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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

„Wenn sie zu schnell fahren, wirft der Wagen um.“

Der Herr Henne hatte sich unterdeß angelegentlich, aber vorsichtig nach allen Seiten in dem Zimmer umgesehen; vorsichtig, als wenn der Herr Ehrenreich es nicht bemerken solle.

„Auf welcher Spur, Herr Ehrenreich? Sie wissen, er war ohne alle Spur verschwunden, nachdem er den großen Herrn genug gespielt und Geld genug durchgebracht hatte.“

„Gott verdamme den Burschen.“

„Ich meinte, Sie wollten ihn lieber mit heiler Haut wieder haben?“

„Erzählen Sie.“

„Die Polizei rannte sich vergebens die Beine nach ihm ab; selbst der Polizeidirector, der mit seiner feinen Nase Alles aufspürt.“

„Darum wandte ich mich an Sie; Sie waren mir besonders empfohlen.“

„Sie sollen sich in mir nicht geirrt haben. Also er war verschwunden. Kein Mensch sah oder hörte von ihm; in keinem Hôtel, in keinem Schauspiel, nicht auf der Straße, nicht in der Tabagie. Meine Freunde, die durch die ganze Stadt und überall hinkommen, hatten nichts von ihm gesehen. Auf einmal erfahre ich heute zufällig, daß schon seit vierzehn Tagen ein schmucker Bursch, mit einem verdammt vornehmen Gesicht, mit großen schwarzen Augen und einem kleinen schwarzen Schnurrbart –“

„Das ist er, das ist er! Wo treibt der Bursch sich herum?“

„Geduld, Geduld, Herr Ehrenreich. Er hat sich das Ansehen so eines jungen Künstlers gegeben.“

„Der Spitzbube! Aber, ja, ja, in der Residenz der Künste und Wissenschaften! – Weiter, weiter, Herr Henne.“

„Diesen Menschen nun hat man seit vierzehn Tagen, und vielleicht schon länger, tagtäglich um zwölf Uhr Mittags Arm in Arm mit einem jungen Mädchen –“

„Hol’ ihn der Teufel!“

„So einer Schneidermamsell –“

„Hol’ sie der Teufel!“

„Einer ganz hübschen Person, über den Spittelmarkt gehen sehen.“

„Wo ist Ihr Spittelmarkt?“ rief der hastige alte Herr, indem er schon nach Hut und Stock langen wollte.

„Geduld, Geduld, Herr Ehrenreich, es ist noch lange nicht Mittag, und Sie können es auch näher haben.“

„Näher? Was wollen Sie damit sagen?“

„Der junge Mensch hat zwar seine Sache recht listig angefangen. Auf dem Spittelmarkte war er nahe genug bei dem Molkenmarkte, dem Mittelpunkte unserer Polizei, und gerade um die Mittagszeit sind dort sämmtliche Polizeicommissarien von Berlin, Criminal- und Reviercommissarien zur Conferenz oder zum Rapport versammelt. Ach, mein Herr, Sie glauben nicht, was das für eine weise und wohlthätige Einrichtung unseres Herrn Polizeipräsidenten ist; alle Spitzbuben Berlins wissen jeden Tag genau, wo sie von halb zwölf bis ein Uhr die Berliner Polizei zu finden haben, und daß sie dann anderswo nirgends zu finden ist.“

„Herr,“ rief der ungeduldige Herr Ehrenreich, „was geht mich Ihre weise Polizei hier an?“

„Ich denke, viel. Indeß seit drei Tagen muß doch der junge Mensch sich auf dem Spittelmarkte nicht recht sicher mehr gefühlt haben; man hat weder ihn noch seine Blondine mehr gesehen. Auf einmal, heute Morgen um acht Uhr, hat man Beide wiedergefunden –“

„Beisammen?“

„Beisammen.“

„Und wo?“

„Hier, ganz in Ihrer Nähe.“

„In meiner Nähe?“

„Dieses ist nicht ihr einziges Zimmer, Herr Ehrenreich? Ich sehe kein Bette darin.“

„Was soll das?“

„Dieses Zimmer geht auf den Hof?“

„Sie sehen es ja.“

„Geht eins auf die Straße? Auf die Dresdener Straße?“

„Ja.“

„Kann man von da bis an die Ecke der neuen Dresdener Straße sehen?“

„Ich weiß den Teufel von Ihrer neuen Dresdener Straße.“

„Es kommt Alles darauf an. Darf ich Sie bitten, mich in das Zimmer zu führen?“

„Kommen Sie mit,“ sagte nach kurzem Besinnen der Herr Ehrenreich.

