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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

auf welchem jährlich für Tausende und Zehntausende von Thalern geopfert wurde. Um diesen Thurm und diese Königsburg wohnten Millionen von Menschen in höchster Culturblüthe, berühmt besonders durch textile Künste, Weberei und Buntwirkerei, Juwelierkunst, Bildhauerei, Schnitzwerk und Steinschneiderei. Sie trugen allgemein goldene Siegelringe, künstlich geschnitzte Spatzierstöcke, schön gestickte Gürtel und weiße Mäntel, langes, schwarzes, mit Myrrhen und Rosenöl gesalbtes, mit kostbaren Binden und Bändern durchflochtenes Haar, feine leinene Leibwäsche und kostbare wollene Gewirke und Gewebe. Sie beherrschten die damalige Menschheit durch Industrie, Kunst, Handel und Wissenschaft. Sie waren Jahrhunderte lang die erste Großmacht der vier vorgriechischen Großmächte der alten Welt. Ihre Maße, Gewichte, Münzen und Wissenschaften waren Norm und Regel für die andern Völker. Das goldene Gemach des Gottes Bel auf dem Thurme oben diente auch als Sternwarte. Hier berechneten die Astronomen schon 1500 Jahre vor Christi Geburt Sonnen- und Mondfinsternisse bis auf die Minute voraus. Dies läßt auf Mathemathik, Naturwissenschaften, Cultur und Literatur in hoher Ausbildung schließen. Alle die dürftigen Angaben über die Blüthe des alten Babylon laufen zu einem Bilde von Wohlstand, Reichthum, Bildung, Luxus, Cultur und Civilisation zusammen, mit welchem sich spätere und neue Völker erster Größe zwar an Umfang, aber nicht an innerer Fülle und Frische messen können. Namentlich bauten die alten Babylonier massiver und besser, als die heutigen Völker.

Aber von all ihrer architektonischen Erhabenheit, von all ihrer massiv goldenen Kunst und Cultur, von all diesem üppigen, reichen Leben ist nichts geblieben als der Tod. Nur Kirchhöfe erzählen noch von diesen alten Herrlichkeiten, besonders eine ganze, meilengroße, mehrere Stockwerke über einander geschichtete, ungeheure Stadt und Burg von Tausenden und Zehntausenden noch erhaltener Särge bei Warka (Orchoe), der 2400 Jahre lang offen gehaltene Hauptbegräbnißplatz des großen alten Chaldäerlandes, den wir neuerdings erst durch die Besuche und Schilderungen zweier Engländer, Lostus und Taylor, als das großartigste und schauerlichste Denkmal untergegangener Völker haben kennen lernen. Von dem 600 Fuß hohen Thurme mit dem goldenen Gemache aber und den massiv goldenen Bildern des großen Gottes ragen nur noch einzelne verwitterte Trümmer auf einer von Regenströmen durchfurchten todten Ebene bei Hillah hervor. Die Königsburg mit ihren 300 Fuß hohen Mauern von anderthalb deutschen Meilen Umfang ist spurlos von der Zeit und dem Strome der Geschichte weggewaschen und zu Sand und todtem Gestein zerwittert worden. Vom Zeit- und Geschichtsstrome! Aber warum hat man nicht reparirt und neugebaut? Die Zeiten, wenn Völker die Kraft verlieren, zu repariren und neu zu bauen, werden von ihnen selbst gemacht; auch die Verwandelung dieser conservativen, reparirenden, sich recreirenden Kraft in zersetzende Säuren und auflösende Stoffe geht aus ihnen selbst hervor. Als die babylonische Culturblüthe sprachliche und sittliche Verwirrung und Zersetzung auszuduften begann und der Mylitta-Cultus in weichliche Sinnenlust und schamlose Unzucht ausartete, ward die conservative und recreirende Kraft vergeudet und zum zersetzenden Elemente. Wenn in ähnlicher Weise heut zu Tage die Kraft eines Volkes unsittlich, lügnerisch, gewaltsam, heuchlerisch wird, so beginnt auch heut zu Tage wieder dessen Untergang, so groß, reich, muthig und civilisirt es auch sein mag. Einen solchen Proceß haben wir längst in England sich entwickeln sehen. Die Wahlen und deren Ergebniß sind ein Triumph der Lüge, Hypokrisie und Schamlosigkeit über seine alte conservative und recreative Kraft, eine offenbar gewordene, als politisches Princip anerkannte Gewalt, welcher die nicht mit regierende, noch gebliebene sittliche Kraft, die Steinkraft der Häuser und Burgen und selbst der unerschütterliche Koloß der Paulskirche auf die Dauer nicht widerstehen können. Der „Verfall Englands“ ist jetzt ein sehr thätiger chemisch-historischer Zersetzungsproceß, der nur durch eine gründliche Reform des ganzen Organismus vom Wege des Unterganges abgelenkt und zum Reconvalescentenprocesse gerichtet werden könnte.[1]

