Seite:Die Gartenlaube (1857) 478.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

las den Brief des jungen Mädchens zwanzig Mal hinter einander – er fand keinen verrätherischen Hauch eines wärmeren Gefühles darin, als allgemeine Menschenliebe, und doch, doch preßte er ihn an seine heißen Lippen, und doch war er ihm ein sicheres Document ihrer Liebe, dennoch eine süße Verheißung zukünftigen Glückes.

Dann richtete sich sein Geist auf die letztverflossenen Stunden. Da lagen die Waffen, die seinem Leben ein Ende bereiten sollten. Besonnen geworden fühlte er sich jetzt beschämt von dem knabenhaften Verzagen, das ihn zu so excentrischen Gedanken gebracht hatte. Eilig und behutsam brachte er die Pistolen in Sicherheit. Eine Stunde früher hatte seine empörte Ehre sich aufgesteift und eine Tugend aus seinem Lebensopfer gemacht, jetzt trat mahnend die Vernunft in ihm auf. Der Brief an seine Mutter wurde schnell der Flamme überantwortet. Als die verkohlten Ueberreste vor ihm lagen und vom Hauche seines Mundes emporstäubten und in ihrem vernichteten Dasein an irdische Vergänglichkeit erinnerten, da überschlich ein Grausen seine Seele. Hatte er ein Recht gehabt, sein Leben um einer einzigen Schwachheit willen feigherzig aus dem Strome der Zeit in den Hafen ewiger Ruhe zu senden? Sein Stolz beugte sich und sein Verstand trat siegreich in die Schranken. Er war gerettet, so wie er nur, aus dem Chaos wirrer und unklarer Begriffe von Männerehre erwachend, sein unheilvolles Beginnen zu erkennen fähig war. Er schauete nun mit neuer Geisteskraft vorwärts und die Nebelbilder, die hinter ihm lagen, verloren an Macht mit jeder Secunde, die über den Zeitpunkt hinausliefen, welchen er sich zum Endziele seines Daseins gesetzt hatte.

Nachdem er wieder zur Besinnung gekommen war, überlegte er die Schritte, die ihm oblagen, um sein späteres Glück zu sichern. Unbedingtes Vertrauen gegen Lucilie war nothwendig, auch wenn sie damit den Zweifeln überantwortet und ihm abgeneigt werden sollte. Ihr schönes, edelmüthiges Schreiben, dem die feinste und wahrhafteste Sittsamkeit einen fesselnden Zauber verlieh, bahnte den Weg dazu an, allein die Gegenwart eignete sich nicht zu solchem Vertrauen. Er beschloß, seine Abreise nach dieser Wendung seines Schicksales zu beschleunigen und in einem Briefwechsel den Faden zu späterer Anknüpfung in die Hand zu nehmen.

Ein Mal, ein einziges Mal wollte er dies Mädchen, welches den erborgten Jugendglanz der Mutter in Wirklichkeit trug, noch sehen, einmal seinen Augen eine Bitte erlauben und dann fest und kräftig der Trennung auf ungewisse Zeit entgegen gehen.

Trost und Frieden senkte sich in sein Herz. Die Nacht hatte ihre Schrecknisse und ihre dämonischen Träume verloren und das Bild der Frau, das ihm bis dahin drohend, mit strengen Blicken vor der Seele geschwebt hatte, hüllte sich in die Schleier der Vergessenheit.


Mit ganz andern Empfindungen betraten die Aerzte am nächsten Morgen das Haus der Frau von Kurow. Was vom Mißtrauen gesäet war, hatte die Nacht mit ihren finstern Grübeleien zur glänzendsten Ernte reif gemacht. Der Zorn in des Menschen Brust, wenn er sich von Schlangenlist und Freundlichkeit überrumpelt glaubt, steigert sich gewöhnlich bis zum Grimme.

Der Doctor Müllendorf, seit Jahresfrist im Hause der Frau von Kurow als Arzl fungirend, hatte in den beiden Frauen dieses Hauses Ideale von Weiblichkeit verehrt. Die heitere, liebenswürdige Weltlichkeit der Mutter war ihm in dieser Manier eben so schätzenswerth erschienen, als die gediegene Charakterbildung der reizenden Tochter, und wenn er sich auch eingestehen mußte, daß Frau von Kurow in ihren Lebensansichten zu jugendlich verfuhr, daß sie weder ihr Alter, noch die Ansprüche ihrer Tochter berücksichtigte, daß sie zu wenig wittwenhaft nach dem Tode ihres vortrefflichen Gatten lebte und daß sie zu viel Prunk mit ihren verblühenden Reizen trieb, so zeigte die Dame doch eine so warme Offenherzigkeit in ihrem Thun und Treiben, daß man sich ganz unwillkürlich damit versöhnte. Luciliens ganzes Wesen war ihm stets edler erschienen. Ihre Züchtigkeit und Bescheidenheit in der Kleidung, ihre Zurückhaltung und Sinnigkeit bildete einen starken Contrast mit der leichten Koketterie der Mutter. Ihm war die Tochter viel, viel lieber gewesen, als die Mutter. Sein gereiftes Urtheil stellte Lucilie in die Reihen der vollkommensten Frauen, die mit gründlicher Bildung eine liebliche Weichheit und Schmiegsamkeit gepaart in sich zu tragen vermögen. Und er mußte jetzt, von verhängnißvollen Ereignissen getrieben, dies reine und edle Bild verunglimpft sehen, und er mußte, gedrängt von seltsamen Zufällen, zugestehen, daß alle die Eigenschaften, die er bewundernd anerkannt hatte, Maske eines schwarzen Herzens gewesen sein konnten.

