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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)


Eins hatte man allerdings übersehen: eine öffentliche Bekanntmachung der Nummern der entwendeten Banknoten, sowie der Beschaffenheit der Brieftasche Hertel’s. Ich veranlaßte, daß sie sofort erfolgte und zwar durch den Telegraphen an alle Bank- und Börsenorte Deutschlands. Ich versprach mir freilich, nach so manchen Erfahrungen, auch davon keinen Erfolg.

Im Uebrigen war von den Behörden des Städtchens mit Geschick und Umsicht verfahren. Und dennoch konnte und mußte noch Manches vorgenommen werden, um einerseits dem Verbrechen näher auf den Grund, und andererseits denn Verschwundenen auf die Spur zu kommen. Ich leitete es ein.

Zuvörderst nach der Seite der näheren Feststellung des Verbrechens. Ich hatte für meine Person keinen Zweifel gegen die Angaben des Bestohlenen. Aber als Beamter, zugleich als Freund B.’s, hielt ich es für meine Pflicht, die Wahrheit so weit als möglich zu ermitteln. Ich ersuchte den Richter des Orts, den Bestohlenen auf der Stelle zu sich vorladen zu lassen, um ihn noch über einige Punkte, die ich als möglicherweise erheblich darstellte, zu vernehmen.

Nachdem Hertel am Gerichte erschienen war, kehrte ich in den Gasthof zurück, ließ mir unter dem ersten besten Vorwande das Zimmer Hertel’s aufschließen, und durchsuchte hier seine Sachen.

Zum Teufel, Mensch, wenn Du mich hier verwundert ansiehst und gar das Gesicht der sittlichen Entrüstung aufsetzest, wofür gibt es denn eine Polizei?

Also – ich durchsuchte Alles, Schrank, Kommode, Ofen, Bett, die Ritzen zwischen den Dielen. Ich fand nichts, keine Brieftasche, keinen Cassenschein, keine Banknote. Der Reisesack des jungen Mannes stand offen im Zimmer; ich nahm seinen Inhalt Stück für Stück heraus; ich nahm jedes Stück auseinander. Vergeblich. Der Reisekoffer war noch da. Er war verschlossen. Der Schlüssel war nicht da. Aber was wäre die Welt ohne eine gute Polizei? Und wie könnte es eine gute Polizei geben ohne Nachschlüssel? Ich schloß den Koffer auf, durchsuchte ihn, wie alles Andere, noch sorgfältiger, noch genauer. Ich fand nichts, weder eine unmittelbare, noch eine mittelbare Spur, die auf den Verdacht hätte hinleiten können, daß Hertel den Diebstahl vorgespiegelt, daß er das Geld seinem Herrn unterschlagen habe. Auch seine Correspondenz, die ich genau durchsah, ergab nichts. Es waren nur Briefe seines Principals da, die blos Geschäftliches betrafen, und außerdem nur ein Brief seiner Mutter, die ihm zu seinem Geburtstage Glück gewünscht, ihm aber sonst nichts von Interesse geschrieben hatte. Der Ton des Briefes zeugte von einem schönen Verhältnisse zwischen Mutter und Sohn.

Ich beendete meine Untersuchung mit der Beruhigung – zum Teufel, wieder dieser verwunderte Blick! Ich sollte wohl die Unruhe der Scham oder gar heftige Gewissensbisse verspüren! Und im Ernst, der Polizeibeamte muß nun einmal über Manches sich hinwegsetzen, und er darf es, ja er muß es, wenn es zu einem guten Zwecke geschieht, und die Mittel nicht an sich verwerflich sind. Eine Durchsuchung fremder Papiere aber machen unter ähnlichen Umständen manche Gesetze und, wo nicht geradezu die Gesetze, manche beamtliche Instructionen sogar zur Pflicht. Ich schloß meine Untersuchung mit der Beruhigung der von Neuem bestärkten Ueberzeugung, daß Hertel wirklich bestohlen sei, und daß ich es mit einem sehr ordentlichen, seinem Herrn treu ergebenen redlichen jungen Mann zu thun habe.

Desto eifriger und sorgfältiger hatte ich nun die Spuren des frechen Diebes zu ermitteln. In K. war hierfür nichts mehr zu thun. Gericht und Polizei hatten vernommen, was zu vernehmen war. Aber in R., wo der Dieb eingestiegen, mußte eine Spur von ihm zu ermitteln sein. Irgend Einer mußte ihn dort gesehen haben. Vielleicht war er gar dort bekannt. Wenn das nicht, so hatte er dort wahrscheinlich in einem Wirthshause übernachtet.

Die leiseste Spur von ihm, einmal gefunden, mußte weitere Spuren ergeben. Ich fuhr mit dem nächsten Zuge nach R., Hertel mußte mich begleiten. Ich erkundigte mich zuerst auf dem Bahnhofe nach dem Fremden; Hertel beschrieb ihn auf das Genaueste.

