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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Nicht in der Außenwelt, in unserer Seele nur liegt der Quell unserer Leiden und Freuden. Ich erinnerte mich bei dieser Gelegenheit des geistreichen Paradoxon eines neueren Schriftstellers, welcher den Wahnsinn als die Vernunft des Einzelnen, die Vernunft als den Wahnsinn Aller bezeichnete.

Wie ich erwartete, wurde ich von dem Director, der sich meiner lebhaft erinnerte, mit offenen Armen aufgenommen und auf das Freundschaftlichste empfangen. Bald waren wir im eifrigsten Gespräche, das anfänglich unsere Jugenderinnerungen und die Vergangenheit, später mehr die Gegenwart und unsere verschiedenen Lebensverhältnisse berührte. Wie man sich denken kann, kamen wir auch bald auf das uns Beide so sehr interessirende Capitel des Wahnsinns und auf die Behandlung desselben. Mein Freund war mit Leib und Seele Irrenarzt, und er betrachtete seine Stellung wie eine ihm aufgetragene höhere und heilige Mission.

„Auf keinem Gebiete der Medicin,“ sagte er im Verlauf unserer Unterhaltung, „hat sich das Vorurtheil und die Bornirtheit so lange behauptet, als auf dem der Geisteskranken. Bis in die neuere Zeit wurden die Wahnsinnigen nicht wie andere Kranke, die sie in der That nur sind, sondern wie Verbrecher behandelt. Mit Schaudern denke ich noch an die Marterwerkzeuge und Instrumente einer Tortur, die dem Mittelalter Ehre gemacht haben würde, und welche ich bei meinem Amtsantritt noch vorfand. Da gab es einen Drehstuhl, worin die Armen, wenn sie unruhig waren, so lange im Kreise herumgewirbelt wurden, bis sie vor Schwindel die Besinnung verloren; Zwangsbetten und Zwangsjacken; selbst Ketten für die Rasenden, an die man die Aerzte zuerst selber hätte anschließen müssen.“

„Du huldigst also dem entgegengesetzten Systeme, der möglichst größten Freiheit?“

„Du weißt, daß ich schon auf der Universität ein Feind aller sogenannten Systeme war. Die Natur kümmert sich nicht um derartigen menschlichen Schubfachkram; sie geht ihren eigenen Weg. Ich habe nichts weiter gethan, als was alle besseren Aerzte seit Hippokrates thaten! die Natur beobachtet und die so gewonnenen Resultate nach dem Beispiele meiner Lehrer, eines Esquirol, Ideler, Pinel, Martini u. s. w. auf die Geisteskranken angewendet. Dadurch bin ich allerdings zu überraschend günstigen Resultaten gelangt, von denen Du Dich noch heute überzeugen wirst. Du bleibst natürlich hier und bist mein Gast. Ich gebe nämlich diesen Abend einen Ball, zu dem Du hiermit feierlichst eingeladen wirst.“

„Und ich nehme Deine Einladung an; doch zuvor möchte ich gern Deine Pflegebefohlenen sehen.“

„Dazu haben wir ein andermal Zeit, wenn ich die Abendvisite abhalte. Augenblicklich bin ich durch Verwaltungsgeschäfte dermaßen in Anspruch genommen, daß Du mich entschuldigen mußt. Ich habe Rechnungen durchzusehen, Briefe und Eingaben zu beantworten, kurz, eine ganze Last von Arbeiten, die mit einem so großen Institute natürlich verbunden sind, und die ich beim besten Willen nicht aufschieben kann. Du nimmst es mir nicht übel, wenn ich Dich jetzt verlasse.“

„Gewiß nicht; mit einem alten Freunde brauchst Du keine Umstände zu machen.“

„Und auf den Abend sehen wir uns wieder; vergiß nur nicht, Deine Tanzstiefel zu schmieren, Du warst wenigstens früher ein flotter Tänzer auf der Universität.“

„Ich hoffe auch jetzt noch mit Ehren zu bestehen.“

„Das ist mir lieb, und nun auf baldiges Wiedersehen.“

Ich verließ das Irrenhaus vorläufig in einer ganz anderen Stimmung, als ich erwartet hatte; ich war in der Absicht gekommen, meine Kenntnisse zu bereichern, das dunkle Gebiet der psychologischen Krankheiten an der Hand eines kundigen Führers zu betreten, den Wahnsinn in allen seinen Graden und Abstufungen, vom stumpfen Blödsinn bis zur rasenden Wuth zu sehen, und erhielt statt dessen eine Einladung zu einem Balle. War das nicht eine bittere Ironie des Zufalls, wenn nicht gar die Absicht dahinter steckte, mich für meine zudringliche Neugierde auf diese feine Weise zu bestrafen. Mein Freund war mir von früher bei all seiner Wissenschaftlichkeit als ein loser Spottvogel bekannt, und ein kleiner Hang zur Satire war ihm ganz besonders eigen. Trotz dieser Bedenklichkeiten schien mir seine Einladung doch mit so vielem Ernste vorgebracht, daß ich keinen Anstand hatte, dieselbe eben so zu nehmen und ihr unbedingt Folge zu leisten. Zum Glück führte ich in meinem Felleisen den für solche Gelegenheiten unvermeidlichen Leibrock und die ebenso unvermeidliche weiße Weste. Mit Hülfe dieser Kleidungsstücke versetzte ich mich in das gebräuchliche, schwarzweiße Ballcostüm, womit ich, in Anbetracht, daß ich eigentlich nur ein Reisender war, alle Ehre einzulegen hoffte.

