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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

und zu hartnäckigen Demonstrationen und Weigerungen Anlaß gab.

Der jetzige Ober-Gouverneur von Indien, Lord Canning, soll allerdings viel und hauptsächlich für Christianisirung der Indier gearbeitet haben, während er nichts that, um die Liebe für die Engländer und den Namen des menschenerlösenden Heilandes unter den Hindu’s zu verbreiten. Er selbst soll ein sehr guter Mann, aber keineswegs ein Genie sein. Hauptgrund der Revolution war ein neues Niederlassungs- und Entlassungsgesetz für die Sepoys, die in ihrem buddhistischen und muhamedanischen Glauben die Mißhandlung unter englischen Officieren nur für einen unvermeidlichen Weg in eine eigene Hütte unter den Ihrigen halten. Gegen dieses Gesetz waren 40,000 Petitionen eingegangen, diese aber wegen Mangel an Stempelpapier, das sich die Bittsteller nicht hatten kaufen können, von den englischen Behörden unbeachtet weggeworfen worden. Sie mochten denken: wir haben ja Sepoys genug, um Sepoys damit zu bedienen. – Wir kennen das neue Gesetz nicht, wissen aber, daß es bisherige Niederlassungsbedingungen noch erschwerte und der Willkür englischer Beamten überließ, so daß die indischen Soldaten alle Bürgschaft für eine Zukunft verloren. Bisherige Niederlassung und Landbesitz unter englischem Gesetz war schon der Art, daß Niemand so leicht Landbau treiben konnte, ohne sich von den Engländern Geld für 30 bis 70 Procent Zinsen vorschießen zu lassen. Die englischen Herren behandeln nämlich allen indischen Boden als ihr Eigenthum und verpachten blos davon, wie sie’s mit dem englischen, dem australischen und allem anderen kolonialen Boden machen. Dies ist eine natürliche Entwerthung des Bodens mit der gewaltsamsten, künstlichen Vertheurung, so daß unter englischer Herrschaft fruchtbarste, üppigste Landesstrecken von hundert und mehr Quadratmeilen entvölkert und zu todten Wüsten wurden. Berge, Thäler, Abgründe mit majestätischen Strömen, aber ohne Brücken und Straßen und mit verfallenen Canälen und mit Bewässerungsmitteln, welche die früheren indischen Herrscher gebaut und unterhalten hatten.

Diese Bewässerungen unter einer brennenden Sonne und seltenem Regen waren die geheimen Quellen des alten, fabelhaften Reichthums Indiens, deren Verfall und Verwahrlosung unter englischer, blos Geld auspressender Herrschaft das Geheimniß des Elends und der bittersten Massenarmuth über das reichste Land hin. In Indien wächst die prachtvollste Baumwolle in Massen. Deren Mangel und Unzuverlässigkeit von Amerika, wo sie von der entsetzlichsten Barbarei des Sclavenwesens abhängt, ist die Noth und Verlegenheit der Hälfte aller englischen Arbeiter. Indien könnte ohne Sclaverei Baumwolle für alle englischen Spindeln liefern. Aber der nächste Hafen ist von der Baumwollengegend Indiens 400 englische Meilen entfernt, und diese werden durch den Mangel an Weg zu 4000 Meilen. Die Baumwolle wird jetzt auf Ochsenrücken über Berge, Abgründe und Wüsten nach dem nächsten Hafen getrieben, wozu zwei bis drei Monate und das Opfer vieler Thiere und Menschen gehören. Eine Chaussee, eine Eisenbahn würde aus den 4000 Meilen 40 Meilen, eine Reichthumsquelle für Indien und England gemacht haben. Aber dazu hatten sie kein Geld.

In den angegebenen Thatsachen finden wir die allgemeineren Hauptmotive indischen Hasses gegen die Herrschaft der Engländer. Sie erklären aber noch nicht die entsetzlichen Wuthausbrüche und Gräuelthaten der Empörer, die von Natur und aus ihrer Religion und Sitte heraus sehr friedlich, sehr human und zuweilen edelherzig sein sollen. Sowohl die brahmanische, als besonders die buddhistische Religion und Moral haben dem Hindu Unterdrückung seiner Leidenschaften und aufopfernde Menschlichkeit, Aufopferung seiner selbst bis zur Vernichtung gelehrt. Und die Hindu’s sind durchweg sehr religiös. Ihre ganze Revolution stützte sich, wie viele übersetzte Proclamationen der Empörer beweisen, wesentlich auf Religion, auf Vertheidigung indischen Glaubens und Lebens gegen versuchte und geargwohnte Bekehrung zum „englischen“ Glauben, den die Indier nach den englischen Früchten in ihrer Heimath beurtheilen, und deshalb auf das Unüberwindlichste hassen und verachten. Ein Engländer sprang einmal über eine Erdvertiefung, in welcher Hindu’s sich Essen kochten. So hungrig sie waren, berührten sie nun doch keinen Bissen ihres Mahles, sondern machten sich an einer andern Stelle von andern Substanzen ein neues Mahl zurecht.

