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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

war indessen unerwartet schnell vorgeschritten; zwar immer von zartem Gliederbau, hatte ihre Gestalt doch das volle Ebenmaß des zur Jungfrau herangereiften Kindes gewonnen. –

Um diese Zeit präsentirte sich bei den Vorsteherinnen ein mit Empfehlungen versehener Künstler, welcher ehemals ein berühmter Schauspieler gewesen war, und der jetzt Declamationen und rhetorische Vorträge in Lehranstalten und geschlossenen Gesellschaften hielt. Ludwig M… war seiner Zeit nicht nur ein begabter Künstler, sondern auch ein durch Persönlichkeit ausgezeichneter Mann gewesen. Die Leichtigkeit, mit welcher er Liebesverhältnisse knüpfte und löste, war in den künstlerischen Kreisen sprüchwörtlich geworden. Diese Zeiten waren nun vorbei. Ein chronisches Leiden des Halses hatte ihm die Bühnen verschlossen; die Stimme reichte eben nur noch zum Lesen in kleineren Räumen; die Einnahmen derartiger Productionen waren nicht bedeutend genug, um die gewohnte bequeme, fast üppige Lebensweise fortsetzen zu können; mit dem Lüstre der Theaterlampen erlosch zugleich der Lüstre der persönlichen Erscheinung. Er hatte gegenwärtig die Mitte der vierziger Jahre erreicht, aber die vollendete Kunst, mit der er sich kleidete und ajustirte, ließ ihn höchstens für einen Dreißiger halten. Eine Mischung von künstlerischer Eleganz und genialer Nachlässigkeit erhöhte die Anmuth seiner Haltung, seine Unterhaltung war, wenn auch ein wenig süßlich, dennoch lebendig, immer verbindlich und voller Galanterie gegen Damen. So trat M. in dem Institute auf, bezauberte die Vorsteherinnen, entzückte die Zöglinge und ging mit Bereitwilligkeit auf den Vorschlag ein, längere Zeit am Orte zu verweilen, und den jungen Damen des Instituts einen Lehrcursus der „Declamation und Rhetorik“ zu ertheilen. Aus den Declamationen wurden Leseabende mit vertheilten Rollen; bald legte man die Bücher bei Seite und schritt zur Action der Stücke selbst; endlich ging man zu wirklichen theatralischen Vorstellungen über, bei denen selbst die jüngere der beiden Vorsteherinnen mitzuwirken nicht verschmähte. Eine wahre Leidenschaft für theatralische Aufführungen bemächtigte sich des Städtchens, und die Theatervorstellungen im Institut, unter Leitung und Mitwirkung des berühmten M., bildeten den Gegenstand des ausschließlichen Interesses für Alt und Jung.

Louise war augenscheinlich die befähigtste von allen Zöglingen des Instituts; sie entwickelte auch das hervorragendste Talent für die Darstellung, so daß sie die bedeutendsten Rollen erhielt und am meisten mit M. in Berührung kam. Mit dem jungen Mädchen war eine große Veränderung vorgegangen. Sie, sonst so scheu und zurückhaltend, war oft einer ausgelassenen Lebendigkeit hingegeben; dann kamen wieder Stunden tiefer Niedergeschlagenheit, in denen sie sich in ihr Zimmer verschloß, das sie um keinen Preis verlassen mochte. Man entschloß sich, den Arzt zu consultiren, und dieser verbot ihr die fernere Theilnahme an den theatralischen Schaustellungen unbedingt. Sie war außer sich darüber – aber die Vorsteherinnen wagten es nicht, dem peremtorisch ausgesprochenen Willen des berühmten Arztes entgegen zu treten; fürchteten sie doch selbst, schon zu weit gegangen zu sein. Mit der Betheiligung Louisen’s hörte auch der Eifer des Dirigenten auf, die Vorstellungen erreichten ihr Ende und der Künstler verabschiedete sich.

Louise hatte bei ihrem Vater und der Stiefmutter die Erlaubniß nachgesucht und erhalten, noch ein Jahr in der Anstalt zu bleiben, theils zu ihrer weiteren Ausbildung, theils um den Vorsteherinnen im Unterrichte beizustehen und ihre Kräfte in Anwendung des Erlernten zu versuchen. In der That wendete sie sich dieser neuen Thätigkeit mit einem fast krankhaften Eifer zu, mußte aber bald davon abstehen; ihre Gesundheit begann zu leiden, die Vorsteherinnen wurden ängstlich, der Arzt schüttelte bedenklich den Kopf, empfahl Schonung und Gemüthsruhe. Eines Mittags rief man sie vergeblich zu Tisch. Man glaubte, sie habe sich eingeschlossen, und ließ sie gewähren; als es aber Abend wurde, ohne daß sie sichtbar ward, öffnete man die Thür mit Gewalt und fand das Zimmer leer. Das unheimliche Wesen ihres Zöglings hatte schon längst beängstigend auf die beiden Damen gewirkt. Sie griffen zu einem Zufluchtsmittel, welches an sich seltsam, aber für ein weibliches Gemüth in ähnlicher Lage naheliegend genug ist. Sie öffneten den Schreibtisch Louisen’s, – ihre Ahnung hatte sie nicht betrogen – da lag das Unglück mit Händen greifbar vor ihnen: eine Anzahl Liebesbriefe des Schändlichen, dem sie selbst in thörichter Verblendung ihr Haus geöffnet, dem sie das Werk des Verderbens erleichtert hatten! Und sie lasen und lasen in steigender Angst, – schüchterne Erklärungen, feurige Schwüre, dringende Bitten, Gewährung einer Zusammenkunft – immer glühender wurde die Sprache, immer vertraulicher der Ton – sie brauchten nicht weiter zu lesen – sie wußten Alles.

