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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

als Gatten verschlüge –?“ fiel ihr gar nicht ein. Eine zwanzigjährige Tochter glaubt niemals an die Möglichkeit einer Liebe, welche eine, selbst jugendlich denkende Mutter zu einem jüngeren Manne in sich pflegen könnte. Für die Tochter ist die Mutter in ein Stadium des Alters getreten, wo jede Anwartschaft auf solche Verhältnisse und jede Hoffnung auf Herzensglück den Schein der Lächerlichkeit gewinnt. Die Beziehung, in der sie von der zartesten Kindheit an zu ihr steht, schließt, mit der Achtung zugleich, jede Herzensbewegung für einen andern Mann, als für den, welchen sie Vater genannt, aus und stellt sie, über solche Schwächen erhaben, in die Regionen kühler Ueberlegung.

Daß also Frau von Kurow dergleichen Pläne und Entwürfe mit sich herumgetragen, fiel Fräulein Lucilie nicht im Traume ein und daß Herr Clemens, der junge liebenswürdige Cavalier, der sogleich das unversuchte Herz der Tochter im Sturme erobert hatte, jemals mit Wärme verrätherischer Art der Mutter gehuldigt haben sollte, der Gedanke würde sie empört haben.

Still und gedankenschwer saß sie, eine Stunde nach dem Abschiede des Doctors, vor ihrem Schreibtische – ein leeres Blatt vor sich, eine Feder in der Hand – mit dem besten Willen, das ihr zu Gebote stehende Mittel zur Beruhigung anzuwenden, und dennoch zögernd und zurückschreckend vor dem Worte. Es war ihr, als triebe eine innere Macht sie zum Schreiben, als flüstere der Mutter liebe gütige Stimme Muth in ihr verzagtes Herz, als richteten geängstigt ein paar Augen sich bittend und flehend auf sie. Die Stille der Nacht herrschte im Hause. Alles schlich leise, um nicht durch lauten Klang die traurige Ruhe zu stören.

Lucilie hielt krampfhaft die Feder zwischen den Fingern. „– Was soll ich thun –?“ flüsterte sie immer wieder und wieder. Traumhaft umwehete es sie. Die Feder senkte sich auf das Papier – sie schrieb.

Was sie geschrieben, wußte sie nicht. Ein Bedienter mußte den Brief noch zum Hause des Herrn von Schlabern befördern. Dann umfing seliger Frieden das arme junge Mädchen und sie sank in einen betäubenden Schlaf, der sie aller Schrecknisse der Erde entführte.




Der Zustand des Herrn von Schlabern war wirklich beklagenswerth und wenn der Doctor Müllendorf tiefer in dies zerrüttete Herz hätte sehen können, so würde er andere Recepte für ihn verschrieben haben. Die Erziehung des jungen Herrn war nach Mustern idealer Weltanschauung geleitet worden und hatte ihn auf eine Höhe von Anforderungen an Ehrgefühl hinaufgeschraubt, wo dies auf der Grenze zur männlichen Altjüngferlichkeit steht. In seinem Herzen nagte der Wurm, welchen das Gewissen hineingeschleudert hatte. Mit diesem Schmerze hätte er vielleicht doch noch einen Kampf gewagt, wenn ihm nicht die Ansprüche der Ehre jede Aussicht auf späteres Glück in der Verbindung mit Lucilie versperrt hätten. Einer energischen Auffassung der gegenwärtigen Verhältnisse war er nicht fähig, und noch weniger würde er einen Kampf mit dem Urtheile der Welt gewagt haben.

Der Tod der Frau, die während einiger Monate der offenbare Gegenstand seiner Huldigungen gewesen war, beraubte ihn also nach seiner festen Ueberzeugung des Glückes, Lucilien, die er leidenschaftlich bereitwillig an die Stelle ihrer Mutter gesetzt hatte, lieben zu dürfen. Dieser Gedanke, vereint mit der Furcht, daß seine sichtbargewordene Wankelmüthigkeit des Herzens der Frau von Kurow tödtliche Gemüthsaufregungen verursacht haben könne, brachte ihn in eine Seelenstimmung, dem Wahnsinne sehr nahe. Ihm erschien als der einzige Ausweg aus diesem Labyrinthe sein eigener Tod und er war nur allzubereit, die Bürde, die ihn peinigend drückte, damit abzuwerfen. Die Thorheit seines Beginnens, die jedem vernünftigen Menschen klar war, wurde von ihm mit dem Glanze aufgeputzt, den die falschen Begriffe von Ehre in Bezug auf die socialen Verhältnisse der Welt in ihm erzeugten.

Ein Freundeswort hätte gewiß den Nebel verscheucht, der seine sonst gesunden Sinne umflort hielt, aber ihm fehlte ein Freund. Er stand allein, fern von den Seinen, jeder Stütze beraubt, die ihm auf seiner idealen Höhe einen irdisch festen Halt geben konnte. Seine wilden unsinnigen Entschlüsse erstarkten an dem Glauben, mit dieser Handlung entsühnt vor der Welt und vor Lucilie, die ihn nach den Vorgängen mit ihrer Mutter zu verachten Ursache hatte, dazustehen.