Die Religion und deren Moral ist dem Hindu noch eine absolute Macht, für die sich Jeder vorkommenden Falls eben so freudig und unbeugsam aufopfert, wie die indische Wittwe, die mit Lobgesängen auf den Scheiterhaufen steigt, und ihn mit einem zwischen den Zehen des linken Fußes gehaltenen Lichte selbst anzündet, so oft sich auch wohlmeinende Engländer mit aller Beredsamkeit anstrengten, zarte junge Wittwen von 15 bis 16 Jahren von ihrem feierlichen Gange in den Scheiterhaufen abzubringen. Die glänzendsten Versprechungen für ein lachendes Leben wurden von solchen zarten Geschöpfen mit der Heiterkeit geistiger Ueberlegenheit, mit der Kraft eines Riesen und der Willenskraft des männlichen Helden abgewiesen, freilich auch mit viel Kampher. (Nach der Mittheilung eines muhamedanischen Indiers, Lutfullah, der eine in englischer Sprache erschienene, interessante Selbstbiographie geschrieben, werden die Wittwen durch äußerliche und innerliche Anwendung von Kampher so nervenabgestumpft, daß sie die Schrecken und Qualen des Feuers wenig fühlen sollen. Engländer redeten einmal einer Wittwe, ehe sie den Scheiterhaufen bestieg, zu, das Verbrennen an ihrem kleinen Finger zu versuchen. Sie riß lächelnd ein Stück von ihrem Taschentuche, wickelte es um den Finger, tauchte diesen in das Oel einer brennenden Lampe, und zündete ihn an. Während der Finger wie ein Licht brannte, und der Geruch brennenden Fleisches sich umher verbreitete, sprach sie ruhig mit ihrer Umgebung weiter, ohne einen Schmerzenslaut von sich zu geben. Der Gebrauch des Kamphers mag dabei viel gethan haben; aber während dieser Verbrennung rieselte der Angstschweiß von ihrer Stirn. Es muß also mehr moralische Kraft, als Kampher, dabei gewirkt haben. Man kann hier wohl mit Recht Luther’s Ausspruch: „Wasser thut’s freilich nicht“ auf diesen Kampher anwenden, der übrigens auch nicht sowohl als nerventödtende, als vielmehr als vermeintlich Körperverflüchtigung unterstützende Substanz gebraucht wird.)

Die ein Jahrhundert lang fortgesetzte Verletzung und Ausbeutung materieller Interessen der Indier durch die englische Politik würde, so arg sie’s auch trieben, die „Milch frommer Denkart“ nicht in das „gährende Drachengift“ der Empörung verwandelt haben. Erst das Eingreifen dieser englischen Politik in das Leben, Glauben und Lieben der Indier unter sich (wovon die mit Schweinefett geschmierten und den Sepoys aufgedrungenen Patronen nur ein Beispiel waren, das einen letzten Tropfen zu der Ueberfülle früherer und anderer Eingriffe und Verletzungen fügte) brachte den stillen Haß der Indier in die Gährung eines Ausbruchs, wie er kaum je in der Geschichte vorgekommen sein mag. Die indischen Soldaten der Engländer, die aus Natur und Neigung die Säuglinge ihrer Officiere gehätschelt und geliebkost haben würden, wie ein englisches Blatt treffend bemerkte, warfen diese Säuglinge jetzt in die Luft, fingen sie mit ihren Bajonnetten auf, und hackten sie dann in Stücken. Deren Mütter wurden auf unsagbare Weise gemißbraucht und dann ebenfalls zerstückelt. – Was muß Alles vorausgegangen sein, um solche Scenen erklärlich zu machen? Dabei war es keine blinde Wuth durchweg. Wir hörten von vielen Fällen, in welchen indische Soldaten ihren englischen Officieren erst Zeit und sogar Geld gaben, um sich mit ihren Familien zu entfernen, ehe die Empörung ausbrach, von Beispielen, daß Empörer entweder ihre Officiere oder deren Frauen und Kinder mit viel Aufopferung in Sicherheit brachten, von der respectvollen Haltung der siegenden Empörer gegen ihre wehrlosen englischen Officiere, die noch versuchten, sie zur Treue gegen englische Herrschaft zurückzureden, von unterthänigster Ablehnung und Bekämpfung ihrer Gründe durch Gegengründe u. s. w. Alle diese Scenen beweisen sehr deutlich, daß die Empörung nicht überall Ausbruch einer blinden Wuth war, sondern allenthalben, wo englische Officiere durch besondere Menschlichkeit und namentlich durch Erlernung der Sprache ihrer Soldaten (was eben schon Liebe voraussetzt) Veranlassung zu Schonung und Rücksicht gegeben hatten, diese auch stets geschont, beschützt und nobel behandelt wurden.

Daraus geht von selbst hervor, daß die unmenschlichen Ausbrüche maßloser Wuth gegen alles Englische in den meisten bengalischen Städten nur Folge einer maßlos empörenden Wirthschaft der Engländer gewesen sein muß. Man kann hier im vollen Umfange Bettina’s Ausspruch: „der Verbrecher ist des Staates eigenstes Verbrechen“ verwirklicht finden. Wir schaudern unwillkürlich vor den Schandthaten der englisch-indischen Armee zurück und denken wohl auch an eine gerechte Bestrafung der eingefangenen Empörer, wenn wir hören, wie die der höheren Kasten dutzendweise vor Kanonen gebunden und in alle Lüfte geschmettert werden, während die der niederen Kasten sich reihenweise mit dem Stricke

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 496. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_496.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)