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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Tod hält täglich in Paris eine fürchterliche Ernte und die Lebenden sind fortwährend beschäftigt, ihre Leichen zu begraben. Man trifft viele verweinte Augen an, wahre Leidtragende, denen der Schmerz von den blassen Wangen abzulesen ist, aber auch lachende Erben, welche sich die Mühe geben, wenigstens traurig zu scheinen, und hinter dem vorgehaltenen Schnupftuch die nicht fließenden Thränen zu verbergen suchen. Junge Mädchen mit Kränzen und selbst der Gruft entgegenwankende Matronen ziehen an uns vorüber, arme Mütter und Väter, welche ihr Liebstes hier begraben haben, und auch Kinder, die zu dem Grabstein ihrer Eltern pilgern. Alle Stände sind hier vertreten, der Arbeiter in der Blouse, der Banquier in der eleganten Equipage; selbst die Dame im Erinolin-Rock stattet den Todten einen Besuch ab und legt ihre Visitenkarte auf ein Grab.

Der Eindruck, den diese riesige Gräberstadt verursacht, ist überwältigend, und erinnert mich an die Worte eines jüngeren Dichters, der denselben in folgenden Versen wiederzugeben verstanden hat:

Drüben braust Paris, die Brandung, deren Toben nimmer ruht,
Dessen Gassen reiche Adern angefüllt mit frischem Blut,
Dessen Plätze Riesenherzen, die mit ewig gleichem Schlag
Ungestüm und donnernd pochen, ohne Aufhör, Nacht und Tag.

Hier der Kirchhof Père La Chaise, ruhig wie das todte Meer,
Dessen Gassen bleiche Adern, leblos und vom Blute leer,
Dessen Plätze Riesenherzen, von des Todes Hand erstarrt,
Gräber, die gespenstisch schweigen, Marmorfelsen, kalt und hart.

Immer größer wird des Todes ausgebreitet mächt’ges Reich,
Eine Stadt will er sich gründen, jener ries’gen Weltstadt gleich;
Lockt wie Romulus zur Freistatt jedes Herz, das unmuthsvoll,
Jeden Geist, der kühn die Schranken seines Kerkers überschwoll.

Friede, Ruhe ist die Losung. Jeder hat sein stilles Haus,
Jedes Grab hat seine Blumen, voll des süßen Schmerzenthau’s,
Ist`s kein freundlich Menschenauge, das den grünen Rasen tränkt,
Gibt der Himmel seine Thränen, die er seinen Kindern schenkt.

Freiheit, Gleichheit, die Parole. Steht ein Marmormal auch stolz,
Kleidet, wie ein Bettlerkittel, manches edle Herz nur Holz;
Stein und Stein sinkt aus den Fugen und das Mausoleum wankt,
Während aus dem schwarzen Hügel frisch des Frühlings Inschrift prangt.

Dieser poetische Eindruck des Ganzen wird freilich durch so manche prosaische Begegnung gestört. Die ungeheuere Ausdehnung des Kirchhofs macht eine förmliche Polizeiverwaltung nöthig. Die Todtengräber und Aufseher sind in Sectionen getheilt, dazu kommen die privilegirten und nicht privilegirten Führer, welche sich jedem Fremden aufdrängen, und die man kaum entbehren kann, wenn man sich nicht in dem Gewirr der Alleen und Todtenstraßen verirren will. Fortwährend wird hier an den prachtvollen Erbbegräbnissen gebaut, und durch das Geschrei und die Geschäftigkeit der Arbeiter die Stille und Heiligkeit des Ortes gestört. Wie früher die reichsten und vornehmsten Familien in Paris ein glänzendes Hotel besitzen mußten, so jetzt ein hervorstechendes Erbbegräbniß. Man verwendet große Summen auf den Bau und führt förmliche Paläste auf. Die meisten dieser modernen Monumente sind oft großartig und praktisch, selten jedoch poetisch. Für die Angehörigen, welche an den Gräbern ihrer geliebten Todten beten oder trauern wollen, wird besonders dafür gesorgt, daß sie dies bei guter wie bei schlechter Witterung thun können. Unter einer gothischen oder maurischen Kapelle befindet sich eine vollkommen comfortable Einrichtung, welche gewöhnlich in einem schwarzsammetnen Betschemel, zwei Leuchtern mit Kerzen, Heiligenbildern, Cruzifix und selbst in einigen Stühlen besteht. Hier erscheint dann zuweilen eine Dame in rauschender Crinoline mit einem Blumenstrauß für zwanzig Franken, gefolgt von einem Diener in Livree, welcher, das Gebetbuch in der einen, die Gießkanne in der andern Hand, seiner Gebieterin trauern hilft.

Ich kam gerade hinzu, als ein Sarg in eine soeben beschriebene Familiengruft gesenkt wurde. Ich war erstaunt über die außerordentliche Tiefe. Sechs Särge hatten darin über einander Raum; der eben hinuntergelassene war der erste. Als er auf dem Boden ruhete, wurden dünne Steinplatten hinabgelassen und von dem Manne in der Tiefe in Empfang genommen; er legte sie auf einen hervorspringenden Sims, bis der Sarg vollständig bedeckt war. Auf diese Platten kommt nun der nächstfolgende Sarg und so fort, bis die Gruft voll ist.

