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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Inzwischen war die Frist beinahe abgelaufen, innerhalb deren bei Vermeidung der Präclusion der Anspruch auf die Versicherungssumme erhoben werden mußte; es fehlten noch fünf Tage, und der Agent, welcher eben bei mir war, erwog, welche Chancen dafür sprächen, daß die Voraussagung Mr. Pirrie’s sich nicht erfüllen möchte. Da trat unerwartet und unangemeldet der Major ein.

„Haben die Herren von der Justiz gedacht,“ sagte er in halb mürrischem, halb spöttischem Tone, „daß ich alter Haudegen vor Ihrem grünen Tisch retirirt sei? Ich hatte Besseres zu thun, als dort Rede und Antwort zu stehen; – es galt, die Ehre meines verstorbenen Freundes zu retten. Gottlob, ich kann es vor aller Welt beweisen, daß er sie unbefleckt erhalten hat bis zum letzten Athemzuge.“

Der Agent wußte nicht, was er sagen sollte. Ich fragte den Major, ob er von den bisherigen Ermittelungen unterrichtet sei? Er wußte Alles.

„Und nun haben die klugen Herren Geldmänner geglaubt,“ fuhr er zum Agenten gewendet fort, „daß der arme, unglückliche Bursche, der sein ganzes Leben lang treu und lauter war wie Gold, daß er zu guter Letzt eine Komödie mit seinem Tode aufführen würde, um die Herren von der Gesellschaft um ihr Geld zu betrügen? daß auch Dieser und Jener –! doch nein – ich will mich nicht ärgern! Wissen Sie,“ sagte er, seinen Stuhl dicht an den des Agenten heranrückend, „wer der Eigenthümer der Versicherungssumme ist, wenn Ihr feiner Calcul stimmte? – Hier! Sehen Sie her! Ich, der Major von Sebald!“ Damit langte er in seine Tasche und präsentirte dem Agenten mit der einen Hand eine Testamentsausfertigung, mit der andern die Police. Inhalts des Testaments war die Versicherungssumme an den Major zahlbar. „Und hier,“ fuhr der immer eifriger werdende alte Soldat fort, „mache ich meinen Anspruch geltend passen Sie wohl auf: so! – und so! – und so!“ Und bei jedem „so!“ riß er die Police und deren Bruchstücke mitten durch und warf sie dem verblüfften Geschäftsmanne vor die Füße.

Endlich wurde er ruhiger und begann im Zusammenhange zu erzählen, das heißt, so weit er bei seiner noch immer erregten Gemüthsstimmung im Stande war, den Sachverhalt zusammenhängend vorzutragen. Folgendes war die schließliche Lösung des ganzen Geheimnisses, wie es sich aus dem umständlichen Bericht des Majors ergab.

Der Fremde, welcher dem Kriegsrath das Packet Briefe ausgehändigt hatte, war Niemand anders, als der Verführer Louisens, der ehemalige Schauspieler und Rhetor M…, gewesen. Er war im Laufe der Zeit auf der untersten Stufe der Verkommenheit angelangt und beutete seine letzten Hülfsquellen gewerbsmäßig aus: er brandschatzte alle diejenigen, von deren Hand er aus früherer Zeit Briefe discreten Inhalts besaß. Der Kriegsrath hatte ihm die Briefe Louisens für eine ansehnliche Summe abgekauft und der Elende hatte gelobt, niemals mehr lästig zu fallen. Es war voraus zu sehen, wie wenig er dies Versprechen halten würde, und er sah seinen Vortheil nur zu gut, da er sofort erkannt hatte, wie überaus peinlich der Kriegsrath in Allem war, was die Ehre seines Namens betraf. Immer von Neuem kam der wüste Mensch mit Forderungen aller Art, er drohte zuletzt mit scandalösen Enthüllungen und der Veröffentlichung seiner früheren Beziehung zur Gattin des Kriegsraths. Dieser war einem solchen Subject gegenüber wehrlos, die Hülfe der Justiz oder der Polizei mochte er nicht anrufen, denn damit hätte er zugleich seine Familienschande Preis gegeben. Die immer dringender werdende Rücksicht, für den Fall seines unerwarteten Todes die Existenz seiner Gattin sicher zu stellen und das Versprechen zu halten, das er der blonden Marie gegeben, bestimmte den Kriegsrath, sein Leben mit dem Rest seines vorhandenen Baarvermögens zu einem hohen Betrage zu versichern. Die laufenden Policenbeträge hoffte er von seiner Pension entrichten zu können, da er Willens war, sich nach einem kleinen Orte zurückzuziehen und seinen Lebensunterhalt mit der Feder zu erwerben. M… war eine Zeit lang verschwunden und der Kriegsrath hoffte für immer von ihm erlöst zu sein, – aber der Nichtswürdige hatte sich an ihm festgesogen und beschloß, ihn nicht mehr los zu lassen. Es war ihm gelungen, auszuforschen, daß die Frucht seines Umganges mit Louisen noch lebte, daß der Knabe in eine fremde Familie eingeschmuggelt worden war und sich hier am Orte aufhielt, ja, daß er eine der Polizei anrüchige Person sei und im Verdacht stehe, an einem jüngst entdeckten Verbrechen Theil genommen zu haben. Mit diesen Entdeckungen trat er aufs Neuee vor den Kriegsrath und stellte Forderungen, welche jener zu gewähren gänzlich außer Stande war. Der Gauner drohte mit dem Schlimmsten: er drohte Frau von P. in eine Criminaluntersuchung wegen Unterschiebung eines Kindes zu verwickeln, wenn man ihn nicht mit einer bedeutenden Summe abfände. Und hätte man sie ihm gegeben, er würde immer von Neuem gefordert haben, denn mit einer Art wahnsinniger Hast vergeudete er Alles in Gesellschaft gefährlicher Subjecte in wüsten Orgien. Die Kraft des Kriegsraths war gebrochen: er sah seinen mit Ehren getragenen Namen beschmutzt, in den Staub gezogen, er sah mit Fingern auf sich gewiesen, und fand keinen Ausweg als den Tod. Denn er wußte, daß der böse Feind nur durch die Aussicht auf Gewinn zur Fortsetzung seiner Schändlichkeiten bewogen wurde, die, einmal ruchbar geworden, ihm selbst verderblich werden mußten. Hatte er vom Kriegsrath nichts mehr zu hoffen, so konnte man sicher sein, daß er alle weiteren Behelligungen aufgeben würde. Daß er sich niemals an Frau von P. selbst gewendet hatte, ließ schließen, daß er diesen Weg überhaupt nicht einzuschlagen gedenke. Denn er verhandelte in allen diesen Angelegenheiten regelmäßig nicht mit den Frauen, sondern mit deren Männern oder sonstigen männlichen Angehörigen. So reifte der Entschluß in dem Kriegsrath, sein Leben freiwillig zu enden.

