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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

gesenkte Haupt und verdeckte zum Theil gleichzeitig das Gesicht. Ich saß seitwärts und konnte ihn beobachten, ohne bemerkt zu werden. Der Ernst meines eigenen Lebensganges, vielfache Einblicke in verworrene, trübe, verzweifelte Lebensverhältnisse, haben mich gleichsam daran gewöhnt, hinter oft ganz geringfügigen Anzeichen in dem äußeren Wesen der Menschen mancherlei traurige Räthsel zu ahnen, und ich habe mich niemals enthalten können, solchen scheinbar unverfänglichen Aeußerungen eine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. In dem Wesen des Kriegsraths lag eine freudlose Resignation ausgedrückt, welche eine lange Geschichte von Enttäuschungen, Sorgen und Schmerzen ahnen ließ. Unbeweglich saß er da, selbst der Winkel, den das in den Boden gestemmte spanische Rohr mit der Bodenfläche bildete, verrückte sich nicht.

Plötzlich, wie auf ein inneres Commandoworl, erhob er sich und wandte sich in raschem Schritte nach dem Hintergrunde des Gartens. Zweimal machte er die Runde um denselben, dann setzte er sich wieder in der nämlichen Stellung auf seinen Platz. Hier verweilte er noch einige Zeit. Dann erhob er sich, – diesmal langsam, fast zögernd. Er ließ einen Blick über den Garten schweifen, einen langen, langen Blick, – ich konnte mich nicht enthalten, zu denken, daß dies ein Abschiedsblick sei. Dann wendete er sich zum Ausgange und verließ langsam, in gewohntem gleichmäßigem Schritt den Garten.

Ich blieb noch einige Zeit allein, und blickte dem Fortgehenden nach. Immer wieder fiel mir der Blick ein, mit welchem er aus dem Garten geschieden war. Ich beschloß, mich auf alle Fälle am nächsten Tage einzufinden und, wenn auch er sich einstellte, auf die Gefahr einer Indiscretion hin, seine Bekanntschaft zu suchen. Es war keine Neugier, die mich dazu trieb, die Bekanntschaft eines mir bis dahin Fremden suchen zu wollen, sondern das dunkle Bewußtsein, daß ich Gelegenheit haben könnte, einen gesunkenen Lebensmuth durch Trost und Zuspruch, vielleicht auch noch auf andere Weise, wieder aufzurichten. Denn nur wer selbst Stimmungen dieser trüben und trostesarmen Verlassenheit und Vereinsamung erlebt hat, vermag zu empfinden, welche Heilkraft für gebeugte Gemüther in dem rückhaltslosen Entgegenkommen und Vertrauen einer wohlwollenden Menschenbrust liegt.

Mein Aufmerksamkeit wurde bald wieder auf andere Gegenstände gelenkt. Mehrere Collegen waren in den Garten eingetreten und hatten an einem Tische Platz genommen. Das Gespräch drehte sich um die Tagesereignisse, um Processe aller Art und um die Praxis. Ich war nicht in der Stimmung, diesen Unterhaltungen ein lebhaftes Interesse abzugewinnen, und verabschiedete mich in der Absicht, nach Hause zurückzukehren. Der Abend war allmählich hereingebrochen, und ohne es zu merken, hatte ich, meinen Gedanken nachhängend, gerade die dem Heimwege entgegengesetzte Straße eingeschlagen, und war bis in die Nähe des etwa eine Stunde von der Stadt entfernten Dorfes S. gelangt. Hier besann ich mich noch rechtzeitig, daß es Zeit sei, umzukehren, denn der Himmel hatte sich umdüstert und schwere Gewitterwolken zogen von der Mitternachtseite herauf. Ich war in leichter Sommerkleidung und ohne Regenschirm; kein einziges Fuhrwerk war in der Nähe zu sehen, eine Omnibusverbindung mit der Stadt bestand damals noch nicht. Ich entschloß mich daher zu dem Versuche, dem Ausbruche des Gewitters den Vorsprung abzugewinnen, und begann rüstig zu marschiren. Mein Entschluß war etwas zu spät gefaßt. Schon wirbelte der Staub der Chaussee in dichten Säulen vor mir auf, falbe Blitze zuckten durch die Luft, und pfeilschnell schossen die Schwalben dicht am Boden hin, um der Gewalt des Windes zu entgehen. Ich beschleunigte meinen Schritt noch mehr, um wenigstens eine bedachte Behausung zu erreichen, denn bereits fielen die ersten schweren Regentropfen. Glücklich genug erreichte ich endlich ein noch leer stehendes einzelnes Gebäude, welches eben im Rohbau vollendet war. Hier hinein flüchtete ich, und wartete so das Gewitter ab, welches jetzt mit voller Heftigkeit unter rauschenden Regenströmen ausbrach.