Nur der Billetverkäufer und ein Bahnwärter hatten ihn gesehen, und nur erst unmittelbar vor dem Abgange des Zuges. Sie hatten ihn nicht gekannt, nicht einmal bemerkt, woher er gekommen war; sie konnten sich nicht erinnern, ihn jemals vorher gesehen zu haben. Ich begab mich in die Stadt; ich fragte mit Hülfe der Polizei in allen Gasthöfen und Krügen nach, von dem ersten und besten bis zu dem letzten und schlechtesten. Keine Spur. Nachfragen in den Krügen und Wirthschaften der Nachbarschaft blieben eben so erfolglos. Niemand kannte den Fremden, Niemand hatte ihn gesehen, keinem Gensd’armen, keinem Polizeibeamten war sein Signalement bekannt. Uebrigens war er erst in R. auf die Eisenbahn gekommen; die Beamten, die den Zug nach R. gefahren hatten, wußten nichts von ihm. Allein auch mit keiner Post war er in R. angekommen, und kein Lohnkutscher hatte ihn gefahren.

Das war eine verzweifelte Lage für einen Polizeibeamten, der etwas ermitteln wollte. Ich fuhr gleichwohl noch eine Station weiter zurück auf der Eisenbahn. Auch dort waren jedoch alle Nachforschungen vergeblich. Von dem Diebe keine Spur. Er war in R. plötzlich erschienen, Niemand wußte, woher. Er war von K. plötzlich verschwunden, Niemand wußte, wohin.

(Fortsetzung folgt.)



Gräfe und die Augenklinik.

Wenn man in Berlin in den Mittagsstunden zwischen ein und drei Uhr längs der Louisen-, Neuen Wilhelm- und Karlsstraße bis in die Nähe des Unterbaums wandert, so begegnet man täglich zu derselben Zeit verschiedenen Personen männlichen und weiblichen Geschlechts, welche mehr oder minder durch ihre Haltung, oder durch andere äußere Kennzeichen verrathen, daß das edelste Organ ihres Körpers erkrankt ist, daß der Quell des Lichts, ihr Auge, leidet. Die Meisten tragen charakteristisch blaue Brillen und der Berliner Volkswitz hat den Patienten den Namen „Gräfinnen“ gegeben, weil sie dies auf Anordnung des berühmten Augenarztes Gräfe thun. Wir schließen uns der immer größer werdenden Menge von Kranken an, und gelangen mit ihnen zu gleicher Zeit vor einem großen, vierstöckigen Hause in der Karlsstraße an, welches über der Thür die einfache Aufschrift „Augenklinik“ trägt. Das ziemlich große Vorzimmer ist mit Hilfesuchenden so gefüllt, daß Viele noch auf dem Hausflur Platz suchen müssen. Wir werfen einen flüchtigen Blick auf die Anwesenden, welche größtentheils dem unteren Bürgerstande und der arbeitenden Classe angehören. Hier begegnen wir dem kräftigen Maschinenbauer, dem bei seinem schweren Werke ein Metallsplitter in das Auge gedrungen ist, dort schützt ein junges Mädchen lichtscheu ihr Auge vor den blendenden Strahlen der Sonne. Jene arme Frau begleitet ihren Mann, den Ernährer einer Familie, der in Gefahr steht, zu erblinden; eine zärtliche Mutter beruhigt ihr weinendes Kind, dessen starre, unbewegliche Pupille ein tieferes Leiden des Sehvermögens verräth, und ihr mütterliches Herz mit schwerem Kummer erfüllt. In einem größeren Zimmer erblicken wir mehrere junge Männer mit diesen Patienten beschäftigt, ihre Klagen anhörend und ihre Meldungen entgegen nehmend. Mitten unter ihnen sitzt ein schlanker Mann von ungefähr neunundzwanzig Jahren. Sein edles, geistreiches Gesicht ist von langen dunklen Locken umgeben, die fast bis auf die Schultern reichen, ein voller Bart zieht sich um Wangen und Kinn. Vor ihm steht ein Tisch, auf welchem sich mehrere Gläser mit medicinischen Flüssigkeiten, einige Pinsel und verschiedene augenärztliche Instrumente befinden. Jetzt winkt er und ein Patient setzt sich vor ihm auf den Stuhl, der junge Arzt sieht ihn mit prüfenden Blicken an, richtet einige kurze, aber bestimmte Fragen an den Leidenden, taucht den Pinsel ein, oder greift nach den vor ihm liegenden Instrumenten, und entfernt mit Blitzeschnelligkeit einen fremden Körper, oder träufelt einen kräftigen Heilstoff in das kranke Auge. Im nächsten Augenblick schon sitzt ein anderer Patient auf dem Stuhle, und dasselbe Schauspiel wiederholt sich im Laufe der wenigen Stunden mehr als hundertmal. Dazwischen wendet sich wohl auch der junge Arzt an einige ältere Herren, und spricht einige kurze Worte über den vorliegenden Krankheitsfall.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_188.jpg&oldid=- (Version vom 4.4.2022)