London ist die Hauptstadt Englands, das „Herz der Welt“, der chemische Hauptkessel des Processes, von dessen Agentien und Reagentien mehr oder weniger alle gebildeten, am Weltverkehre betheiligten Völker mit abhängen. Sehen wir uns den Inhalt dieses „modernen Babylon“ deshalb einmal in seinen statistisch ausgedrückten Ingredienzien an und vergleichen wir die Elemente, welche als gesund gelten können, mit denen, die sich ohne Weiteres als zersetzt, zersetzend, verwitternd und Verfall ausbreitend ankündigen. London zählte beim letzten Census 2,362,236 Einwohner, die sich seitdem etwa auf 21/2 Millionen vermehrt haben. Von den gezählten Bewohnern waren 1,106,558 männlichen, also 1,255,678 weiblichen Geschlechts, von Ersteren 339,098, von letzteren 409,731 verheirathet. Dazu kommen 37,080 Wittwer und 110,076 Wittwen. Während der Nacht der allgemeinen Schätzung waren 28,598 Ehemänner ohne Frauen und 39,231 Frauen ohne Männer. – Im vorigen Jahre wurden 86,833 Kinder geboren und 56,784 Personen starben. Die Einwohnerzahl vermehrte sich in diesem Jahre um mindestens 60,000. Dabei viele leere Häuser und unzählige Reihen von Miethszetteln! Ein kleiner Theil wohnt in großen Hallen und Palästen mit 3-4 Zimmern auf jede Person, die große Masse liegt wie Heringe in dunkeln, kleinen, schmutzigen Kammern zusammengepfercht, oft, wie Dr. Letheley unlängst schilderte, Alt und Jung, männlich und weiblich, unter Lumpen und Frechheit und Elend dutzendweise durcheinander geschichtet. Dabei giebt’s etwa 200,000 „tramps“ d. h. Personen, die erwiesen ohne bestimmtes Obdach, ohne eine Kammer, oder den 12. Theil einer bedeckten Höhle stets unter freiem Himmel, unter Brückenbögen und Thorwegen u. s. w. schliefen. Dabei hat sich aber der Gesundheitszustand gegen früher bedeutend gebessert. London ist die gesündeste Stadt der Erde, insofern hier im Vergleich zu allen andern großen Städten die wenigsten Todesfälle auf je eine bestimmte lebende Anzahl kommen. Früher kamen etwa 30 Todesfälle im Jahre auf je 1000 Personen, während den letzten 10 Jahren bis 1855 im Durchschnitt 25, im vorigen Jahre blos 22. In Berlin, Wien, Paris, Peking, New-York u. s. w. kommen zwischen 30 bis 50 Todesfälle auf je 1000 Lebende (das Zahlenverhältniß für die einzelnen großen Städte der ganzen Erde – bereits ermittelt – ist mir nicht gegenwärtig).