Ich sollte indessen in dem schirmenden Asyl nicht lange allein bleiben, denn bald vernahm ich die Stimmen zweier Männer, welche gleich mir im Erdgeschoß des Rohbaues Schutz vor dem Unwetter suchten. Die Stimme des Einen klang gemessen, ruhig, gebildet; die des Andern, Jüngern, lauter und roher. Der Aeltere schien seine Abneigung gegen das Aufsuchen eines Zufluchtsortes zu äußern. Der Jüngere wies auf das Unwetter und die Gefahr einer tödtlichen Erkältung hin. Der Aeltere schien nachzugeben. Sie begaben sich in einen nach hinten gelegenen Raum, ziemlich entfernt von mir, so daß ich wohl den Klang ihrer im Zwiegespräch laut werdenden Stimmen, nicht aber ihre Worte vernehmen konnte.

So heftig das Gewitter gewesen war, so schnell ging es auch vorüber. Ich trat wieder aus meinem Schlupfwinkel heraus. Als ich mich zum Fortgehen anschicke, höre ich auch die Schritte der Genossen meiner improvisirten Herberge hinter mir. Jetzt kann ich deutlich vernehmen, was sie sprechen.

„Du hast Alles?“ sagte der Aeltere.

„Alles!“ antwortete der Jüngere.

„Du weißt, was Du geschworen hast!“

„Verlassen Sie sich auf mich.“

„Nicht früher und nicht später: Du richtest Dich nach der Domkirche.“

„Auf die Minute!“

„Bleib jetzt hinter mir zurück. Denk’ an Deine Belohnung. Auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen!“

Unwillkürlich drückte ich mich gegen den Vorsprung des Kellerhalses, um den älteren der beiden Männer unbemerkt sehen zu können, wenn er an mir vorbeiging. Er kam um die Ecke; der Himmel war wieder klar – hatte ich recht gesehen, oder war es eine Täuschung meiner Sinne – ich glaubte den Kriegsrath zu erkennen. Er ging in beschleunigtem Schritt an mir vorüber, und ehe ich mich von meinem Erstaunen erholt hatte, war er meinen Augen entschwunden. Ich blickte nach der Seitenfront des Gebäudes, ob sein Begleiter vielleicht noch zu sehen wäre – aber auch dieser war fort. Von neuen Gedanken über dieses sonderbare Zusammentreffen bewegt, trat auch ich den Heimweg an.

Am andern Morgen war ich schon in aller Frühe mit dringenden Arbeiten beschäftigt, und hatte Anweisung gegeben, Niemanden vorzulassen. Gegen neun Uhr hörte ich laute Stimmen im Vorzimmer, mein Schreiber schien einen dringenden Clienten bedeuten zu wollen, daß ich für Niemanden zu sprechen sei. Der Besuch wollte sich nicht abweisen lassen.

„Ich muß den Herrn durchaus sprechen, nennen Sie ihm meinen Namen!“

Ich erkannte die Stimme des Agenten und trat hinaus.

„Verzeihen Sie meine Unbescheidenheit,“ rief er mir in sichtlicher Erregtheit zu, „aber die Sache ist von größter Wichtigkeit – gönnen Sie mir zehn Minuten!“

Ich nöthigte ihn, einzutreten.

„Was ist Ihnen zugestoßen, Herr Wichert, hoffentlich kein Unglück? Sammeln Sie sich!“

„Ich muß es allerdings ein Unglück nennen,“ entgegnete er mir in gleicher Aufregung, „wenn auch mehr für Andere, als für mich!“

„Sprechen Sie,“ drängte ich, „was ist es?“

„Es betrifft den Kriegsrath von P–.“

„Nun, was ist es mit ihm?“ rief ich, gleichfalls lebhaft erregt.

„Er ist heute früh todt in seinem Bette gefunden worden – eben habe ich seine Leiche gesehen.“ –

Obgleich an mancherlei erschütternde Katastrophen durch eine an den unerwartetsten Scenen reiche Praxis gewöhnt, machte dennoch die Mittheilung des Agenten einen fast betäubenden Eindruck auf mich. Ich brauchte einige Zeit, um mich zu fassen. Herr Wichert ging unruhig im Zimmer auf und ab. Vor allen Dingen mußte man eine klare Uebersicht über die Lage der Sache zu gewinnen suchen und Alles mit der größtmöglichsten Ruhe erwägen, um Nichts durch Hast zu verabsäumen oder durch Uebereilung zu verderben. Ich nöthigte den Agenten, sich zu setzen.

„Lassen Sie uns die nothwendige Ruhe nicht verlieren; nur so allein vermögen wir zu übersehen, was wir in Ihrem Interesse, im Interesse der Gesellschaft zu thun haben. Erzählen Sie mir in genauer historischer Zeitfolge, was Sie erfahren haben und auf welche Weise.“

„Sie haben Recht,“ erwiderte er, „verzeihen Sie meine Fassungslosigkeit, aber Sie können selbst ermessen, wie hart es mich treffen muß, daß gerade ich zum Abschluß eines so unseligen Geschäfts beigetragen habe.“

„Ich verstehe Ihre Situation vollkommen, aber desto nothwendiger ist es, daß wir uns schleunigst nach allen Seiten hin zu orientiren suchen. Sie sollen später erfahren, was ich über die Sache denke. Zunächst erzählen Sie: Wann haben Sie den Kriegsrath gesehen?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 311. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_311.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)