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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

„Nein, nein, fahren Sie fort; es wird vorübergehen. Mir wurde nur auf einmal so heiß.“

Aber es wurde ihr noch heißer.

„Zu der jungen Dame,“ fuhr ich fort, „war der Dieb in das Coupé gestiegen. Und dort –“

„Dort?“ rief sie athemlos.

„Muß der Schurke sich völlig metamorphosirt haben; denn –“

„Großer Gott!“

„Denn bei dem jungen Kaufmann hatte ein Mensch im grauen Staubmantel mit großem Bart gesessen, und aus dem Coupé der jungen Dame hat man einen eleganten Herrn in grünem Rock und ohne Bart aussteigen sehen.“

„Und wo war das gewesen?“ fragte die Oberstin mit einer Stimme, die von der furchtbarsten Angst erstickt wurde.

„Auf der Eisenbahn zwischen R. und K.“

Die Oberstin fiel auf das Sopha zurück. Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen.

Mich ergriff eine entsetzliche Ahnung. Aber war es denn möglich, was ich ahnte? Konnte, sollte es möglich sein?

Die unglückliche Frau lag lange unbeweglich. Als sie sich erhob und ihr Gesicht enthüllte, glaubte ich in ein Todtenantlitz zu sehen. Aber sie hatte sich mit wunderbarer Kraft gefasst. Sie nahm meine Hand; die ihrige war eiskalt.

„Mein Freund,“ sagte Sie, „Sie haben mir ein entsetzliches Unglück entdeckt, ein Unglück, schwerer, bitterer, als der Tod. Aber lassen Sie uns mit Ruhe darüber sprechen. Erst muß ich volle Gewißheit haben, dann müssen Sie mir helfen. Sie werden es.“

„Befehlen Sie, gnädige Frau.“

„Wann hat sich das zugetragen, was Sie mir eben erzählten?“

„Uebermorgen werden es drei Wochen.“

„Und wo? Zwischen R. und K., sagen Sie?“

„Auf der Eisenbahn zwischen R. und K.“

„Auf welchem Zuge?“

„Auf dem Morgenzuge.“

„Und die junge Dame, wer war sie?“

„Ich suche sie.“

„Hier?“

„Hier“. Sie war in R. eingestiegen. Eine frühere Spur war von ihr nicht zu ermitteln. Aber in K. war sie mit einer Tante, einer Madame Meier aus Hamburg, weiter gereiset, und von Hamburg aus erfuhr ich, daß mehrere Damen dieses Namens hierher –“

„Genug, genug. Die Gewißheit ist da; nur zu voll, nur zu unzweifelhaft. Arme, arme Ottilie! – O, mein Freund, welches Unglück, welches Elend! Werden Sie mir helfen können?“

„Sprechen Sie, gnädige Frau, theilen Sie mir Alles mit. Was in meinen Kräften steht – ich brauche Ihnen nicht zu versichern, daß ich es thun werde.“

Die Oberstin erzählte:

„Mein Bruder, der Kaufmann A. Meier in Hamburg, hat eine einzige Tochter, Ottilie. Sie ist bald siebenzehn Jahre alt, und ein liebes, gutes, freundliches Kind. Sie ist schon mehr als Kind, sie ist Jungfrau, obwohl, vielleicht gerade weil sie häufig kränklich war. Sie ist noch immer leidend, und die Aerzte haben vor kurzem meinem Bruder erklärt, sie könne nur durch die größte Ruhe und Schonung und dann durch einen längeren Aufenthalt im Süden am Leben gehalten werden; diesen Sommer sollte sie in den Bädern des südlichen Deutschlands und der Schweiz zubringen. Mein Bruder ist Wittwer, ihn selbst nehmen seine weitläufigen Geschäfte unausgesetzt in Anspruch. Ich ließ mich daher bewegen, sein Kind vorläufig hierher zu begleiten, und um allen lästigen Fragen und Besuchen meiner vielen Berliner Bekannten auszuweichen, ließ ich mir von meinem Bruder einen Paß auf den Namen seiner verstorbenen Frau ausstellen. Ich reiste also als Madame Meier. Vor drei Wochen traten wir die Reise an. Ich fuhr mit meiner Gesellschafterin nach K. Dorthin wollte mein Bruder Ottilie zu mir bringen. Ein sehr dringendes und eiliges Geschäft hatte an diesem Plane eine Kleinigkeit geändert. Ein Handlungshaus in Kalisch, mit welchem mein Bruder bedeutende Geschäfte machte, stellte plötzlich seine Zahlungen ein. Mein Bruder konnte ein großes Capital nur retten, wenn er sich auf das Schleunigste nach Kalisch begab und zugleich völlig unangemeldet und unerwartet dort eintraf. Er reisete deshalb nicht nur heimlich von Hamburg ab, sondern suchte auch unterwegs seine Reiseroute möglichst geheim zu halten. Nach K. selbst konnte er in solcher Weise nicht wohl kommen; er begleitete daher seine Tochter nur bis R., brachte sie dort in ein Coupé erster Classe, vertraute sie der besonderen Fürsorge des Eisenbahnbeamten an und reisete mit der Ueberzeugung weiter, daß sie ohne Gefährde oder Beunruhigung in meine Arme kommen werde. Wie sehr hatte er sich getäuscht! Ottilie saß einsam in ihrem Coupé, ergriffen durch den Abschied vom Vater, träumend von ihrer Reise, vielleicht auch in trüben Gedanken über ihren kränklichen, leidenden Zustand. Der Zug mochte etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten gefahren sein. Auf einmal hört sie mitten im Fahren ein Geräusch an dem offenen Fenster des Coupés, sie blickt in demselben Augenblicke auf, und sieht einen Mann in einem grauen Mantel mit einem großen schwarzen Bart. Der Mensch ist im Begriff, durch das Fenster in das Coupé zu steigen. Sie will schreien; der Mensch hat sich schon durch das Fenster geschwungen; er ist an ihrer Seite. Der Schreck lähmt ihre Zunge. Sie ist einer Ohnmacht nahe. Da hört sie die Stimme des Menschen; er spricht in sanftem, beruhigendem Tone zu ihr:

