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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Ein solcher Unglücklicher steht jetzt vor dem jungen Arzte, und erwartet von seiner Hand das goldene Licht oder ewige, hoffnungslose Nacht. Aus einem zierlichen Kästchen zieht der Operateur ein kleines Messer und eine Nadel hervor. Seine Assistenten halten das Haupt des Kranken, der auf einem Lehnstuhl sitzt. Mit sicherer Hand stößt der Arzt sein Messer in den Augapfel, ein kurzer Schrei ertönt von den Lippen des Blinden, einige Blutstropfen rieseln über seine Wimpern und schon im nächsten Moment sieht er froh schaudernd das Licht des Tages und die Gesichter der Umstehenden. Freudig zitternd dankt er seinem Retter; doch schnell wird die schützende Binde über sein Auge gelegt, da das eben operirte Organ der größten Schonung bedarf, und noch nicht die Helle des Tages ertragen kann. – Jetzt nähert sich ein reizendes Kind an der Hand des Vaters; aber das anmuthige Gesicht wird durch häßliches „Schielen“ entstellt. Zitternd läßt sie sich auf den Stuhl nieder, während der besorgte Vater beruhigend hinter ihr steht. Ein einziger Schnitt lost die Spannung der Muskeln und hebt diese Verunstaltung des lieblichen Mädchens. – Dort der alte Mann ist ein merkwürdiger Patient; auch sein Sehvermögen ist gestört und er steht in Gefahr, zu erblinden. Der Grund seines Leidens war bisher ein Räthsel geblieben, und erst der Augenspiegel hat darüber die nöthige Aufklärung gegeben. Betrachtet man mit demselben und einer Lupe das somit zugängliche Innere des Auges, so entdeckt man in der Tiefe desselben einen weißen, herumschwimmenden Körper in Gestalt einer Blase. Deutlich sieht man einen Kopf, der sich hin und her bewegt. In der That, wir haben es mit einem lebenden Wesen, einem Wurm zu thun, der sich in das edle Organ eingenistet hat und dasselbe zu vernichten droht. Durch eine kleine Oeffnung wird das Thier mittelst einer Nadel herausgezogen, und das Auge so gerettet. – Noch manche interessante Operation findet im Laufe des Vormittags statt, dann wendet sich der Arzt an die Genesenden. Für jeden hat er ein freundliches Wort, einen theilnehmenden Blick. Sie drängen sich um ihn, sie danken ihm bald laut, bald stumm, aber um so inniger; der Familienvater, dem er das Augenlicht wiedergegeben, und den er somit zur neuen Arbeit fähig gemacht hat; der Handwerker, der Gelehrte, die Mutter, welche ihre Kinder wieder sehen kann; das junge Mädchen, das mit frischer Lust der erhellten Zukunft entgegensieht; der Jüngling, den er seinen Studien wiedergegeben hat, und das zarte Kind; sie Alle danken ihm das größte Glück des Lebens, das Licht der Sonne, den Anblick der Natur, ihrer Lieben, ihrer Freunde.

Dieser glückliche Arzt nun, der kühne Operateur, der geniale Lehrer in einem Alter, wo Andere meist noch Schüler sind, ist, wie der Leser bereits errathen haben wird, kein Anderer, als der berühmte Augenarzt Albrecht von Gräfe. Sein Vater, der ausgezeichnete Chirurg Carl von Gräfe, starb mit Hinterlassung eines bedeutenden Vermögens, während Albrecht noch im Kindesalter stand. Für seine Erziehung sorgte mit aufopfernder Liebe seine Mutter, Auguste von Alten, durch die Wahl trefflicher Lehrer, unter denen besonders Dr. Güzel einen bedeutenden Einfluß auf seinen Zögling ausübte. Ihm verdankte Gräfe, daß seine großen Anlagen für Mathematik frühzeitig geweckt und ausgebildet worden sind. Er ging auch in der That mit der Idee ernstlich um, vorzugsweise Mathematiker zu werden. Erst später wandte er sich den Naturwissenschaften zu, von denen er die Chemie und Physik wieder mit großer Vorliebe trieb. Sie führten ihn allmälig und naturgemäß zur Medicin, wobei vielleicht das Vorbild des würdigen, verdienstvollen Vaters, die Erinnerungen aus der Kinderzeit nicht ohne Einfluß geblieben sind. Gräfe beendete die vorgeschriebene Studienzeit in Berlin, woselbst er auch promovirte und sein Staatsexamen ablegte.

