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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

wollte sich nicht merken lassen, daß sie den wahren Zusammenhang wüßte, und Otto wollte ihr verbergen, was ihn drückte. Der arme Mann ahnte nicht, daß seine Frau mehr wußte, als er, denn Ernesti hatte ihm die bevorstehende Kassenrevision verschwiegen.

Seine trübe Stimmung war eine natürliche Folge aller Vorgänge der letzten Tage. Die Aeußerung, die er über den Präsidenten ausgesprochen, war wirklich seine volle Ueberzeugung.

„Was beginnen wir diesen Abend?“ fragte er mit erzwungener Heiterkeit.

„Ich muß Cäcilien auf eine Stunde besuchen, Otto.“

„Du willst bei diesem entsetzlichen Wetter ausgehen? Bleibe zu Hause, mein Kind, wir wollen zu Nacht essen und uns am Piano amüsiren.“

„Mein Gott,“ dachte Henriette in großer Bewegung, „er kennt die Noth seines Retters nicht! Würde er sonst daran denken, sich zu amüsiren?“

Sie beschloß, ebenfalls zu schweigen, aber kein Mittel zur Abhülfe unversucht zu lassen. Ihr zärtliches Bitten bestimmte den nachgiebigen Mann, eine Stunde zu bewilligen. Henriette steckte das Portefeuille Ludia’s zu sich und eilte Cäciliens Wohnung zu.

Der Regen goß noch in Strömen herab. Der Abend war sehr finster. An dem Gitter, das das Haus umschloß, stand ein Mann, der entweder schon die Glocke gezogen hatte oder unschlüssig war, sie zu ziehen. Er hatte sich fest in seinen Mantel gehüllt. Eine Ahnung sagte Henrietten, daß es der Rendant sei. Sie sah ihm in das Gesicht – es war der alte Ernesti, der die erleuchteten Fenster des Hauses anstarrte.

„Herr Rendant!“ rief sie unwillkürlich.

„Wer ruft?“ fragte erschreckt der Greis.

„O bleiben Sie, bleiben Sie! Ich kenne die Absicht, in der Sie hierher kommen.“

„Wer sind Sie?“

„Bergt’s Gattin, die Gattin des Mannes, für den Sie Ihre Ehre auf das Spiel gesetzt haben. Ich weiß Alles, würdiger Mann. Die Gefahr ist groß, die Ihnen droht, aber sie muß diesen Abend noch abgewendet werden.“

Henriette zog hastig die Glocke.

„Was wollen Sie bei Fräulein von Hoym?“ fragte mit zitternder Stimme der Rendant.

„Sie ist meine Freundin, sie wird helfen.“

„Nein, entdecken Sie ihr nichts! Ich beschwöre Sie, Madame, bewahren Sie das Geheimniß meines Vergehens!“

„Außer mir kennt Niemand –“

„Und Bergt?“

„Er weiß nichts.“

„Wer aber hat es Ihnen gesagt?“

„Her Rendant, fassen Sie sich; in einer Stunde bringe ich Ihnen Hülfe. Gehen Sie ruhig in Ihre Wohnung, Sie werden sich eine Krankheit zuziehen. Ich vermittele die Angelegenheit, so wahr ich nie vergessen werde, daß Sie unser großmüthiger Wohlthäter sind.“

In dem Hofe ließen sich Schritte vernehmen. Der Rendant ergriff zitternd die Hand der jungen Frau.

„Madame,“ flüsterte er mit tonloser Stimme, „wenn Sie von der Bewohnerin dieses Hauses Hülfe fordern, so fordern Sie nicht in meinem Namen!“

„Das verspreche ich Ihnen!“

„Die Rathlosigkeit trieb mich her; aber ein Etwas, das ich nicht nennen kann, hielt die Hand von dem Glockenzuge zurück.“

„Gehen Sie, gehen Sie, lieber Herr. In einer Stunde bin ich bei Ihnen!“

Der Rendant verschwand. Henriette trat durch die Thür, die ein Diener geöffnet hatte, in den Hof und in das Haus. Sie ließ sich anmelden. Cäcilie eilte ihr bis in das Vorzimmer entgegen. Nach einer herzlichen Umarmung traten beide Freundinnen in das Boudoir.

„Sind Sie allein, Cäcilie?“

„Ganz allein. Wer sollte bei mir sein?“

„Verzeihung, meine beste Freundin, ich bin so aufgeregt, daß ich nicht weiß, was ich spreche.“

„Was ist geschehen? Hat der Präsident seinen Groll ausgelassen?“

„Er will meinen Mann vernichten, und – den wackern Ernesti!“

„Den greisen Rendanten?“ rief Cäcilie lachend. „O meine arme Freundin, und deshalb verlieren Sie den Kopf? Vergessen Sie denn, daß ich Ihnen Schutz versprochen habe?“

Henriette erzählte, was vorgegangen, verschwieg auch das Begegnen des Rendanten nicht, und bat die Freundin um Verschwiegenheit. Cäcilie war ernst geworden.

