Seite:Die Gartenlaube (1857) 127.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

und die täglich überhand nehmende Verkommenheit ihres Gewerbs- und Nahrungsstandes drängt sich in erschreckender Weise auf. Aber eben so unbestreitbar, wie der Nothstand, steht auf der andern Seite auch die Unzulänglichkeit der bisher dagegen ergriffenen Maßregeln fest, was Niemandem Wunder nehmen wird, der das Getriebe einigermaßen durchschaut. Eben hier tritt das oben Gesagte ein, daß die Patienten den unerläßlichen Bedingungen der Heilung sich nicht fügen mögen, weil sie am wenigsten die erforderliche Besonnenheit besitzen, über das Nächste, was sie unmittelbar bedrückt, hinweg die entfernteren Beziehungen und Quellen der Zustände in das Auge zu fassen. Die neuere Zeit, mit ihren ungeheuren gewerblichen Hülfsmitteln ist an ihnen vorübergeschritten, und anstatt ihr zu folgen, sich die Vortheile der gegenwärtigen Gewerbskunst zu eigen zu machen, sind sie auf ihrem alten Standpunkte stehen geblieben, und rufen der unaufhaltsam Vordringenden umsonst ihr schwaches Halt zu, das im Gebrause der ungeheuren Triebräder der heutigen Industrie ungehört verklingt. Aber trotz aller trauriger Erfahrungen beharren sie dabei und fordern, daß der Lauf der Dinge sich verkehre, damit sie im alten Schlendrian ihr Wesen nach wie vor treiben mögen.

Folgen wir ihnen daher zunächst in den Kreis ihrer eigenen Vorstellungen und sehen zu, wohin die von ihnen vorgeschlagenen Wege zur Abstellung des Uebels am letzten Ende führen. Die ganze Sache ist, wenn man auf die Leute hört, überaus einfach und macht sich eigentlich von selbst. Ein paar gewerbepolizeiliche Maßregeln, einige unschuldige Einschränkungen und Verbote der Staatsgewalt, und ihnen ist geholfen. Daß dies nicht längst geschehen, ist daher unverantwortlich. So viel steht bei ihnen ein für allemal fest: daß sie ihre Produkte schwerer und – mindestens im Verhältniß zum Preise der Rohstoffe – nur zu niedrigern Preisen abzusetzen vermögen, als dies ihren Vorfahren vor 30 bis 40 Jahren möglich war. Von dieser Abnahme der Kundschaft und dem Sinken der Preise, in welchen beiden Erscheinungen sich die ganze Frage für sie erschöpft, finden sie nun den Grund darin:

einmal, daß die Zahl der Handwerker unverhältnißmäßig zugenommen habe, und sodann, daß die von ihnen gefertigten Waaren auch von Andern, namentlich den Fabrikanten, geliefert und auf den Markt gebracht wurden, welche meist billigere Preise als sie zu stellen im Stande seien.

So gelangen sie ganz folgerichtig zu dem Schlusse: daß wenn man die Zahl der Handwerker beschränkt, und allen Nichthandwerkern verbietet, sich mit der Verfertigung und dem Verlauf von Handwerkerwaaren zu befassen, Kundschaft und Preise sich zu ihren Gunsten heben müßten. Und das, meinen sie, läßt sich ganz gut machen, das sind keine leeren Hirngespinnste, deren so war es ja früher, eine solche goldene Zeit hat es ja für sie gegeben, die Zeit des Zunftzwangs und was damit zusammenhing. Erst nachdem man diese heilsame Einrichtung verlassen hat, ist die Noth in ihre Reihen eingebrochen, und nur vermittelst der Rückkehr dazu ist die Regeneration des Handwerks möglich. Deshalb frisch eingelenkt, ohne Zaudern, und ihnen ist geholfen!

Daß ein so scheinbares Räsonnement allgemein Eingang in die Kreise der Handwerker findet, ist nicht zu verwundern. Sie sind der leidende Theil, und da geht es ihnen, wie den meisten Patienten, welche die äußern Anzeichen (Symptome) des Uebels für das Uebel selbst nehmen, und auf Mittel zu deren Abstellung dringen, ohne sich um die weitern Folgen solchen einseitigen Eingreifens für den ganzen Organismus zu kümmern. Patient hat Kopfschmerz, darüber läßt sich nicht mit ihm streiten, und der Kopfschmerz kommt vom Andrang des Blutes nach dem Kopfe. Also Aderlaß, und das Uebel ist beseitigt. Gerade so unsere Handwerker. Absatz und Preise ihrer Produkte sind gedrückt wegen der großen Konkurrenz unter ihnen selbst und besonders der Fabrikanten. Daher fort mit den überflüssigen Handwerkern, fort mit den Fabrikanten und deren Waaren von ihrem Markt, dann muß das Publikum wohl zu ihnen kommen und kaufen.