Im Jahre 1848 trat der noch sehr junge Doctor, er war damals erst zwanzig Jahre alt, in Begleitung einiger Jugendfreunde, die seine Studiengenossen waren, zu seiner weitern Ausbildung als Arzt eine wissenschaftliche Reife an. Er wandte sich zunächst nach Prag. Dort nahm ihn die neue Richtung in der Medicin, namentlich der diagnostische Theil derselben, in vollen Anspruch. Außerdem knüpfte er schon damals ein einflußreiches und dauerndes Freundschaftsverhältniß mit den Professoren Jaksch, Arlt und Dietrich an. Gräfe hat noch heute eine tiefe Vorliebe für die alte böhmische Königsstadt bewahrt, weil er dort, so zu sagen, die Zeit der ersten Liebe für die Medicin verlebte. Seitdem besucht er fast in jedem Jahre noch sein geliebtes Prag. Von hier begab er sich nach Wien und später nach Paris, wo er am längsten verweilte. Dort ist er gewissermaßen heimisch geworden, und die ersten Männer der Wissenschaft, wie Desmares und Sichel, zählt er noch heute zu seinen Freunden. Auch für Paris hat Gräfe eine große Neigung behalten, und so oft er kann, eilt er dahin, doch bleibt ihm daselbst nur wenig Zeit für sich, da er auch dort von Augenleidenden vielfach in Anspruch genommen wird. Nach einem kürzeren Aufenhalte in London, Dublin und Edinburg kehrte er endlich nach Berlin zurück, um daselbst als praktischer Arzt zu wirken. Schon in Prag fing Gräfe an, sich mit einer gewissen Vorliebe für die Augenheilkunde zu interessiren. Sein damaliger Freund, Professor Arlt, hat sicher das Verdienst, ihn zuerst dahin geleitet zu haben. In Wien eröffnete ihm bald Professor Jäger den Zugang zu dessen reichhaltigem Material. Doch konnte sich ein Mann wie Gräfe nicht mit dem vorhandenen Material und mit den Beobachtungen Anderer begnügen. Er schuf sich bald seine eigne Klinik, die nicht mit kranken Menschen, sondern mit kranken – Kaninchen belegt war. Gräfe hat mit seinen Freunden oft den ganzen Tag dazu verwendet, diese improvisirte Klinik abzuhalten und sich so fast spielend auf seinen künftigen Beruf vorzubereiten. Oft belief sich die Zahl dieser thierischen Patienten gegen achtzig, ja auch hundert Stück, welchen allen auf künstlichem Wege die verschiedensten Augenkrankheiten octroyirt waren. Ein jedes dieser Thiere hatte seine Nummer auf einem blechernen Täfelchen an einem Ohrringe hängen, und ebenso seine Nummer im klinischen Buche, worin auf das Genaueste sein Befinden von Tag zu Tag eingetragen wurde, bis der Sectionsbericht den Schluß der Krankengeschichte bildete. Diese Arbeiten in der Kaninchenwelt haben den größten Einfluß auf Gräfe’s weit und tief gehendes Beobachtungstalent am Menschen ausgeübt.

So vorbereitet und ausgerüstet, eröffnete er seine praktische Laufbahn mit einem überraschenden Erfolg. In kurzer Zeit war er bekannt und bald der gesuchteste Augenarzt der Residenz. Aus der Provinz, nicht nur aus dem preußischen Staate, auch von den fernsten Gegenden und Ländern strömen Augenkranke herbei, um die Hülfe und den Rath des trotz seiner Jugend so berühmten Arztes zu suchen. Nicht nur das Volk, sondern die vornehmsten Stände, selbst mehrere fürstliche Personen, haben ihm ihr Zutrauen geschenkt; nicht junge Studenten allein, sondern viele weit ältere Aerzte finden sich in seiner Klinik ein, um von dem berühmten Lehrer zu lernen. Einen solchen Erfolg kann nur das wahre Talent, nur das ächte Genie erringen, wenn man auch den günstigen äußern Umständen Rechnung tragen muß, welche Gräfe zu Statten kommen. Er hatte von seinem Vater einen schon berühmten Namen und ein so bedeutendes Vermögen geerbt, daß ihm die nothwendige Unabhängigkeit und die Mittel gesichert waren, um seine Pläne in einem großartigen Maßstabe auszuführen, und seine Laufbahn frei von jedem äußeren Hindernisse zu beginnen, womit sonst das Talent Jahre lang zu kämpfen hat, ehe es sich Bahn bricht und die gewünschte Anerkennung findet. Gräfe’s Verdienste um die Wissenschaft bleiben immer groß genug, wenn wir auch die ihm zu Gebote stehenden materiellen Hülfsmittel noch so hoch veranschlagen.

Er hat der Augenheilkunde einen neuen und kaum geahnten Aufschwung in einer so kurzen Frist gegeben, daß die Summe seiner Leistungen kaum glaublich scheint; ja es dürfte nicht zu viel gesagt sein mit der Behauptung, daß die außerordentliche Entwickelung der Ophthalmologie in den letzten Jahren sich meist in den Arbeiten Gräfe’s concentrirt. Er hat die Augenheilkunde, welche mehr oder minder als ein Anhängsel der übrigen Medicin und besonders der Chirurgie betrachtet wurde, zu einer Specialität erhoben, nicht aus Mangel an generalisirendem Geiste, nicht in der Weise einzelner Zeitgenossen, die über dem Studium der thierischen Zelle, oder vertieft in die wunderbaren Erscheinung der Physik und Chemie sich polypenartig auf einen Punkt fixiren, sondern weil der üppige Reichthum seiner Forschungen und die reichen Früchte seiner Beobachtungen und Erfahrungen auf einem beschränkten Boden nicht genügend ausgebreitet und mit einem getheilten Interesse nicht begriffen werden können. – Das Auge ist, wie bekannt, von allen Theilen des Organismus der Forschung am zugänglichsten,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_190.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)