„Morgenfrüh soll die Kassenrevision stattfinden?“ fragte sie.

„Um acht Uhr.“

„Die Lage ist sehr bedenklich.“

„Es fehlen dreitausend Thaler.“

„Und ich besitze kaum dreihundert!“ flüsterte Cäcilie.

Henriette erbleichte; sie hatte sich eröffnet, ohne ihren Zweck zu erreichen.

„Der Präsident hat einen günstigen Zeitpunkt gewählt,“ fuhr Cäcilie fort, „denn ich kann nicht helfen wie ich möchte – der Fürst ist diesen Morgen nach L. zur Jagd gereist, und wird in fünf bis sechs Tagen erst zurückkehren.“

„Dann ist es zu spät, der arme, brave Rendant wird kompromittirt sein!“

Henriette saß weinend in der einen Ecke des Sopha’s, Cäcilie saß sinnend in der andern. Eine peinliche Pause trat ein.

„O mein Gott,“ flüsterte Cäcilie, „warum mußte der Fürst auch gerade heute verreisen! Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll, um Geld zu erhalten. Henriette,“ rief sie plötzlich aus, „nehmen Sie meine Diamanten!“

Sie sprang zu einem Sekretair, und holte mehrere Etuis hervor, die sie auf den Tisch warf.

„Ich gebe Alles hin,“ rief sie aus, „um Ihre Verlegenheit zu beseitigen. Sobald der Fürst zurückkehrt, steht mir mehr zu Gebote, als dreitausend Thaler. Nehmen Sie, man leihet Ihnen auf diese Schmucksachen mehr, als Sie bedürfen.“

„Großmüthige Freundin!“ rief Henriette gerührt. „Auf diesem Wege gelangen wir nicht zum Ziele. Wem sollte ich Ihre werthvollen Diamanten wohl anvertrauen? Es würde dieser Schritt, wenn ich ihn wirklich versuchte, einen nicht minder großen Eclat hervorbringen, als die Kassenrevision selbst.“

„Es ist wahr!“ flüsterte Cäcilie betroffen. „Und wer in dieser kleinen Stadt hat eine solche Summe stets bereit liegen? Wäre doch der Fürst nicht verreist!“ rief sie aus, indem sie zornig mit dem Füßchen auf den Boden stampfte. „Das trifft sich Alles so schlecht, als ob ein böser Stern über uns waltete. Der Präsident muß seine verwünschte Revision um fünf bis sechs Tage aufschieben!“

„Ach, wenn das wäre!“ seufzte Henriette.

„Der Mann ist auch mein Feind, da er die Ehre des Vaters meines Albert antasten will. Das darf nicht geschehen! O, rathen Sie doch, Henriette! Begreifen Sie denn nicht, daß ich eben so viel zu fürchten habe, als Sie? Albert ist Offizier – wie werden ihn die Kameraden anblicken, wenn man sich in der Stadt erzählte: der alte Rendant hat die fürstliche Kasse angegriffen, um – –“

„Um den Sekretair Bergt vom Schuldgefängnisse zu retten!“ fuhr Henriette fort. „O, sprechen Sie es nur aus, es ist ja die Wahrheit!“

Die beiden Freundinnen erschöpften sich in der Aufsuchung eines wirksamen Mittels – aber ihr Bemühen blieb vergebens.

Henriette weinte vor Schmerz, Cäcilie vor Zorn. Die Pendule schlug sieben. Henriette zuckte zusammen, denn sie erinnerte sich, daß die Zeit verfloß, und daß der Rendant ihrer wartete. Sollte sie ihn aufsuchen müssen, ohne Hülfe zu bringen?

„Mir bleibt Nichts übrig,“ sagte sie in kalter Entschlossenheit – „ich selbst muß zu dem Präsidenten gehen.“

„Sie, Henriette?“

„Ich allein trage die Schuld an Allem, was morgenfrüh geschehen kann. Es ist meine Pflicht, daß ich vorzubeugen suche. Bleibt mein Bemühen erfolglos, nun so mag Gott helfen!“

Cäcilie versuchte sie zurückzuhalten – es war vergebens. Der Regen hatte nachgelassen, aber ein schwerer Nebel lag über der Stadt, als die arme Henriette durch die Straßen eilte. Eine Viertelstunde später zog sie die Glocke an der Thür des Präsidenten.



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