Seit Marie das Haus seiner Gattin auf deren Wunsch verlassen hatte, war sie nach Westphalen gezogen und hatte sich dort verheirathet. Sie, ihr Mann (ein Forstmann) und ihre Kinder hingen an dem Kriegsrath mit unbegrenzter Liebe und Verehrung; er pflegte sie in jedem Jahre zu besuchen und einige Tage in dem einsamen Försterhause, unter den blühenden Kindern zu verleben, die dem ernsthaften Herrn Vetter nicht von der Seite gingen. Hier pflegte er Kraft und Trost zu sammeln, sein vereinsamtes Leben mit Geduld zu ertragen. Der Mann Marien’s, diese selbst hatten ihn mit Thränen gebeten, nach Westphalen, in ihre Nähe oder gar zu ihnen selbst zu ziehen, sie wollten ihn auf den Händen tragen, ihm jeden Wunsch an den Augen absehen – er hatte nur traurig mit dem Kopfe geschüttelt und sie hatten ihn verstanden.

Marie kannte die ganze Geschichte seines Familienunglücks, sie hatte sie mehr mit dem Instinct eines treuen weiblichen Herzens, als durch Fragen und Antworten errathen. Als das Unerwartete geschehen war, trieb es den Major zunächst bei ihr Aufschluß zu suchen, denn er sagte sich, daß der Kriegsrath nicht freiwillig aus dem Leben geschieden sein würde, ohne ein Wort des Abschiedes an sie zu richten. Und so war es in der That. Als Marie den Major eintreten sah, wußte sie bereits, aus welchem Anlaß er kam; es war ein Jammer, bei dessen Erzählung der alte Soldat Thränen vergießen mußte, und der den Agenten und mich nicht weniger rührte. Der Kriegsrath hatte ihr geschrieben, daß sie einander nicht mehr sehen würden, er scheide, ohne das Versprechen erfüllen zu können, das er ihr gegeben. Für seine Frau sei zur Noth gesorgt; aber Marie möge sie nicht verlassen, wenn sie ihrer bedürfe; das solle sein Vermächtniß sein. Dem Major solle sie nach drei Monaten das beigefügte Kästchen übersenden und ihm, wenn er es verlange, das Nähere mittheilen. Das Kästchen enthielt das verhängnißvolle Schachspiel. Außerdem übergab sie ihm zwei Papiere: einen Recognitionsschein über ein bei der Gerichtsbehörde zu S. niedergelegtes Testament, und die Lebensversicherungspolice. Ein Schreiben des Verstorbenen, augenscheinlich am Todestage geschrieben, lautete:

„Ich scheide ohne Abschied, alter Camerad, ich weiß, Du vergibst mir und gedenkest meiner in Treuen. In meinem Testament hatte ich Dich zu meinem Erben eingesetzt, damit Du die Summe, zu welcher ich mein Leben versichert hatte, empfangest und zwischen meine unglückliche Frau und Mariens Familie vertheilest. Das ist nun eine vergebene Mühe gewesen – ich habe keinen Anspruch auf diese Summe, und Deine Mühe wird gering sein. Suche alle Nachforschungen über die Art meines Todes zu vermeiden – ich wollte ohne Lärm und Aufsehen aus dem Leben scheiden. Mein Tod kränkt Niemanden, als die in Treuen zu mir standen, und diese werden mir verzeihen.“




Ich habe zum Schlusse nur noch wenig hinzuzufügen. Der Major hatte es sich angelegen sein lassen, den Aufenthaltsort des ehemaligen Komödianten zu ermitteln. Er war zu ihm gegangen und hatte ihm zwei blank geputzte kleine Terzerole gezeigt und in

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 355. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_355.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)