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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

der Armuth, eine allzu zahlreiche Nachkommenschaft, besitzen. Die meisten Wirthe in Berlin vermiethen ihre Wohnung nur an kinderlose Leute oder an solche, die nicht mehr als zwei oder drei Kinder haben. Diese Grausamkeit setzt viele Familien in die traurigste Verlegenheit. Mit Schrecken sehen sie den Ersten des Monats nahen, sie können keine Wohnung finden. Verzweiflungsvoll irren sie umher, suchen Tage, selbst Wochen lang, ohne ein Quartier zu bekommen. Wo sie anpochen, werden sie zurückgewiesen, wo sie anfragen, werden sie abschläglich beschieden. Sie wollen gern pünktlich ihre Miethe zahlen, aber der Hauswirth bleibt unerbittlich; er nimmt sie nicht auf, weil sie so glücklich oder unglücklich sind, Kinder zu besitzen, So naht der gefürchtete Augenblick heran, sie müssen ziehen, und wissen nicht, wohin. Oft mit Gewalt aus ihrer früheren Wohnung herausgestoßen, nirgends aufgenommen, lagern sie mit ihrem jämmerlichen Mobiliar unter dem freien Himmel in der dunklen Nacht, bis die Polizei oder der Bezirksvorsteher ihre Aufnahme in das Arbeitshaus vermittelt. Dies passirt nicht nur den Armen, sondern auch zuweilen dem ehrlichen Handwerker, dem fleißigen Arbeiter, dem dadurch seine Kinder zur Last werden müssen. Mehrere derartige Familien, deren Anzahl besonders im Winter sich auf Hunderte und mehr beläuft, lernten wir im Arbeitshause kennen.

Da war das Weib eines Holzhauers mit ihren Kleinen. Die bleiche, abgehärmte Frau trug das jüngste auf dem Arm. Ein Knabe und ein Mädchen trieben sich in dem großen Saale herum, und spielten mit einander Verstecken; sie kümmerten sich nicht um die Noth der Eltern. Stumpfsinnig saß die alte Großmutter auf dem Stuhl mit gefalteten Händen; auch ihr war es gleichgültig, wo sie war, wenn sie nur ein Plätzchen und eine Brodrinde zum Kauen fand. Um so trüber war die Frau, sie weinte, als sie mit uns sprach. Der Gedanke, im Arbeitshause sitzen zu müssen, kam ihr gar zu schrecklich, fast unerträglich vor; es dünkte ihr eine Schande, da sie ein feines Ehrgefühl zu besitzen schien.

„Mein Mann,“ sagte sie, „ist fortgegangen, um sich Arbeit zu verschaffen. Er ist gar fleißig und ein braver Mensch Er hat mir versprochen, sich auch nach einer Wohnung umzusehen. Ich halte es hier nicht aus.“

„Werden Sie denn im Arbeitshause schlecht behandelt?“ fragte ich die Unglückliche.

„Gott behüte! Die Stuben sind reinlich, die Betten warm und gut, das Essen vollauf, aber ich möchte doch nicht hier leben wollen. Es ist ganz anders in seinen vier Pfählen, wo man sein eigener Herr ist. Auch mag ich nicht von anderer Leute Gnade und auf Kosten der Commune leben; lieber will ich und mein Mann arbeiten, bis uns das Blut zu den Fingern herausspritzt. Wenn nur die Kinder nicht wären, so hätten wir längst schon ein Quartier gefunden.“

Dabei warf sie einen traurigen Blick auf die zahlreiche Familie. Die alte Großmutter nickte mit dem wackeligen Kinn, und die Kinder lachten laut bei ihren Spielen.

Wir nahmen tief bewegt Abschied von der armen Frau, und gingen nach dem Speisesaal, wo die Bewohner des Arbeitshauses an langen Tafeln ihr Mittagsbrod einnahmen. Dasselbe besteht aus einer Suppe und Hülsenfrüchten, Erbsen, Bohnen, Kartoffeln u. s. w. Fleisch gibt es nur einmal im Jahre und zwar am Geburtstag des Königs. Für die Kranken wird besonders nach Anordnung des Arztes gekocht. Jeder erhält eine genügende Portion von einem gut ausgebackenen Brod, das in drei verschiedenen Qualitäten vorhanden ist. Hinter einem Verschlage waren gewiß tausend solcher Rationen für den heutigen Tisch bereits geschnitten und aufgespeichert.