Wie in der Rue Rivoli, so feiert auch hier auf dem Kirchhof die Verschwendung ihre Orgien. Es ist einmal für den Pariser eine Modesache geworden, auf dem Père La Chaise eine Familiengruft oder ein Erbbegräbniß zu besitzen; die Mode kostet viel Geld und man sucht daher in manchen Fällen auf ziemlich ordinäre Weise den Luxus mit einer schäbigen Sparsamkeit zu verbinden. So erinnere ich mich, eine große Säule gesehen zu haben, welche in förmliche Felder abgetheilt war, und zwar so viel Felder, als die Familie Mitglieder enthalten mochte. Zwei der Angehörigen waren vielleicht außer Landes gestorben oder sonst verkommen, und statt ihrer Namen stand mit fetter Schrift die Anzeige: „Hier sind zwei Grabstellen zu vermiethen!“ Solche Züge charakterisiren am besten die heutigen Franzosen.

Auch die sprichwörtlich gewordene Eitelkeit der Nation zeigt sich in den prachtvollen Denkmälern und prunkenden Inschriften. Man glaubt, daß unter diesem großartigen Mausoleum auch die Ueberreste eines großen Mannes, eines berühmten Generals, eines gefeierten Gelehrten liegen müssen, und erfährt zu seiner Enttäuschung, daß nur ein reich gewordener Tapezier oder Gewürzkrämer sich diesen Obelisk von cararischem Marmor errichten ließ. Meist sind die Gräber der wahrhaft großen Männer um so einfacher, und welche Größen wurden hier begraben!

Der Père La Chaise umschließt das Genie, das Wissen, die Schönheit, Anmuth und den Ruhm von Frankreich. Seine Straßen und Fußpfade führen ihren Namen von den dort ruhenden berühmten Todten; wir sehen einen Sentier de Couvier, de Cherubini, de Molière, de Laplace, de Cambacérès, de Ney, de Foy, eine Allee de Casimir Perier u. s. w. Die Kunst hat ihre besonderen Viertel, so wie die Tapferkeit und Beredsamkeit. Dicht an einander befinden sich die Gräber der Dichter Delille, Bernardin de Saint Pierre, Joseph Chenier, Laharpe, Parry u. s. w.; die Componisten Gretry, Mehul, Cherubini, Boieldieu und Chopin, dessen Grab noch immer mit frischen Kränzen von seinen zahllosen Verehrern und Verehrerinnen geschmückt wird, schließen sich ihnen an, während Talma und die Mars das Theater in würdigster Weise repräsentiren. Auf dem Père La Chaise sind die Ueberreste eines Racine, Molière, des geistreichen Beaumarchais, des liebenswürdigen Fabeldichters Lafontaine beigesetzt. Unter jenem bescheidenen Steine ruht der berühmte Schriftsteller und Redner Benjamin Constant; dort das prachtvollste Mausoleum bedeckt die Asche Casimir Perier’s, welcher der Minister Louis Philipps war und die Revolution zu schließen, die neue Dynastie für immer zu befestigen glaubte; in jenem festen Steingemäuer, von eisernen Thoren verschlossen, liegt Sieyès, der die erste, die Welt erschütternde Revolution des französischen Volkes mit heraufbeschworen. Rechts am Fuße der großen aufsteigenden Anfahrt entdeckt man das Grabdenkmal von schwarzem Marmor des Marschalls Kellermann und seiner Gattin; er lehrte die jungen, des Krieges ungewohnten Soldaten der Republik bei Valmy siegen. Steigt man höher hinauf, so findet man die Generäle des Kaiserreichs, die Schlachtgefährten Napoleons, Lefebure, Massena, Davoust, Herzog von Eckmühl, Macdonald und weiterhin die Stätte, wo einst ein Stein mit der Inschrift stand: „Hier ruht der Marschall Ney, Herzog von Elchingen, Fürst von der Moskwa. Gestorben (?) den 7. December 1815.“ Auf diesem Platz liegt die Geschichte des ersten Kaiserreichs begraben.

Wir bleiben vor einem Denkmal in Form einer Kapelle stehen; Cambacérès’ Asche wird hier aufbewahrt, dessen Name so lange lebt, als der bestehen wird. – Ueber dem Grabe des berühmten Schädellehrers Gall steht seine Büste, ein greises Haupt mit tief gefurchter Stirn und geistreichen Zügen. Schön und stattlich ist das Erbbegräbniß Ledru Rollin’s, das freilich nicht an die Einfachheit des verbannten Demokraten erinnert. Am prächtigsten dürfte wohl das Mausoleum der Gräfin Demidoff, das sinnigste das der Frau des bekannten Republikaners Raspail sein; eine gänzlich verhüllte weibliche Gestalt, die nur den Arm unverhüllt trägt, den sie nach dem Gitter ihres im Gefängniß schmachtenden Gatten sehnsuchtsvoll ausstreckt. Casimir Delavigne liegt daneben; unter einem Sirenenbäumchen, nicht weit davon das liebenswürdige Dichterpaar Charles Nodier und Emil de Souvestre, dessen Andenken nicht nur die Literaturgeschichte, sondern die Armen und Hülfsbedürftigen von Paris beweinen. Honoré de Balzac, der feine Kenner des menschlichen und besonders des weiblichen Herzens, schläft unter einem einfachen Leichenstein, von rankender Clematitis umzogen.

An der sogenannten Chapelle, wo die eigentliche Todtenfeier abgehalten wird, dem Haupteingange gegenüber, bietet sich von der

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_234.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)