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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Straßen und Plätze hin und her kamen, um sich zu dem Mittagessen und zu der kurzen Mittagsruhe zu begeben.

Mitten in dem Gedränge, gleich hinter der Spittelkirche, dort wo der Eingang zu der sogenannten Sparwaldsbrücke sich befindet, stand ein hübscher junger Mann, schwarz gekleidet, mit einem kleinen schwarzen Schnurrbärtchen und großen lebhaften schwarzen Augen; man konnte ihn für einen Maler halten. Er stand einige Schritte seitwärts von dem Trottoir und blickte nach der Leipziger Straße hin, als wenn er dort Jemanden erwarte. Hatte er wirklich Jemanden erwartet, so konnte es nur die schöne Blondine sein; denn als er diese sah, trat er näher an das Trottoir heran, als wenn er ihr dort begegnen wolle.

Das Alles hatte man schon seit vierzehn Tagen bis drei Wochen sehen können. Jeden Mittag um zwölf Uhr kam das junge Mädchen aus der Leipziger Straße und ging in die Wallstraße hinein. Jeden Mittag stand hinter der Spittelkirche an der Sparwaldsbrücke schon wartend der junge Mann mit den großen schwarzen Augen und dem kleinen schwarzen Schnurrbärtchen. An den Tagen vorher hatte man aber auch noch mehr sehen können. Wenn der junge Mann und das schöne Mädchen einander sahen, dann lächelten ihre Augen unwillkürlich sich Seligkeit entgegen, und still nahm er ihren Arm und legte ihn in den seinigen, sie stützte sich still, aber recht innig und fest auf ihn und so gingen sie in dem Gedränge neben einander, bis man sie tief hinten in der Wallstraße aus den Augen verlor.

Ich selbst, der Schreiber dieser Zeilen, habe das schöne Paar manchen Mittag so gesehen, liebend, geliebt, glücklich, selig. Ich wußte nicht, wer sie waren; ein Maler oder Lithograph er, dachte ich, eine Putz- oder Schneidermamsell sie. Aber, mochten sie sein, wer sie wollten, mein Herz mußte ihnen jedesmal einen stillen Segen voll langen Liebesglückes zurufen. Sie sah ja so fromm, so unschuldig und demüthig aus, so kindlich demüthig und doch wieder so kindlich stolz in ihrem Glücke, an dem Arme des jungen Mannes. Und er – aus dem jugendlichen, frischen Mannesgesichte leuchtete Geist, Muth und Edelsinn hervor, und doch manchmal mußte mich, wenn ich sie sah, plötzlich eine heiße Angst überfallen. Sie war ein so durch und durch unschuldiges, unbefangenes und unerfahrenes Kind. War aber er nicht ein junger Mann, vielleicht ein Sohn der großen Residenz, aufgewachsen in und vertraut mit allen ihren Lastern, mit ihrer ganzen Verderbtheit und Gewissenlosigkeit? Allein, wenn er auch ebenfalls unverdorben und von bravem Charakter war, sie waren Beide ohne Vermögen, das sah man ihnen leicht an; wie lange konnte es dauern, ehe sie an das Heirathen denken durften; sie waren nicht einmal öffentlich, vor Verwandten und Freunden erklärte Brautleute; wie hätten sie sonst flüchtig in dem Gedränge der Mittagsstunde in einer Gegend der großen Stadt sich aufgesucht, wo sie darauf rechnen konnten, nur von Unbekannten gesehen zu werden? Sie waren nur Liebende, die vor den Ihrigen ihre Liebe verbergen mußten. Konnten sie nicht auch einmal zu anderer Zeit, in einsamer, menschenleerer Gegend sich zusammenfinden? Heimlich, süß, gefährlich? Mußte nicht ein Verlangen, ein heißes und immer heißeres Sehnen danach in den liebenden, feurigen, jugendlichen Herzen erwachen? Und dann? Was ist die Tugend der Jugend?

Heute sollte ein Unfall das jugendliche Zusammentreffen der beiden Liebenden stören. Als sie sich gewahrten, verklärten sich die schönen Gesichter wie sonst. Der junge Mann reichte ihr seinen Arm; sie legte den ihrigen hinein; ihre Hände drückten sich; ihre Augen lächelten sich voll Seligkeit an. So gingen sie, ein liebliches, reizendes Bild, die alte, häßliche Wallstraße hinunter.

„Guten Morgen, meine liebe Emma,“ hatte er sie gegrüßt.

„Du hast schon auf mich gewartet, Rudolf?“

„Du bist länger geblieben, als sonst.“

„Sei nicht böse. Die Directrice hatte wieder den Doppellouisd’or vergessen, den sie mir schon gestern mitgeben wollte, um die Rechnung zu bezahlen; ich erzählte es Dir.“

Der junge Mann hatte diese unbedeutende Mittheilung mit einem gewissen Interesse angehört.

„Du hast das Geld?“ fragte er mit demselben Interesse, das er freilich unter einem gleichgültigen Tone der Frage zu verbergen suchte.

