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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

No. 24. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.   Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Eine Lebens-Versicherung.
Aus den Papieren eines Berliner Advocaten.
(Fortsetzung.)

Es war ein heißer Augusttag, und die Sonne brannte trotz der frühen Morgenstunde und ungeachtet des gestrigen Gewitters mit jener Intensität, die den schnell vorüber fliehenden Sommern der nördlichen Breitengrade eigen ist. Die Wohnung des Kriegsraths lag ziemlich entfernt von der meinigen. Es war etwa zehn Uhr, als wir ankamen. Im Hausflur trafen wir bereits die amtlichen Personen, welche eben angekommen waren. Es hatten sich außer dem Polizei-Commissarius der Untersuchungsrichter mit einem Protokollführer, der Staatsanwalt und das gerichtsärztliche Personal (der Physicus mit seinem Assistenten) eingefunden. Wir schlossen uns ihnen an, und betraten gemeinschaftlich den Flur der zweiten Etage, in welchem die Wohnung des Kriegsraths lag. Die vor die Eingangsthür postirte Wache hatte ihren Posten nicht einen Augenblick verlassen, die angelegten Siegel waren unverletzt.

Wir traten in einen kleinen schmalen Corridor, in welchem nach vorn heraus eine zweifenstrige Wohnstube und ein einfenstriges Schlafzimmer lagen; nach dem Hofe gelegen befand sich ein von dem Kriegsrath zum Studiren und zur Aufstellung seiner ansehnlichen Büchersammlung benutztes Arbeitszimmer; dahinter eine kleine Küche nebst einem kleinen Verschlage. Eine zweite Treppe führte nicht zur Wohnung. Vom Corridor aus führten zwei Eingänge zu den geschilderten Wohnungsräumen; eine Thür ging nach dem zweifenstrigen Vorderzimmer, die zweite nach der Hinterstube. Die einzelnen Wohnungsräume communicirten unter sich durchgängig durch Thüren. – Im Erdgeschoß des Hauses befand sich ein Laden und die Werkstatt eines Korbmachers; den ersten Stock bewohnte eine ältliche unverheirathete kranke Dame mit ihrem Dienstmädchen; eine kleine Dachwohnung über dem Kriegsrath hatte eine Arbeitsfrau mit ihrem halberwachsenen Knaben inne, der jedoch vor Kurzem gestorben war. Das Haus wurde regelmäßig vom Wächter um zehn Uhr Abends, und nur in den beiden Sommermonaten Juni und Juli um elf Uhr verschlossen, und der Verschluß allstündlich revidirt.

Ich schicke diese Details voran, um den weiteren Gang der Erzählung nicht später wieder zu unterbrechen, denn über die mitgetheilten Einzelnheiten informirten wir uns später, nach Besichtigung der Leiche.

Wir traten durch das Wohnzimmer in das Schlafgemach des Kriegsraths, ein. Wie der Agent erzählt hatte, fanden wir ihn in der Lage und mit dem Ausdruck eines ruhig Schlafenden in seinem Feldbette liegend.

Die erste Frage des Physicus war:

„Wer hat das Fenster geöffnet?“

„Es war geöffnet, als wir die Wohnung betraten,“ antwortete der Commissarius.

Das Fenster wurde genau besichtigt, ebenso das Fensterbret, die äußere und innere Mauerbekleidung, welche jedoch nirgends etwas Auffälliges erkennen ließen. Der Physicus hatte sich inzwischen mit der Leiche beschäftigt; der äußere Befund entsprach vollkommen der Schilderung, welche der Agent gemacht hatte. Nicht das Mindeste deutete darauf hin, daß die Einwirkung einer äußern Gewalt den Tod herbeigeführt haben könne. Der Hals war frei und zeigte keine Spuren irgend einer Sagillation oder Hautverletzung. Ebenso verhielt es sich mit dem ganzen übrigen Körper. Der Mund war geschlossen, die Zungenspitze lag hinter den Zähnen, die Augäpfel waren nicht aus ihrer Höhle hervorgetreten. Die bläuliche Färbung des Gesichts war deutlich wahrzunehmen.

„Der Tod ist unzweifelhaft erfolgt,“ erklärte der Physicus, nachdem er die genaueste Untersuchung des Leichnams vorgenommen hatte, „und zwar mindestens bereits vor mehreren Stunden. Es fragt sich, ob wir sofort zur Section des Leichnams schreiten?“

Der Untersuchungsrichter sann einen Augenblick nach.

„Haben Sie die Aufwärterin bestellt?“ fragte er den Commissarius.

„Sie ist unten,“ antwortete der Polizeibeamte.

„Ist zur Frau des Verstorbenen geschickt?“

„Unmittelbar, nachdem ich die Anweisung erhalten hatte. Ich habe den Secretair angewiesen, sich eines Wagens zu bedienen, er muß mit der Frau bald erscheinen.“

In dem nämlichen Augenblick hörten wir einen Wagen vorfahren.

„Das ist sie!“ rief der Commissar, der an’s Fenster gegangen war.

Der Untersuchungsrichter trat aus dem Schlafzimmer, in welchem die Leiche lag, in das anstoßende, nach vorn gelegene Gemach und trat von hier aus der Frau des Verstorbenen entgegen. Ich hatte sie bereits vom Fenster aus betrachtet. Eine zarte schmächtige Frauengestalt mit feinen leidenden Gesichtszügen, trotz des vorgerückten Alters und des mit Grau untermischten Haupthaares Spuren früherer Schönheit verrathend. Sie stieg schwankend aus dem Wagen und mußte sich einen Augenblick am Wagenschlage festhalten; dann schritt sie hastig in das Haus.

Der Untersuchungsrichter hatte die Thür zu dem Zimmer, in welchem wir uns befanden, nur angelehnt; ich stand so, daß ich Frau von P. sehen und das ganze Gespräch mit anhören konnte.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 325. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_325.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)