Durchschnittlich leben im Arbeitshause täglich 900 bis 1000 Personen, darunter 350 Hospitaliten. Im Jahre 1856 enthielt die Anstalt Arrestanten und Corrigenden 3171 Männer und 2416 Weiber, zusammen 5587 Personen; obdachlose Familien 1195 Personen und außerdem noch an Einzelnen ohne Anhang 317. Im Ganzen wurden 8530 Menschen verpflegt und 344,888 Personen, nach Tagen berechnet, beherbergt und verköstigt. Die Gesammtkosten betrugen 69,045 Thaler 29 Sgr., also durchschnittlich für den Kopf jährlich 73 Thaler 8 Sgr. und 11 Pf., oder täglich 6 Sgr. Durch Arbeit verdiente die Anstalt 16,969 Thlr. 1 Sgr. 2 Pf. Von den eingelieferten Personen sind 2116 einmal, 646 zweimal, 393 dreimal, 139 viermal, 82 fünfmal, 40 sechsmal, 21 siebenmal, 7 achtmal, 3 neunmal, 14 zehnmal, 1 elfmal zur Anstalt gekommen. An Kindern waren 403 Knaben und 400 Mädchen, unheilbare Geisteskranke durchschnittlich täglich 489 vorhanden. Im Lazareth der Anstalt befanden sich durchschnittlich 40 Personen.

Im Ganzen zeichnet sich das Arbeitshaus durch musterhafte Ordnung und Reinlichkeit, sowie durch die anerkannte Humanität der vorgesetzten Beamten aus. Leider aber sind Uebelstände vorhanden, welche sich bei den beschränkten Räumlichkeiten nicht vermeiden lassen. Dazu rechnen wir hauptsächlich das dadurch bedingte vielfache Zusammenleben von bescholtenen und unbescholtenen Personen. Abgesehen von der Ehrenkränkung, welche dadurch den letzteren bereitet wird, leistet dieser Umstand der Ansteckung und Verbreitung des Lasters und der Verbrechen den größten Vorschub. Wie kränkend muß es nicht dem ehrlichen Arbeiter, der verständigen Frau sein, neben dem bestraften Delinquenten oder der öffentlichen Dirne zu verweilen! Welch ein Beispiel für die schuldlosen Kinder, für die so leicht verführbare Jugend!

Dieser Mangel und die schlechte Lage des Lazarethes wurden mit Recht von den Berliner Stadtverordneten gerügt und die Gründung eines allgemeinen, städtischen Siechenhauses stark befürwortet. Das Sterblichkeitsverhältniß ist trotz der Menge unheilbarer Kranker im Ganzen ein günstiges zu nennen, da es nicht mehr als 25/6 pCt. beträgt.

Gewiß gehört das Berliner Arbeitshaus zu den interessantesten Instituten der Residenz; es vereint nur zu viele und gänzlich verschiedene Elemente, indem es zugleich als Lazareth für die Kranken, als Correctionshaus für die geringeren Verbrecher und Arbeitsscheuen, als Strafort für die liederlichen Dirnen, als Asyl für das gebrechliche Alter und für die obdachlosen Familien dienen muß. Dazu reichen weder die vorhandenen Räume, noch die bisher verausgabten Mittel aus. Gegenwärtig ist das Arbeitshaus gleichsam die allgemeine Kloake für den moralischen Unrath der grossen Stadt, der Kehrichthaufen, wo sich die Lumpen und der Schmutz, die verlorenen Existenzen und untergegangenen Menschenruinen zusammen finden.

Unter den bemerkenswerthen Bewohnern desselben befand sich auch vor einiger Zeit der Prinz Leo von Armenien, der hier als verdächtiger Herumtreiber, ob mit Recht oder Unrecht, wagen wir nicht zu entscheiden, festgehalten wurde. Der junge und gebildete Aventurier machte nach der Schilderung des unparteiischen Arztes einen durchaus günstigen Eindruck; er sprach geläufig mehrere lebende Sprachen, und besaß wirklich nicht gewöhnliche Kenntnisse. Sein Benehmen war bescheiden und würdevoll. Bis zum letzten Augenblicke behauptete er seine fürstliche Abkunft: er wurde wegen mangelnder Beweise entlassen, und ohne richterliches Verfahren einfach von der Polizei ausgewiesen.

Auf der Rückkehr aus dem Arbeitshause trafen wir vor der Thür desselben einen Möbelwagen, der soeben ausgeladen wurde. Der dürftige Hausrath lag herum auf der Erde zerstreut, ein alter, gebrechlicher Küchenschrank, eine Bank, ein Tisch und ein Waschfaß. Daneben stand ein kräftiger Mann, und half mit freudestrahlendem Gesicht, trotzdem ihm bei der Arbeit der Schweiß über die Stirn lief. Auf unser Befragen erfuhren wir, daß es der brave Holzhacker war. Er hatte endlich eine Wohunug für sich und die Seinigen bei einem Hauswirth gefunden, der kein Kinderfeind war. Nun fühlte er sich erst wieder glücklich, da er das Arbeitshaus verlassen konnte.

„Alles gut,“ sagte er, „aber wer noch seine gesunden Glieder hat und eine Hand rühren kann, der wird nicht hier im Ochsenkopf zwischen Kranken, Krüppeln und Spitzbuben sitzen.“

So äußert sich der gesunde Volkssinn über das Berliner Arbeitshaus.

Max Ring.



Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 467. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_467.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)