätzt wird? Warum soll ich die Freundin in Anspruch nehmen? Und von der Schuldenlast, die meinen Mann drückt, weiß ich nicht ein Wort!“

Sie durchirrte das Labyrinth von Vermuthungen, die sich in ihrem Innern kreuzten; aber keine schien ihr die richtige zu sein, eine hob die andere auf. Nur soviel nahm sie mit Gewißheit an, daß der Präsident einen Schlag gegen sie, die ihn einst verschmäht hatte, ausführte. Die Art und Weise, wie er verfuhr, hatte eine zu große Aehnlichkeit mit der Heldenthat, die er in K. vermöge seiner Stellung ausgeführt, als daß sie noch irgend einen Zweifel hegen konnte. Und der brave Ernesti, der so uneigennützig geholfen hatte, sollte mit in das Verderben stürzen!

„Ich gab die Veranlassung, ich muß auch helfen!“ flüsterte sie. „Aber wie? Cäcilie hat mir Schutz gegen jeden Angriff versprochen – kann sie eine Veruntreuung in Schutz nehmen? Und eine Veruntreuung bleibt es immer, wenn sie auch aus dem edelsten Motive hervorgegangen ist. Aber wenn sie mir einfach die Summe gäbe? Dann wäre Alles, Alles beseitigt. Cäcilie ist gut, ich bin ihre einzige Freundin – wohlan, ich werde mich ihr entdecken!“

Gegen seine Gewohnheit kam Bergt nicht, um seine Frau zu begrüßen. Henriette wollte das Haus nicht verlassen, ohne ihn zuvor gesehen zu haben. Sie ging in sein Zimmer. Der Sekretair saß sinnend in einer Ecke des Sopha’s; er bemerkte nicht einmal das leise Eintreten seiner Frau. So hatte sie ihn nie gesehen. Die Nachricht Lydia’s war also gegründet, es mußte etwas Ungewöhnliches vorgegangen sein.

„Otto!“ rief sie leise, indem sie die Thür hinter sich schloß.

Der Sekretair fuhr erschreckt auf; er zwang sich, ein freundliches Gesicht zu zeigen.

„Henriette!“ sagte er lächelnd, indem er rasch aufstand, sie zärtlich umarmte und küßte.

„Bist Du krank, Otto?“

„Nein, nein! Wie kommst Du zu dieser Frage?“

„Ich muß Dich in Deinem Zimmer aufsuchen, nachdem Du den ganzen Tag fern gewesen bist. Und nun treffe ich Dich – –“

„Ach ja, ich dachte über eine schwierige Arbeit nach, die ich morgen beginnen muß. Der neue Präsident will seine Leute kennen lernen. Ich muß den Mann achten; er ist streng, aber gerecht. In allen Bureaux sieht man ihn. Es wäre mir lieb, wenn ich ihm meine Fähigkeit zeigen und ihn veranlassen könnte, mich zu einem einträglicheren Posten zu avanciren. Ach, Henriette, Du bist jetzt nur die Frau eines einfachen Sekretairs –“

„Und bin ich nicht glücklich, mein lieber Freund? Habe ich mich je beklagt? Besitze ich einen andern Ehrgeiz, als den, Deine Frau zu sein? Glaube mir,“ fügte sie schmerzlich lächelnd hinzu, „ich beneide keine Frau in unserer Residenz.“

Er drückte sie gerührt an seine Brust. Ach, hätte sie in diesem Augenblicke in seiner Seele lesen können!

„Er will mich täuschen!“ dachte sie.

„Sollte sie Argwohn schöpfen?“ fragte er sich besorgt.

Beide Gatten suchten sich gegenseitig irre zu leiten. Henriette

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_102.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2020)