„Fräulein, rufen Sie nicht, Sie würden mein Leben in Gefahr setzen. Es wird Ihnen von mir kein Leid geschehen; nur eine Bitte müssen Sie mir noch erfüllen. Setzen Sie sich nicht zur Wehre, ich beschwöre Sie. Sie werden sich übrigens nachher überzeugen, daß es nicht anders sein konnte.“

„Ottilie konnte ihm nichts erwidern; sie lag noch immer unbeweglich vor Schreck. Er nahm ihr Taschentuch, das neben ihr lag, und nahete sich damit ihrem Gesichte.

Entsetzen ergriff sie; sie sprang auf.

„Mein Herr, was wollen Sie?“

„Ich beschwöre Sie, ich flehe Sie an, setzen Sie sich nicht zur Wehre. Ich will Ihnen die Augen verbinden.“

„Nie, nie, tödten Sie mich lieber!“

„Aber ich schwöre Ihnen, ich werde Ihnen nicht das geringste Leid zufügen.“

„Tödten Sie mich – tödten Sie mich!“

„Ihre Angst wurde tödtlich; aber nicht minder wurde auch der Fremde verwirrter, ängstlicher; er fiel vor ihr auf die Kniee.

„Fräulein, vertrauen Sie meinem Schwure; es gilt mein Leben; jede Minute setzt es mehr in Gefahr.“

„Sollte sie ihm vertrauen, sollte sie es nicht? Jedenfalls war sie willenlos in seiner Gewalt. Er konnte auch ihr Rufen verhindern, unter dem Geräusch des Zuges hörte es kein Mensch. Sie ließ sich die Augen verbinden, dann warf sie sich in die Ecke des Wagens mit der Resignation der Erschöpfung. Das arme kranke Kind hatte nicht viele Kräfte zuzusetzen.

„In welcher Absicht hatte er ihr die Augen verbunden? Was sollte sie nicht sehen? Was durfte sie nicht sehen? Bereitete er ein Verbrechen vor? Führte er eins aus? Und welches Verbrechen war es? Gegen wen sollte es verübt werden? Gegen sie selbst? Der Fremde hatte in einem aufrichtigen, beruhigenden Tone gesprochen. Sein Gesicht hatte, trotz des dichten Bartes, edle Züge gezeigt. Sein Auge hatte sie so bittend, so flehend, so treu angeblickt. Aber wie wäre er, ohne verbrecherische Absichten, in solcher Weise zu ihr eingedrungen? Warum verdeckte er ihr das Gesicht? Sie lag in einer namenlosen Angst und horchte nach dem leisesten Geräusche in ihrer Nähe. Sie erbebte, wenn sie etwas vernahm. Jetzt, jetzt mußte das Verbrechen kommen. Sie schauderte bei der geringsten außergewöhnlichen Bewegung. Jetzt, jetzt wurde die entsetzliche, die namenlose, die nicht zu ahnende That ausgeführt.

„So verging ihr eine fürchterliche Viertelstunde. Sie hatte nichts gehört, als das Getöse des fahrenden Zuges und manchmal ein leises Rauschen. Sie hatte nichts gefühlt, als die gewöhnliche Bewegung des Wagens, der nur manchmal etwas mehr auf den Schienen sich gewiegt hatte. Da fühlte sie ihre Stirn etwas leicht bewegt; das Tuch wurde von ihren Augen gezogen. Ein schlanker junger Mann in eleganter Kleidung mit einem ausdrucksvollen, tieferregten, traurigen, edlen Gesichte, entledigt des großen Bartes, stand vor ihr.

„Fräulein, sagte er, halb lachend und halb erröthend, konnte ich, ohne jenes Tuch über ihre Augen zu decken, jene Veränderungen mit mir vornehmen?

„Ernsthafter aber, indem er sich an ihre Seite setzte, fuhr er fort:

„Fräulein, ich bin gerettet; ich hoffe es wenigstens. Ihnen verdanke ich meine Freiheit, mein Leben; – aber Sie sehen mich noch immer mißtrauisch an; Sie halten mich für einen Verbrecher. Ich muß in Ihren Augen rein dastehen. Ich habe ja auch noch eine Bitte an Sie, und Sie müssen wissen, wem Sie sie gewähren.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_219.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)