Schneller, als ich gedacht, kam der Abend heran, und ich begab mich, meiner Einladung folgend, wieder in das Irreninstitut. Diesmal wurde ich von dem alten Portier überaus freundlich nach einem großen Saale gewiesen, wo sich die Gesellschaft bereits versammelte. Ich wunderte mich, den eigentlichen Wirth des Hauses, meinen Freund, hier noch nicht anzutreffen; er wurde, wie man mir sagte, durch einige dringende und unvorhergesehene Berufsgeschäfte abgehalten. An seiner Stelle empfing mich ein junger Mann mit großer Höflichkeit, der mir einer der Assistenzärzte der Anstalt zu sein schien. Er machte mit vielem Anstande die Honneurs, und bald befand ich mich mit ihm und noch einigen der anwesenden Gäste in ein unterhaltendes Gespräch verwickelt. Ich bewunderte in der That den Scharfsinn meines neuen Bekannten, der außerdem keine geringe Bildung und die gediegensten Kenntnisse entwickelte. Er war mit den neuesten Entdeckungen der Chemie und Physiologie ganz vertraut, und nie glaubte ich eine lichtvollere Auseinandersetzung dieser wissenschaftlichen Probleme gehört zu haben, was mich um so mehr in dem Wahn bestärkte, einen philosophisch gebildeten Mediciner vor mir zu sehen. Wie geistreich behandelte er seine von ihm aufgestellten, oft nur zu paradox klingenden Ideen, wie scharf und treffend war sein Urtheil und mit welcher Begeisterung sprach er von seinen Studien! Seine Wangen rötheten sich, sein Auge glänzte, in einem ungewöhnlichen Feuer strahlend, und sein ganzes Gesicht gewann dann einen leidenschaftlichen Ausdruck. So konnte nur ein Mann reden, der von seinem Stoff ganz erfüllt, dem es einzig und allein um die Wahrheit zu thun war. Die Zuhörer verriethen auch einen hohen Grad von Aufmerksamkeit und folgten mit sichtbarer Spannung, wie ich selber, seinem genialen Vortrage, den ich allerdings am wenigsten in einer Ballgesellschaft zu vernehmen hoffte.

„Alle diese Fortschritte,“ sagte der junge Mann am Schlusse seiner Rede, „alle diese neuen Entdeckungen der Wissenschaft sind jedoch nur von vorübergehendem Werthe und nehmen nur eine untergeordnete Stelle ein gegen meine jüngste Erfindung auf dem Gebiete der Chemie. Es ist mir nämlich nach unendlicher Mühe gelungen, die atmosphärische Luft zu versteinern. Ich kann, unter uns gesagt, auch aus Kohlenstoff Demanten machen. Ich habe sogar schon welche gemacht und ich könnte Ihnen die nöthigen Proben liefern. Leider fürchte ich, daß Sie mir nicht glauben werden, das ist das Schicksal aller Erfinder, man verachtet und verspottet sie.“

Damit entfernte sich der junge Mann, um einige eintretende Damen zu begrüßen. Ich wußte wirklich nicht, was ich von ihm nach einer solchen Rede denken sollte, und hielt das Ganze lediglich für einen Scherz, für eine ironische Mystification. Ich äußerte diese Meinung vor einem der Herren, der, wie ich, seiner Auseinandersetzung beigewohnt hatte.

„Das kann doch nicht im Ernst die Meinung dieses jungen Gelehrten sein?“

„Doch,“ entgegnete mein Nachbar. „Er glaubt wirklich, daß er die Luft zu versteinern weiß.“

„Mein Gott!“ rief ich erschrocken aus. „Der Herr ist doch nicht etwa ein Bewohner dieser Anstalt?“

Der Gefragte ließ mich umsonst auf eine Antwort warten; er starrte mich mit einem eigenthümlichen Lächeln an, zuckte mit den Achseln und ließ mich voll Verwunderung stehen. Diese Unhöflichkeit setzte mich in ein noch größeres Erstaunen, aber schien mir wiederum erklärlich, da das Orchester so eben die Polonaise anstimmte und mein Nachbar wahrscheinlich irgend eine von ihm engagirte Dame suchte.

Das schöne Geschlecht war ebenfalls zahlreich vertreten; ich bemerkte darunter reizende Erscheinungen, einige junge Mädchen mit rosigen Wangen, feurigen Blicken und herrlichen Taillen. Allerdings gab es auch hier viele verblühte Schönheiten, nervöse Frauen, deren bleiche Gesichter, gelblicher Teint und erloschene Augen die Modekrankheit unseres Zeitalters errathen ließen. Ja die Zahl solcher Leidenden schien mir vorzuwiegen, obgleich ich auch unter diesen einige Damen zu bemerken hatte, welche sich durch eine gewisse Feinheit und den geistigen Adel ihrer Gesichtszüge auszeichneten. – Besonders interessirte mich eine bleiche Schönheit mit blassen Wangen und dunkelschwarzem Haar, das glatt und glänzend sich an die hohe, vielen Verstand verrathende Stirn anschmiegte. Ein

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 249. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_249.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)