Sein Kampf mit der Liebe zum Leben war jedech nicht leicht. Die schönen, friedlichen Bilder des Glückes, das vom Schicksale schon seiner Wiege bestimmt war, umschwebten ihn verlockend und mahnten ihn, fern von dieser Unglücksstätte erst eine Heilung seines schwer verwundeten Herzens zu suchen. Was wußte man dort in der Heimath von dem Makel, den er sich in der unmännlichen Untreue seines Herzens aufgeladen hatte?

Minutenlang schwankte er, aber immer nur um dann mit verstärkter Sehnsucht nach dem Hafen zu schauen, wo ihm ohne Kämpfe sogleich eine ewige Ruhe winkte, wo er mit seinem Blute den Flecken abgewaschen, der seine Ehre verunglimpfte. Der Einfluß dieser Selbstmordsgedanken ist sinnberaubend. Der Wahn hält die Thatkraft in seinen Banden. Das Licht der Wirklichkeit kann die Schleier der Einbildungen nicht durchbrechen. Mit dem Dunkel des Abends gewannen die bösen Gedanken neue Kräfte. Clemens schrieb an seine Mutter und suchte seine Pistolen hervor. Ruhelos durchschritt er sein Gemach. Sein Entschluß stand wohl fest, aber der Abschied vom Leben wurde ihm schwer.

Luciliens Bild drängte sich vor seine Seele, wenn er in dem tröstlichen Wiedersehen mit ihrer Mutter Kraft zu finden suchte; die beschwichtigenden Worte, die sie mit schüchterner, süßbewegter Stimme zu seinem Troste ihm zugeflüstert hatte, wollten mit Macht seinen Vorsatz ändern, allein er blieb fest und setzte die Minute an, in welcher er die tödtliche Waffe auf sich richten wollte.

Der Zeiger rückte langsam vor. Das Gesicht des jungen Mannes wurde bleicher, aber das Lächeln seines Mundes siegreicher und sein Auge strahlender. Er nahm die eine Pistole in die Hand – die zweite legte er zu seiner Rechten. Es fehlten noch hundertundzwanzig Secunden. Sein Auge hing ruhig an der Zahl, die der Schlußstein seines jungen Lebens war, sein Finger lag an dem Hahne der Mordwaffe – er war nur noch die leblose Maschine seines festen Willens, aber er fühlte sich dunkel von einem göttlichen Frieden durchdrungen. Noch fünfzig Secunden! Es klopfte! Wild auf schäumte sein Blut. „Drücke los!“ schrie eine Stimme in ihm. „Welche weltliche Macht kommt, deine Paradiesesseligkeit zu stören – drücke los!“ – Es klopfte abermals und eine Männerstimme sagte: „Ein Brief von Fräulein Lucilie, gnädiger Herr!“ –

Mechanisch legte er die Pistole nieder – mechanisch erhob er sich und schritt zur Thür – mechanisch nahm er dem Diener den Brief ab und schloß wortlos die Thür wieder. Wie im Traume öffnete er das Couvert. Zwei Briefe fielen heraus. Seine Hand faßte zufällig den ersten und er las:

„Dem Zetergeschrei der Prüderie zum Trotze wende ich das einzige Mittel an, das Sie beruhigen und von einem Wahne heilen kann, der Ihre Gesundheit bedrohet. Ihr krankhaft überreiztes Zartgefühl hat sich nach meinen Berichten über die Gemüthsbewegungen meiner theuren seligen Mutter gespenstische Einbildungen geschaffen, die vor der ruhigen Wahrheit verbleichen werden und ich will Ihnen die Schilderung der Wirklichkeit deshalb nicht länger vorenthalten. Mit eben dem Rechte, wie Sie sich die Schuld an dem Tode der geliebten Verblichenen aufbürden, würde ich die Pein und Qual dieses Gedankens auch tragen müssen, denn mit meinem Glücke beschäftigt wuchs die Bewegung ihres kranken Herzens und noch ehe sie die Frage liebevoll vollenden konnte: „was würdest Du sagen, wenn ich Dir den Herrn von Schlabern als Gatten vorschlüge?“ – entfloh ihr Geist. Lesen Sie den letzten Brief, den meine Mutter mir schrieb. Er athmet schon ein krankhaftes Wesen, das ihrer weltlich lebendigen Seele sonst ganz fremd gewesen ist. Wenn die Offenbarung der letzten, bis dahin fest verschwiegenen Worte meiner Mutter, ihren Einfluß bewährt hat, dann ist ihr Zweck erfüllt. Senden Sie mir morgen den Brief zurück – es ist die theuerste Reliquie der vernichteten Muttersorge.“

Jetzt erwachte Clemens zum Bewußtsein der tiefen Bedeutung, welche dieser Brief auf seinen mörderischen Vorsatz geübt hatte. Schaudernd irrte sein Blick von dem Papiere zu dem Tische hin, wo seine Pistolen in kampffertigem Zustande lagen. Zitternd vor Erwartung nahm er den zweiten Brief, der Luciliens Meinung von den Absichten ihrer Mutter unterstützen zu wollen verhieß: –

„Mein theures Kind! In fieberhafter Spannung fliegen meine Gedanken zu Dir! Komm zurück. In acht Tagen erwarte ich Dich. Du sollst sehen und prüfen. Dein Glück steht mir höher, als meine Wünsche! Der erste Eindruck entscheidet,
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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 476. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_476.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)