Und wenn sie es noch nicht gewußt hätten, der gellende Schrei hätte es ihnen gesagt, mit dem Louise, in’s Zimmer tretend, ohnmächtig zusammensank, als sie die Briefe in den Händen der Schwestern erblickte.

Was war zu thun? Wie war das Unglück zu verheimlichen, die unauslöschliche Schande von dem Institut, von der Familie des unglücklichen Mädchens abzuwenden?

Als Louise zu sich gekommen war, sprach sie mit einer Ruhe von ihrer Lage, die Entsetzen erregte.

„Das sicherste Mittel, Ihnen und den Meinigen die Schande zu ersparen, welche das Bekanntwerden meines Fehltrittes nach sich ziehen muß, ist, daß Sie mich nicht hindern zu fliehen, daß Sie mir einen hinreichenden Vorsprung lassen. Ich schwöre Ihnen, daß ich niemals wiederkehre, daß Niemand von mir hören soll wenigstens nicht als von einer Lebenden.“

Die Schwestern waren außer sich. Dies sei der sicherste Weg zu ihrem Verderben, diese Flucht wälze erst recht unauslöschliche Schande auf ihre Anstalt. Sie weinten, schluchzten, beschworen Louise, an nichts Gewaltsames zu denken, ihnen zu vertrauen. Louise hatte Mitleiden mit ihren Lehrerinnen, sie gab nach. Sie öffnete den beiden alten Mädchen ihr Herz und alle Drei weinten zusammen herzliche Thränen über die Bosheit des leichsinnigen Verführers, über das geknickte junge Lebensglück. Keine Hoffnung war Louisen geblieben, keine trostreiche Täuschung – sie wußte Alles. Sie wußte, daß sie bethört war, wie man ein junges, unerfahrenes, schwärmerisches Herz bethört, aus Laune, aus flüchtiger Lust, aus Reiz an der zuckenden Bewegung eines gebrochenen Herzens. Sie kannte ihn jetzt, der ihr das Ideal männlicher Vollkommenheit gewesen. Sie hatte seine niedrige Seele durch die gleißende Hülle hindurch erkannt. Zur nämlichen Zeit, als er ihr ewige Liebe schwor, die Flucht mit ihr vorbereitete, unterhielt er Liebeshändel mit noch einem Dutzend Anderer, die er mit den nämlichen Schwüren hinterging. Sie verachtete ihn – aber sie verabscheute sich. Sie verabscheute und verfluchte sich, sie verfluchte das Kind, das sie unter ihrem Herzen trug, und schwor, daß sie es niemals sehen wolle.

Sie war nicht zu beruhigen, denn sie war bei alledem eigentlich äußerlich ruhig; es war die Resignation der Verzweiflung, die aus ihr sprach. Es blieb nichts übrig, als den Arzt zu Rathe zu ziehen. Man traf die nöthige Abrede mit einer jungen Frau, welche in einem kleinen Walddorfe in einem abgelegenen Häuschen wohnte, und deren Niederkunft gleichfalls bevorstand. Zu dieser begab sich Louise, und genas hier in aller Stille eines Knaben, welcher auf den Namen der armen Uhrmachersfrau getauft wurde. Das Kind, welches sie selbst zur Welt brachte, war ein todtgeborenes; der Knabe Louisens galt für das ihre. Die Vorsteherinnen sorgten für die Bedürfnisse des Kindes reichlich, zumal der Mann der armen Frau bald darauf starb, ohne ihr etwas Mehreres als das kleine Häuschen zu hinterlassen. Louise leerte ihre Sparbüchse in die Schürze ihrer Pflegerin und versprach, sie niemals zu vergessen, wenn sie ihr Versprechen halte, dem Kinde niemals zu sagen, wer seine Mutter sei.

Ihre Absicht war, nicht in das elterliche Haus zurückzukehren, sondern im fernen Auslande eine Stelle als Lehrerin oder Erzieherin zu suchen. Wider Erwarten verweigerte der Vater seine Zustimmung, – auch die Stiefmutter war entschieden dagegen. So kehrte sie wieder in das Elternhaus zurück. Sie war angegriffen bleich, ein Zug unverwischbaren Schmerzes lag auf ihrer weißen Stirn, auf den fein gewölbten Brauen. Wer sie sah, mußte sich von der zarten, leidenden Gestalt angezogen fühlen. Selbst die Stiefmutter empfand diesen Eindruck. Es erbarmte sie des traurigen, mutterlosen jungen Geschöpfs; sie schloß sich inniger an Louise an, sie lernte sie lieben und so wurde sie, die Unglückliche, Gebeugte, der Mittelpunkt des ganzen Familienkreises, in welchem sich jeder beeiferte, dem kranken Kinde Liebe und Freundlichkeit zu erweisen.

Dieses allgemeine Entgegenkommen drückte sie nieder und that ihr zugleich wohl. Sie war von unvergleichlicher Sanftmuth, nie kam ein unfreundliches Wort über ihre Lippen; aber dieselben Lippen hatten auch das fröhliche Lachen verlernt. So lernte sie den Kriegsrath kennen. Ihr Wesen zog ihn an, fesselte ihn um so

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 351. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_351.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)