Der Herr Henne hatte mit einem gespannten Lauern seiner verschleierten Augen auf die Antwort gewartet. Seine Lippen zuckten wie triumphirend, als der Herr Ehrenreich die Thür zu seinem Arbeitszimmer öffnete, um ihn in dieses hineinzuführen; als er aber darin war, schien er nicht völlig befriedigt zu sein.

„Ah, man sieht hier ja nichts, als die Häuser gegenüber.“

„Was wollen Sie denn sehen?“

„Ich sagte es Ihnen schon, die Ecke der neuen Dresdener Straße. Wissen Sie, mein Herr, an dieser Ecke hat man heute den jungen Mann mit dem Mädchen gesehen; an dieser Ecke wird man ihn gewiß heute Mittag wiedersehen; denn um acht Uhr gehen die Schneidermamsells zur Arbeit und um zwölf Uhr kommen sie zurück.“

Der Herr Ehrenreich sah schnell nach seiner Uhr.

„Jetzt ist es halb zwölf.“

„Richtig, und wenn Sie noch ein anderes, drittes Zimmer haben, aus dem man weiter in die Straße hineinsehen kann –“

„Man kann.“

„So hätte ich folgenden Plan – Aber ich müßte vorher das Zimmer sehen.“

„Kommen Sie,“ sagte, ohne sich zu besinnen, der Herr Ehrenrenreich, und er führte den Mann mit dem lauernden verschleierten Blicke in seine Schlafstube.

„Ah, Herr Ehrenreich, vortrefflich, wie gemacht für meinen Plan. Sie wollen von dem Burschen nicht gesehen sein?“

„Nein! Darum gehe ich ja nicht einmal auf die Straße.“

„So haben Sie sich nur an dieses Fenster hier hinter die Gardine zu stellen. Jene Straßenecke dort links ist die der neuen Dresdener Straße; in diese geht er hinein und kann Ihren Augen nicht entgehen. Ich verfüge mich zu gleicher Zeit unten in die Straße selbst. Er kennt mich nicht, ich ihn freilich auch nicht; aber, so wie ein Bursch von der beschriebenen Gestalt vorbeigegangen ist, geben Sie mir einen Wink, daß es der Rechte ist; und ist er es, so haben wir ihn.“

„Um zwölf, Herr Henne?“

„Glocke zwölf. Haben Sie sich die Straßenecke genau gemerkt? Da unten, etwas links.“

Herr Ehrenreich sah scharf nach der bezeichneten Gegend, um sie sich recht genau zu merken. Ersterer sah sich unterdeß nicht minder scharf in der Schlafstube des alten kleinen Herrn um, und jetzt schien er völlig befriedigt zu sein.

„Ich gehe auf meinen Posten.“

„Ich werde auf dem meinigen sein.“

Der Herr Henne ging. Als er fort war, trat die Frau Rohrdorf zu dem alten Herrn in die Stube. Ihr Gesicht trug noch die Spuren, wenn auch nicht mehr des Schreckes, doch einer großen Aengstlichkeit.

„Wissen Sie, wer der Mensch ist, der bei Ihnen war?“

„Gewiß, Madame.“

„Sie kennen ihn?“

„Nun ja.“

Die Frau erschrak nochmals und sah den alten Herrn mit einem nicht zu verbergenden Mißtrauen an. Dieser bemerkte es.

„Was wissen Sie denn von ihm, Madame?“

„Mein Herr, der Mensch heißt Henne –“

„So heißt er.“

„Und ist einer der gefährlichsten Diebe von Berlin.“

„Potz Wetter, Madam, das muß ein Irrthum sein!“

„Leider nicht.“

„Er ist mir gerade von der Polizei empfohlen.“

„Ein um so gefährlicherer Spitzbube ist er.“

„Ich verstehe Sie nicht.“

„Bis vor einem halben Jahre hat er nur gestohlen und in Zuchthäusern gesessen, und wenn daher die Polizei ihn jetzt empfiehlt, so ist er Polizeivigilant geworden.“

„Das heißt, Madame?“

„Ein Spitzbube, den die Polizei gebraucht, andere Spitzbuben einzufangen, und dem sie dafür seine eigenen Spitzbübereien nachsieht.“

„Madame, mit solchen Geschichten gibt sich die Polizei hier ab?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_410.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)