Allerdings war es auffallend, daß Lucilie plötzlich von ihrer Reise zurückgekommen war, da nach den ausgesprochenen Plänen der Mutter die Rückkehr Luciliens von dem Tode der alten Großtante abhängig sein sollte. Von dem Briefe der Frau von Kurow wußte der Arzt nichts. Allerdings war es auffallend, daß die stadtbekannte Liaison der Frau von Kurow an diesem Tage eine besondere Weihe erhalten zu haben schien und mit einem so zähen, seltsam schnellen Tode endete. Allerdings war es auffallend, daß Lucilie schon von einer Krankheit gesprochen hatte, bevor nur das geringste Merkmal da war. Allerdings war es auffallend, daß das Fräulein nichts von einer Limonade wissen wollte, die sie selbst bereitet und verabreicht hatte.

Stumm und innerlich schmerzhaft traurig bewegt begann der wackere Doctor sein Amt, das ein Problem enträthseln sollte, wobei er ein gutes Theil Menschenliebe und Glauben und Vertrauen einzubüßen fürchten mußte – stumm und traurig, mit pochendem Herzen und ahnungsschwerer Seele förderte er den betrübenden Act, welcher der Wissenschaft eine Belehrung, dem Gemüthe aber eine tiefe Wunde beizubringen fähig war. Seine Hand zitterte leicht und sein Auge umflorte sich –. O, der kurzsichtigen Sterblichen, die weithin nach einer Ursache suchten und sie so nahe, so sehr nahe fanden. Gift, von einer liebevollen Tochter dargereicht, wollten sie finden – Gift suchten sie, und die irdische Gerechtigkeit hatte schon den Arm ausgestreckt, um die Mörderin zu fassen –! Und was war das Resultat ihrer ärztlichen Forschung? Frau von Kurow hatte die Kunst „sich jugendliche Anmuth und Grazie erhalten zu können“ mit dem Leben bezahlen müssen. Das gewaltsame Zusammenpressen hatte den Pulsschlag ihres Herzens gehemmt und der eingezwängte Blutstrom, in seiner gewohnten Circulation gestört, war aus seinen Fugen gewichen, wobei er auf alle Fälle und ohne die geringste Gemüthsbewegung todbringend sein mußte.

Die Gefühle der Männer, die bei dieser Erfahrung betheiligt waren, lassen wir unerörtert. Bei guten Menschen führt Beschämung zur Reue und weckt die Theilnahme für den, welchen man in Gedanken gekränkt hat, in erhöhtem Grade.

Der Doctor fühlte ein brennendes Verlangen, dem Fräulein mit treuherziger Wärme eine stumme Abbitte zu leisten, indem er sich mit Freundeseifer zu ihren Diensten stellte, allein bei näherer Beleuchtung fand er es angemessen, nicht unmittelbar nach dem von ihr mit Widerwillen betrachteten Acte der Section zu ihr zu gehen, sondern nur unverzüglich Herrn von Schlabern aufzusuchen, um diesen durch die Aufklärung des Sachverhältnisses zu beruhigen. Wie erstaunte er, als ihm der junge Mann ruhig, ganz genesen von seiner nervösen Aufregung, ganz curirt von der Fieberhitze der Angst und Beklemmung entgegen trat!

„Was ist hier geschehen?“ fragte er, ohne Zaudern seinem Erstaunen Worte gebend. „Ich fürchtete, Sie in Lebensgefahr zu finden – ?“

Herr Clemens befand sich in der weichen Stimmung eines Genesenden, worin das Vertrauen ganz unwillkürlich hervorbricht. „Es hätte sein können, daß Sie mich todt gefunden, Doctor,“ erwiderte er schnell.

Der Doctor schickte rasch seinen Blick rundum, als begriffe er, daß die Mordgewehre noch bereit lägen.

„Lucilie hat an mich geschrieben,“ ergänzte der junge Mann. „Der Brief kam noch zur rechten Zeit –“

„Das beste Recept wahrscheinlich zu späterer Glückseligkeit,“ bemerkte der Doctor trocken. „Ich bringe die Mittel zur Nachcur! Sie sind etwas bitter, werden aber Ihre Entschlüsse stärken und kräftigen.“

Er erzählte ohne Schonung das Gerede, welches Veranlassung zur Section gewesen und schloß mit den Resultaten derselben. Unter dieser Erzählung schwand die Weichheit und Ermattung, welche Clemens in Banden hielt, und ein schmerzhaftes Erstaunen bildete den schnellen Uebergang zu energischen Entschlüssen. Vom Einflusse der Zeit konnte nach seiner Meinung nun gar keine Rede mehr sein, sondern es galt ein ehrliches und festes Hervortreten aus dem Schleier, der dem Publicum Verbrechen zu umhüllen schien.

Er theilte dem Doctor offen das ganze Sachverhältniß mit und er gewann sich dadurch an ihm einen Beistand auf Tod und Leben.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_478.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)