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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

schlafend halten mußte, und daß ein anderes lebendes Wesen während der Fahrt gar nicht zu ihm einsteigen konnte. Eben so wenig konnte überdies der Fremde neben ihm aussteigen, bevor der Zug auf der nächsten Station hielt; bei dem Halten auf einer Station entsteht aber sofort so viel Veränderung und Geräusch, daß auch der festeste Schlaf dadurch unterbrochen werden mußte; dann war auch für den schlimmsten Fall der Verlust der Brieftasche das Erste, was bemerkt werden mußte, und zwar zu einer Zeit, wo der Dieb noch keinen Schritt weit sich hatte entfernen können.

Hertel war eingeschlafen, fest eingeschlafen; er konnte, als er erwachte, sich keiner Störung, keiner Unterbrechung, nicht einmal der geringsten Unruhe erinnern, keines Gefühls wie auch nur von irgend einer noch so leisen Berührung. Er erwachte, wovon, wußte er nicht; aber er hörte in der Nähe Menschenstimmen durcheinander sprechen; er fühlte, daß der Zug langsamer ging, etwa als wenn er gleich darauf anhalten werde. Die erste Bewegung des Reisenden war, aus dem Coupéfenster zu blicken, an dem er saß. Der Zug war auf dem Stationshofe angelangt, er war im Begriff zu halten; an dem Haltplatze standen viele Leute, die ihn erwarteten, namentlich eine Menge Rekruten, die weiter befördert werden sollten; sie sprachen vielfach und laut mit einander. Der Reisende wandte sich in das Innere des Coupés zurück und in diesem Augenblicke merkte er erst, daß er allein war. Der Fremde, der in R. zu ihm eingestiegen, war mit Sack und Pack verschwunden.

Hertel erbleichte. Er griff nach seiner Brust, nach seiner Brieftasche. Sie war fort. Er fühlte sein Herz nicht mehr schlagen, und griff noch einmal nach der Stelle, wo die Brieftasche, wo die zwanzigtausend Thaler sein mußten. Sein Rock stand offen, alle Knöpfe waren aufgeknöpft. Unter dem offenen Rocke fühlte er nur eine leere Stelle und ein paar lose Fäden, mit denen die Brieftasche angenähet gewesen war. Der Fremde war fort; der Zug bewegte sich noch und konnte während der Zeit, daß Hertel geschlafen hatte, nicht einmal auf eine Secunde angehalten haben. Der Unglückliche fühlte sein Herz wieder schlagen; das Blut drang ihm gewaltsam zum Kopfe; aber eines klaren Gedankens war er nicht mächtig.

Der Zug hielt; die Schaffner und Wärter sprangen an die Schläge der Coupés, rissen sie auf und riefen ihr: „Station K., fünfzehn Minuten Aufenthalt!“ In den jungen Kaufmann kehrte das Bewußtsein zurück.

„Wärter,“ rief er dem Beamten zu, der seinen Schlag öffnete, „hat der Zug unterwegs seit R. angehalten?“

„Nein, mein Herr. Aber was ist Ihnen? Sie sehen ja aus, wie eine Leiche.“

„Der Zug hat nicht gehalten, Wärter? Sie waren immer dabei?“

„Immer, mein Herr. Sie müssen sich erinnern. Ich forderte Ihnen in R. das Billet ab; ich ließ dort den zweiten Passagier zu Ihnen ein.“

„Dieser zweite Passagier, Wärter –“

„Er ist nicht mehr da. – Teufel – er kann noch nicht ausgestiegen sein. Der Zug hält ja erst in diesem Augenblicke. Wo ist er geblieben?“

„Ich bin verloren,“ rief Hertel, dem jetzt kein Zweifel mehr darüber sein konnte, daß die zwanzigtausend Thaler in der That verloren waren. Er erzählte, was ihm begegnet war.

Der Wärter hatte den Zug von R. nach K. begleitet, speciell auch den Waggon beaufsichtigt, in welchem Hertel mit dem verschwundenen Fremden gefahren war. Er hatte seinen Sitz oben auf dem Waggon gehabt, fast unmittelbar über dem Coupé Hertel’s. Er hatte auf dem ganzen Wege in dem Coupé nichts gehört; er hatte Niemanden aus demselben aussteigen, Niemanden von dem Zuge sich entfernen sehen; er hätte es sehen müssen, oben auf seinem hohen Sitze, auf welchem er den ganzen Zug übersehen konnte. Der Zug hatte keine Secunde gehalten; schon darum war ein Aussteigen kaum denkbar gewesen. Andererseits war Hertel noch vor dem Anhalten des Zuges in K. erwacht, und in dem Momente des Anhaltens, noch bevor der Zug völlig still stand, war der Wärter schon zum Aufschließen an dem Schlosse gewesen und hatte die Abwesenheit des Fremden bemerkt.