„Ich habe es. Sie rief mich zurück, um es mir zu geben, als ich schon auf der Straße war. Darum hast Du auf mich warten müssen.“

„Um so größer war meine Freude, als ich Dich sah.“

„Ich fürchtete schon, Dich nicht mehr zu finden, und eilte deshalb.“

„Wie konntest Du fürchten?“

„Ach, Du hast ja nur diese eine Stunde zum Mittagessen, und da mußt Du noch den weiten Weg bis hinten in die Königsstadt machen.“

„Und Du meintest, ich hätte nicht einmal auf mein Mittagessen verzichten können, um Dich zu sehen?“

„Vergib mir, Du hast Recht. Mir würde ja kein Bissen geschmeckt haben, wenn ich Dich nicht gefunden hätte.“

Der junge Mann schien noch etwas Anderes auf dem Herzen zu haben, als seine Liebe zu dem schönen Mädchen und sein Interesse für den Doppellouisd’or.

„Ist der Fremde bei Deiner Mutter eingezogen?“ fragte er seine Begleiterin.

„Ja,“ erwiderte sie lebhaft, und die unbedeutenden Thatsachen, die sie nun erzählte, schienen für sie nicht minder wichtig zu sein, wie für den jungen Mann; der Grund ihrer Theilnahme mochte freilich ein völlig verschiedener sein. – „Ja, schon gestern Abend. Und denke Dir, er hat drei Zimmer gemiethet, und gleich auf einen ganzen Monat.“

„Drei Zimmer?“

„Drei. Er sagte, er werde manchmal Besuche bekommen, und dafür müsse er ein besonderes Zimmer haben; das zweite hat er zum Arbeiten und das dritte zum Schlafen. Alle drei Stuben gehen in einander. Es sind die drei am Korridor links; ich habe Dir ja unsere Wohnung beschrieben.“

„Ja, ja,“ sagte der junge Mann, wie mechanisch. Er schien angelegentlich über etwas nachzusinnen.

Das Mädchen fuhr fröhlich plaudernd fort: „Ein eigner Kauz scheint er zu sein, dieser kleine, runde, alte Herr. Und in einer großen Stadt ist er wohl noch nie gewesen. Zu Fuße, sagte er, habe er in den geraden breiten Straßen, wo einem immer die Sonne auf den Kopf scheine, und auf den platten und glatten Steinen beinahe gar nicht gehen können; und die Droschken führen ja so langsam und schwer und knarrend, wie alte Mistwagen.“

„Er ist wohl vom Lande?“ fragte der junge Mann.

„Er hat nicht sagen wollen, woher er sei; er ist überhaupt sehr geheimnißvoll, und wollte nicht einmal seinen Namen nennen, wir sollten ihn nur Herr Ehrenreich rufen, und als meine Mutter ihm bemerkte, daß sie ihn bei schwerer Strafe auf der Polizei anmelden müsse, meinte er, er stehe für Alles ein, und habe die Sache mit der Polizei schon abgemacht.“

Die Oberlippe des jungen Mannes zuckte etwas sonderbar unter dem schwarzen Schnurrbärtchen, bei dieser Mittheilung der plaudernden schönen Blondine. Sie sah es nicht und fuhr unbefangen fort: „Und auch reich, sehr reich muß er sein. Er hatte, als er angekommen war, ein kleines, aber schweres Kästchen bei sich, das er wie seinen Augapfel hütete. Die neugierige kleine Anna hat es aufheben wollen. Es ist ihr beinahe zu schwer gewesen; sie meinte, es müsse lauter Gold darin sein. Er hat es bald sehr sorgfältig in dem Kleiderschranke neben seinem Bette verschlossen, und den Schlüssel zu sich gesteckt.“

Der junge Mann hörte Alles mit fortwährender gespannter Aufmerksamkeit an.

„Hat er nicht gesagt, welche Geschäfte er hier habe?“

„Er hat nicht davon gesprochen.“

Das Gedränge in der Wallstraße um die Mittagszeit zieht sich bis tief in die Straße hinein. Die Arbeiter kommen von beiden Enden der Straße; von dem Spittelmarkte her die eleganteren aus den eleganten Quartieren der Stadt; von der Waisenbrücke her die gröberen aus den Zuckersiedereien, aus den Färbereien, von den Holzplätzen u. s. w. Die beiden Liebenden waren in dem Gedränge weiter gegangen, nur mit einander und mit ihrem Geplauder beschäftigt. Straße, Menschen und Gedränge um sie her waren für sie nicht da; für das Mädchen gewiß nicht, für den jungen Mann schien es so, wenn man das gespannte und doch so nachsinnende Auge ansah, während er seiner Begleiterin zuhörte.

So gewahrte sie nicht, und er schien es nicht zu gewahren, wie auf einmal ein kleiner, gedrungener Mensch, gekleidet wie ein Arbeiter, der aus der Fabrik kommt, rasch an ihnen vorüberging, und in dem Augenblicke, als er neben ihnen war, dem Mädchen

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