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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

im Nu alle Herzen. Selbst das des fünfundsiebzigjährigen Goethe war nach kurzer Unterredung mit Stumpff warm geworden. Ja, dieser Rühler war wirklich eine „merkwürdige Erscheinung.“

Goethe hätte der Welt mehr von diesem trefflichen deutschen Manne in London sagen sollen; er hätte es gekonnt, denn er wußte viel von ihm, wenn auch nicht 1824, als jener Brief geschrieben wurde, aber doch später. Der großherzoglich weimarische Minister kam nämlich mit dem zwanzig Jahre jüngern, königlich großbritannischen Harfenmacher in ein Freundschaftsverhältniß, so weit dies bei der gesellschaftlichen Stellung und Charakterindividualitat beider Männer möglich war.

Obgleich Stumpff mir nicht so nah gestanden hat, wie dem deutschen Dichterfürsten, so halte ich es doch für eine Pietätspflicht, dem deutschen Volke zu sagen, was ich von meinem hochsinnigen Landsmanne weiß.

Johann Andreas Stumpff wurde am 27. Januar 1769 zu Ruhla gothaischen Antheils im nordwestlichen Thüringerwalde geboren. Er legte später hohen Werth darauf, mit Mozart, für den er, wie wir sehen werden, mit reinster Begeisterung glühte, einen Geburtstag zu haben. Seine Eltern waren sehr schlichte fromme Leute, die ihren Kindern eine solide, gottesfürchtige Erziehung gaben. Der älteste von drei Brüdern, erlernte er, gleich ihnen, bei seinem Vater die einfache Kunst desselben, er wurde Claviermacher. Aus dem Stumpff’schen Hause in der Köhlergasse gingen jene wohltönenden Instrumente hervor, so schlicht, so ungekünstelt, so bescheiden, wie ihre Verfertiger, welche von Schullehrern und Musikverständigen auf dem Lande in Thüringen noch heute geschätzt werden. Sie verhielten sich zu den heutigen Piani’s wie die Lerche zur Nachtigall.

Der geistige Gesichtskreis im Hause des Claviermachers war ungemein beschränkt; außer Bibel, Gesangbuch und Katechismus gab es da keine Bücher. Der Drang des jungen Andreas nach höherer Lebenseinsicht wurde mit ihm größer, die gewaltige Sehnsucht nach einem ihm nicht klaren Lebensglück zersprengte ihm, wie er mir als reifer Mann erzählte, fast die Brust. Er lief auf die Bergkuppen seiner Heimath und ließ das trunkene Auge in die reiche Ferne schweifen, bis sie von den duftigen Schleiern des Abends verhüllt wurde; dann warf er sich zu Boden und weinte sich fast todt vor Sehnsucht. Als er mir die süßen Qualen dieser Sehnsucht schilderte, schloß ich ihn gerührt an meine Brust; ich kannte sie ja aus eigener Erfahrung; ich hatte sie auf denselben Bergen empfunden. Stumpff suchte Nahrung für seinen Geist; er las, was er von Büchern auftreiben konnte; er studirte Musik. Damals war Mozarts strahlender Stern in seinem Zenith. Stumpff konnte nur wenig von des großen Meisters Tonschöpfungen kennen lernen, aber dieses Wenige reichte hin, um seine Seele zu entflammen. Von den Dichtern fand er nur Klopstock’s Messias in seinem Kreise, der damals in den mittlern frommen Schichten der Gesellschaft wie ein Evangelium verehrt wurde. Goethe sah er persönlich im nahen reizenden Wilhelmsthal, dem Lustschlosse des weimarischen Hofes, und der talentvolle Knabe ahnete nicht, daß er mit dem vornehmen schönen Manne an der Seite des Herzogs in so innige Beziehung kommen sollte.

Eine unglückliche Liebe zu einer der reizendsten Töchter seines Geburtsthales gab seinem Drange ein bestimmtes Ziel. Fort mußte er in die Welt! Fort aus dem Thale, aus dem Vaterhause, wo er sich die Brust gepreßt fühlte, in die wogende, schwellende Brandung des Lebens! Als zwanzigjähriger, geschickter Künstler trat er bei einem Instrumentenmacher in Gotha in Arbeit; aber noch in demselben Jahre trieb es ihn nach der Weltstadt Hamburg. Dort hatte er seiner mir gegebenen Versicherung nach nur einen Wunsch: Klopstock zu sehen. Es glückte ihm endlich, und er spürte, von höchster Ehrfurcht durchschauert, große Lust, vor dem Dichter des Messias auf der Straße niederzufallen und ihn anzubeten. Ueber seine spätere Jugend will ich den edlen Mann selbst reden lassen. Die Stelle ist seinem letzten Briefe an Goethe (d. d. London, 16. Februar 1832, wahrscheinlich auch einer der letzten, welche der greise Dichter empfing) entnommen, der ihn gebeten hatte, ihm über seine Auswanderung aus Deutschland etwas mitzutheilen.