Wie, wo und wann war der Fremde fortgekommen? Das war das unauflösliche Räthsel. Andere Wärter und Beamte des Zuges kamen herbei. Niemand vermochte es zu lösen. Alle bestätigten: der Zug hatte seit R. keine Secunde angehalten; kein Mensch war gesehen worden, der von dem Zuge sich entfernt hätte. Mehrere hatten dagegen den Fremden mit dem großen schwarzen Barte und in dem grauen Staubmantel in das Coupé zu Hertel einsteigen sehen. Von den Reisenden wußte gleichfalls Keiner eine Auskunft zu ertheilen. Von dem Inspector des Bahnhofs zu K. wurden sofort sämmtliche Waggons einer Recherche unterworfen, unter Zuziehung der auf dem Bahnhöfe fungirenden Gensd’armen wurde eine genaue Musterung aller Reisenden des Zuges und aller anderen, auf dem Bahnhofe anzutreffenden Personen veranstaltet; es war nichts zu ermitteln, was über das Verschwinden des Diebes hätte Aufklärung geben oder auf seine Spur hätte leiten können. Den Dieb selbst kannte Niemand. Auch Hertel hatte ihn nie vorher gesehen.

Hertel hatte der Polizei, diese dem Staatsanwalte Anzeige gemacht. Er war sofort vernommen worden, es war vom Gerichte Alles geschehen, um den Thatbestand des verübten Verbrechens festzustellen; die Ortsbehörden hatten auch noch an demselben Tage Anstalten zur weiteren Verfolgung des Thäters getroffen. Indeß waren alle Schritte vergeblich gewesen.

Das Alles erzählte mir der junge Mann in einer einfachen, natürlichen, überzeugenden Weise. Keine meiner Kreuz- und Querfragen hatte eine Lücke, einen Widerspruch hervorbringen können. Ich konnte keinen Zweifel mehr haben, daß ihn wirklich das Unglück, in der angegebenen Art bestohlen zu sein, betroffen habe, wie unerklärlich auch das Verschwinden des Diebes war; ich konnte aber auch nicht zweifeln, daß er die Beute eines eben so verwegenen, als gewandten Spitzbuben geworden war.

Ich hatte nur geringe Hoffnung für Wiederherbeischaffung des Gestohlenen, für Rettung des armen B.; und das war mir zunächst die Hauptsache. Mit um so größerem Eifer glaubte ich meine Maßregeln ergreifen zu müssen.

Ich begab mich zuerst zu dem Polizeibeamten und dem Gerichtsassessor des Orts. Beide waren recht tüchtige Beamte, aber auch nichts mehr. Bei Vorzeigung meines Ministerialbefehls fand ich sehr zuvorkommende Aufnahme bei ihnen. Ich erkundigte mich näher nach den Schritten, die sie gethan hatten. Es war Alles geschehen, was gewöhnlicher Weise für den Fall hatte geschehen können. Durch Vernehmung Hertel’s war der verübte Diebstahl festgestellt; eine gerichtliche Besichtigung seiner Bekleidung hatte noch die losen Fäden an der innern Seite seines Rockes vorgefunden, mit denen die Brieftasche dort festgenäht war; sie waren, dem Anscheine nach, mit einem Messer oder einem andern scharfen Instrumente durchschnitten. Hertel hatte auch den speciellen Betrag der Kassenscheine und der Banknoten angegeben, von letzteren sogar einzelne Nummern; sein Geschäftsnotizbuch hatte seine Angaben bestätigt. Diese stimmten auch mit den Notizen, die B. mir in der Eile noch mitgegeben hatte. Durch Vernehmung der Eisenbahnbeamten war festgestellt, daß der von Hertel beschriebene Mensch in R. zu ihm in das Coupé gestiegen und bei der Ankunft des Zuges in K. nicht mehr da gewesen, auch nirgends anderswo ausfindig gemacht worden sei; daß ferner der Zug unterwegs kein einziges Mal angehalten oder langsamer als gewöhnlich gefahren habe; endlich, daß nach der übereinstimmenden Aussage aller Beamten, welche den Zug begleitet, während der Fahrt Niemand den Zug verlassen habe, oder ihn nur habe verlassen können, indem, wenn dies wirklich geschehen sei, nothwendig wenigstens Einer der Beamten es habe gewahren müssen. Das Verschwinden des Diebes war also auch hiernach unerklärlich geblieben. Zum Ueberfluß war sofort eine Locomotive von K. nach R. zurückgeschickt, um auf der ganzen Tour genau nachsuchen zu lassen, ob der Verschwundene nicht etwa bei einem – allerdings jedenfalls halsbrechenden Versuche des Entspringend aus dem Coupé unter den Zug gekommen sei. Auch das hatte zu keinem Resultate geführt; man hatte auf der Bahn weder einen Leichnam, noch eine Blut- oder andere Spur gefunden.

Gleichwohl hatten die Behörden mit Recht die sämmtlichen am Ort und in der Gegend stationirten Gensd’armen und Polizeibeamten in allen Richtungen nach dem Entflohenen ausgesandt, sowie Steckbriefe hinter ihm erlassen, die namentlich sofort durch den Telegraphen auf alle Eisenbahnstationen befördert waren. Gensd’armen und Polizeibeamte waren bereits unverrichteter Sache zurückgekehrt. Das Resultat der übrigen Schritte wurde noch erwartet; ohne große Hoffnung. Auch ich hatte sie nicht.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_187.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)