Zunächst drängen sich gegen ein solches Verfahren schon auf den ersten flüchtigen Blick ganz im Allgemeinen sehr erhebliche Bedenken auf. Es mag sein, daß sich die Vorfahren der Handwerker vor einer Reihe von Jahren bei der vollen Geltung der Zunftverfassung wohl befunden haben. Daraus läßt sich aber vernünftiger Weise weiter Nichts folgern, als daß diese Verfassung den damaligen Verhältnissen entsprach, daß sie für jene Zeit paßte. Aber muß dies deshalb auch in Bezug auf die Gegenwart der Fall sein? Vermag man mit jener alten Form zugleich, mit jenen Einrichtungen einer vergangenen Zeit auch diese Zeit selbst zurückzurufen nebst dem ganzen damaligen Zuschnitt des bürgerlichen und häuslichen Lebens, den mäßigen Ansprüchen des Publikums, den beschränkten Hülfsmitteln der Produktion und des Verkehrs? Das wäre gerade so, als ob sich Jemand einbildete, man könnte einen erwachsenen Menschen dadurch, daß man ihm seine abgelegten Kinderkleider aufzwängte, wieder zum Kinde machen. Sodann kann man doch das Handwerk nicht so für sich allein, als ein Institut auffassen, welches weiter keinen Zweck hätte, als einer Anzahl von Menschen ihr Brot zu geben. Vielmehr bildet es immer nur einen Theil derjenigen Bestrebungen und Thätigkeiten, welche die Bestimmung haben, die menschliche Gesellschaft mit den zur Existenz nöthigen, nützlichen und angenehmen Gegenständen zu versehen, mit einem Worte der Industrie. In fast sämmtlichen Gewerbszweigen hat man aber seit 40 bis 50 Jahren ungeheure Fortschritte und Entdeckungen gemacht, welche die Produktion leichter und billiger machen. Natürlich bringt dies neue Betriebsreformen der mannigfachsten Art hervor, wie die Verschmelzung früher getrennter Gewerbe oder umgekehrt, welche sich in die alten, beengenden Zunfteinrichtungen nicht schicken, sondern den jemaligen Bedürfnissen gemäß sich zu gestalten die Freiheit haben müssen, sollen sie nicht im Keime verkümmern.

Doch greifen wir der weitern Ausführung jener allgemeinen Bedenken, mit der wir es an einer andern Stelle zu thun bekommen, nicht vor, und kehren zunächst auf den Standpunkt der Handwerker selbst zurück.

Also: „Verminderung der Zahl der Handwerker“ und „Verbot der Fertigung von Handwerkerwaaren, durch andere, als zünftige Meister.“ Diese beiden Maßregeln müssen Hand in Hand zusammengehen, wenn der Zweck erreicht werden soll, darüber sind sich die Handwerker klar. Denn was hülfe ihnen die Verminderung ihrer Zahl, wenn ihre Kunden die Waaren von anders woher z. B. aus den Fabriken erhalten können? Und eben so wie der Gesammtheit der Handwerker gegenüber alle Nichthandwerker von der Konkurrenz mit ihnen ausgeschlossen werden müssen, stehen sich wiederum die einzelnen Zünfte einander entgegen, so daß bestimmte Waaren stets das Monopol einer bestimmten Zunft sein müssen. Andernfalls wäre die ganze Veranstaltung wiederum wirkungslos. Dürften z. B. die Schmiede Schlosserarbeit, die Zimmerleute Tischlerarbeit, die Riemer Beutlerarbeit machen, so nützte natürlich den Schlossern, Tischlern, Beutlern ihre Beschränkung auf eine mindere Zahl Nichts, weil ihre Kunden dann stets im Stande wären, sie zu umgehen. Die strenge Abgrenzung der Arbeitsgebiete unter den einzelnen Zünften steht daher im nothwendigen Zusammenhang mit dem ganzen System, vermöge deren jeder Meister nur die seiner Zunft zugesicherten Artikel fertigen darf. Dennoch ist die Sache auch damit noch nicht abgethan. Denn sind auch alle diese Maßregeln in das Werk gesetzt, die Zahl der Handwerker an jedem Orte beschränkt, alle Nichthandwerker von der Konkurrenz ausgeschlossen, die Arbeitsgebiete der Zünfte genau bestimmt: immer kann das Publikum alles dies umgehen, wenn es sein Bedürfniß an Handwerkerwaaren von auswärts bezieht. Also: Sperrung nach Außen, Verbot fremder Handwerkerwaaren, möglichste Abschließung und Beschränkung der einzelnen Orte mit ihrem Bedürfniß auf die eigne Produktion; insbesondere Verbot des Handelns der Kaufleute mit Handwerkerwaaren, weil gerade durch die Vermittlung dieses Handels der Ankauf auswärts produzirter Artikel dem Publikum am bequemsten dargeboten wird.

Dies sind so aus dem Gröbsten die Glieder der Kette, wodurch die alte Blüthe und Geltung des Handwerks wiederum befestigt werden soll, und wir wollen dabei gleich einem Einwurfe begegnen, der uns aus den eignen Reihen der Handwerker etwa gemacht werden möchte. „Wir wollen ja gar nicht so weit mit unsern Einrichtungen in der Zeit zurück“ – so spricht mancher wackere Mann, der selbst die Bedenken gegen die geforderten Maßregeln nicht ganz abzuweisen vermag. „Wir wollen die eingeschlichenen Mißbräuche im Zunftwesen gern aufgeben, und den Fortschritten der Gegenwart auch Rechnung tragen, wenn nur der unbeschränkten Konkurrenz, der gewerblichen Anarchie (das sind so die Hauptschlagworte) gesteuert, und uns die Möglichkeit des Bestehens gesichert wird u. s. w.“ – Allerdings kommt auch der hartnäckigste Anhänger des Alten, so bald an

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_127.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)