London ist nicht nur die größte, sondern auch am dichtesten bevölkerte Stadt der Welt, „eine ganze mit Häusern bedeckte Provinz“, sich über vier „Grafschaften“ Englands ausweitend, ein Viertel volkreicher als Peking, zwei Drittel als Paris, mehr als doppelt als Constantinopel, viermal als Petersburg, fünfmal als Wien, New-York und Madrid, siebenmal als Berlin, achtmal als Amsterdam, neunmal als Rom, funfzehnmal als Kopenhagen und siebzehnmal volkreicher als Stockholm. Es bedeckt 122 englische Quadratmeilen oder 78,029 Morgen Landes mit 327,391 Häusern,

  1. Wir müssen gestehen, daß wir trotz alle den schlagenden und geistreichen Aufstellungen unsers Londoner Freundes doch nicht recht an den raschen Verfall Englands glauben können. Die Lügen eines Staatsmannes – und daß Palmerston bezüglich China’s dem englischen Volke eine Nase gedreht, räumen jetzt selbst seine Freunde ein – die verwerflichen Manipulationen eines Regierungssystems, die Erbärmlichkeiten einiger hochstehenden Persönlichkeiten – das Alles kann ein Volk in der Entwickelung aushalten und an den Piedestalen seines sittlichen Werthes wie ein böser Wurm nagen, aber es gehören härtere Schläge und die hundertjährige Knechtschaft einer verbissenen und meineidigen Tyrannei dazu, um ein Volk so zu entsittlichen, daß es seinem raschen Verfall entgegengeht. Ohne von verschiedenen Theilen des eigenen Vaterlandes zu sprechen, was, fragen wir, wäre aus Frankreich geworden und welche Zukunft stände diesem Lande jetzt noch bevor, wenn der verderbliche Einfluß einzelner hochstehender Persönlichkeiten, ihre Meineide, Lügen und Corruptionen einen so großen Eindruck auf dan Volk geübt, daß sie nothwendig dessen Verfall bedingt hätten? Wo ist von Oben herab mehr gelogen, mehr betrogen, wo die Gesellschaft systematisch seit langen Jahren mehr corrumpirt und jeder sittlichen Unterlage beraubt worden, als in Frankreich? Wo liegen wahre sittliche Bildung, jede edlere freie Bewegung mehr zu Boden, als in dem jetzigen gepriesenen Frankreich, dessen edelste Geister entweder das harte Brod der Verbannung essen, oder sich schämen, in einer Presse mitzuwirken, die sie verachten? Selbst angenommen, daß in Frankreich mehr noch als in England die Symptome eines Verfalles zu Tage liegen; wollen und können wir deshalb daran zweifeln, daß mit dem Eintritt eines andern Regierungssystems auch die Symptome schwinden und der alte Aufschwung des sonst edlen Volkes eintreten muß und wird?
    Und doch wie hoch steht dagegen noch England mit seiner großartigen Productionskraft, seinen gesicherten Freiheiten, seiner in das Fleisch und Blut übergegangenen Constitution, seinem regen, stolzen Nationalsinn!
    Wenn auch das Mährchen vom Palmerston’schen Liberalismus selbst in Deutschland längst verklungen ist, wenn auch kein gesunder Mensch mehr an „Englands Mission“ glaubt, die Civilisation nach Osten zu tragen, obwohl die Thatsache feststeht, daß England von allen erobernden Nationen das Civilisiren immer noch besser versteht, als z. B. Frankreich und Rußland, die sich selbst noch zu civilisiren haben, wenn auch Vieles in England noch den Zopf hinten hat und die Macht des Reichthums dort einen größeren Druck ausübt, als in vielen andern Ländern, die vielen Vorzüge des englischen Staatslebens halten doch die Kraft des Volkes stets aufrecht und lassen einen Verfall des Landes nimmermehr zu.
    D. Redact.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 346. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_346.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)