„Schon früh im Leben ward ich von einem unüberwindlichen Drange gequält, einen andern und bessern Wirkungskreis aufzusuchen, welchen mir meine kindische Phantasie so reizend vormalte. Ich verließ, noch sehr jung, das elterliche Haus und Alle, die mir theuer und denen ich es war, unter dem Vorwande einer kurzen Abwesenheit, um mich in die Welt zu stürzen, und ging nach Hamburg. Aber das rein materielle Leben dort konnte mir nicht genügen, der Aufenthalt in der großen Handelsstadt ward mir mit jedem Tage unerfreulicher. Das immerwährende Gerassel von Wagen und Karren mit ungeheuern Ballen und Fässern, die nach dem Hafen gingen oder von dort kamen, erschütterte das Pflaster und mein Gehirn; das Geschrei der Höker, das Gebrüll des Schlachtviehs erfüllte die Luft und meine Seele; das stündliche Glockengeläute von den Kirchthürmen marterte meine Ohren und meine Phantasie. Doch hatte ich auch einen Hochgenuß für das Herz, nämlich das Glück, den gottbeseelten Dichter Klopstock zu schauen, dessen Gesänge mein junges Herz oft über alles Irdische erhoben. Klopstock wohnte in der Königsstraße, und ich hatte seine Wohnung oft schon umschlichen, ohne seiner ansichtig werden zu können. Endlich erblickte ich ihn, wie er eben aus seiner Thüre schritt. Ich ging ihm mit bebenden Herzen durch manche Gasse und Gäßchen nach, bis ihn eine geöffnete Thür meinen Augen auf immer entriß. Doch könnte ich nach so vielen Jahren ein Bild seiner Person entwerfen.

Kaum hatte sich der Winter beurlaubt, als ich mich den Sturmwinden wieder anvertraute und auf einem Kauffahrteischiffe, Namens Ceres, die tobende Salzfluth durchschnitt. Nach acht Tagen begrüßten wir den Themsefluß und unser Schiff wurde von englischen Lootsen bis an die Häuser von London gezickzackt. Es war am Ostersonntagmorgen 1790.

Und nun in dieser Riesenstadt angekommen, ohne ein Wort Englisch zu verstehen und ohne eine Seele zu kennen, mit nur wenigen Goldstücken in der Tasche, habe ich gleichwohl seitdem hier als „exotic“ alle meine Kräfte anstrengend existirt. Doch hat die göttliche Vorsicht mich nie verlassen, und der Geist des alten Kirchenliedes: „Wer nur den lieben Gott läßt walten etc.“ hat mir durch mein ganzes Leben in jeglicher Lage Trost und Hoffnung gegeben. Ich lebe in London als musik-mechanischer Künstler ohne Capital auf respectable Art; aber um solches zu vermögen, muß man die Kräfte des Geistes und Körpers anspannen.“

So war denn der junge thüringische Bergsohn mit seiner mächtigen Sehnsucht dem engen Familienkreis, dem engen Heimaththal, dem engen Vaterland entronnen und in der ungeheuern Weltstadt im Lande der Freiheit, wie man sich damals England vorstellte, angekommen. Der Sprung war riesig, ein wahrer Salto mortale. Aber der fromme Jüngling ist kein Liebhaber der modernen Freiheit. Politik ist seine Sache nicht. Er erlebt in London die erste französische Revolution: er bekümmert sich nicht um sie. Er ist ein tüchtiger fleißiger Arbeiter, der sich in seiner Kunst rasch vervollkommnet und in der Werkstatt bald zum ersten Gehülfen avancirt. Eben so schnell erlernt er die Landessprache, und sein schlichtes, biedres, treuherziges Wesen erwirbt ihm wahre Freunde. Seine Mußestunden verwendet er auf das Studium deutscher Musik und deutscher Poesie. Dieses reine edle Jünglingsherz voll Glauben und Tugend fand in den Schöpfungen des deutschen Genius seinen höchsten Genuß. In der Hauptstadt Englands erglühte seine keusche Seele in immer helleren und höheren Flammen für die größten Dichter und Tondichter seines Vaterlandes. Man mußte ihn als Mann von diesen Hochgenüssen seiner einsamen Jugend im modernen Babel mit leuchtenden thränengefüllten Augen sprechen hören, um zu begreifen, welch’ ein heiliger Talisman gegen die Lockungen bunter Lust deutsche Kunst ist. Sie hat die Seele dieses ausgezeichneten Mannes rein und keusch erhalten, bis in sein hohes Alter; sie ist ihm die einzige treue Freundin geblieben, die liebevolle Begleiterin auf seinem sonst einsamen Lebenspfade, die Trösterin in seinen sonst trüben Stunden, die Beseligerin seines so empfänglichen und leicht erregbaren Gemüths. Denn Stumpff war nie verheirathet[WS 1], und auch das gehört zu den Eigenthümlichkeiten dieses großsinnigen Gefühlsschwärmers, daß er dem Gegenstande seiner ersten und einzigen Liebe, der schönen Rühlerin, die er nicht besitzen durfte, treu blieb. Als er mit mir über sein Cölibat sprach, das ich mit Schonung bei ihm getadelt hatte, sagte er mit Thränen im Auge:

„Des Lebens Mai blüht einmal und nicht wieder.“

Nie sah ich köstlichere Thränen in einem schöneren Männerauge: sie waren die Perlengeburten jenes tiefen Weh’s, das alle poetischen Gemüther über die Erde tragen müssen, Regentropfen der Wolke, welche so reizende Schatten auf die grüne Landschaft zaubert.

Stumpff’s Fleiß, Geschicklichkeit und Ehrenhaftigkeit mußte es gelingen, die Mittel zum eigenen Etablissement zu finden; er wurde

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: verheitrathet
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 438. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_438.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)