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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

„Kommen Sie,“ bat sie leise, „ich halte es in dieser Umgebung nicht länger aus.“

Noch einmal warf sie einen furchtsamen Blick auf den Verstorbenen, dann wandte sie sich schaudernd ab und ging. Erst als sie wieder im Freien war, athmete sie auf. Der Anblick der Leiche hatte sie nicht zu erheben vermocht; sie sah nur noch die der Verwesung verfallene Hülle, das schreckende Bild der Zerstörung und Fäulniß. Sie hatte den lebenden Theodor geliebt; der Todte war für sie eben todt. Ein flüchtiges Mitleid, eine oberflächliche Rührung war Alles, was sie noch für ihn empfand.

So nahte der Tag des Begräbnisses heran, wo Theodor in der gemeinschaftlichen Gruft der Familie beigesetzt werden sollte. Die Commerzienräthin hatte mit seltener Fassung die nöthigen Anordnungen getroffen, deren Ausführung sie der getreuen Gertrud überlassen mußte, da sie sich selber zu schwach fühlte, um all’ den traurigen Pflichten zu genügen. Am vorangehenden Abende wurde die Leiche angekleidet in den Sarg von Eichenholz mit silbernen Beschlägen gelegt. Frische Blumenkränze bedeckten den Körper und verbreiteten einen süßen, betäubenden Geruch; es waren Gaben der Liebe von sämmtlichen Hausbewohnern dargebracht; das Schönste, was dem Todten mitgegeben wurde, wie er dazu bestimmt, zu verwelken, zu verwesen. In den gefalteten Händen lag die prachtvoll gebundene Bibel, ein Confirmationsgeschenk seiner Mutter, das tröstliche Wort der Auferstehung enthaltend. Zwei Kerzen brannten zu seinen Füßen, zwei zu seinem Haupt und verbreiteten ihr mildes Licht über das Kreuz, woran der Erlöser hing, und über die Züge des Entschlafenen, welche einen wunderbaren Frieden zeigten. Der Todte schien nur zu schlafen, so wenig hatte er sich bis jetzt verändert; nur die große Blässe seiner Wangen und die Starrheit seiner Glieder verkündigten den letzten, schweren Kampf. So lag er da, als hätte er sich nur auf kurze Zeit zur Ruhe begeben und nicht für die große Ewigkeit.

Im Vorzimmer hielt der Bediente die Wache an dem Sarge seines jungen Herrn, sonst war das ganze Haus zur Ruhe gegangen. Auch die betrübte Mutter wurde von einem wohlthätigen Schlummer befallen; die Natur verlangte ungeachtet des wachhaltenden Schmerzes ihr Recht und träufelte den milden Balsam des Schlafes auf die rothgeweinten Augen. Nur Gertrud blieb wach; sie ließ das arme, mit schwerem Leid erfüllte Herz nicht schlafen. Noch einmal mußte sie den Geliebten sehen, denn sie liebte ihn von der ersten Stunde an, wo sie ihn gesehen, still und hoffnungslos, so lang er lebte, still und hoffnungslos noch jetzt im Tode. Ihre Neigung war die uneigennützigste von der Welt, denn Niemand hatte sie geahnt, selbst er nicht, dem sie die reinsten Gefühle ihres jungfräulichen Herzens gewidmet hatte. Ihre Liebe wuchs auf dem Boden der Entsagung, denn vom ersten Augenblicke erkannte sie die Kluft, welche sie, das arme Mädchen, von dem Sohne des reichen Hauses trennte. Sie verlangte ja nichts mehr, als ihn einmal flüchtig zu sehen, den Ton seiner Stimme zu hören, seinen gleichgültigen Gruß als Erwiderung des ihrigen zu vernehmen. Sie war schon beglückt gewesen, wenn sie nur sein Zimmer betreten und heimlich, ungesehen seine Bücher, seine Kleider berühren durfte; wenn sie in demselben Stuhle saß, worin er gesessen, dieselbe Luft athmete, die er geathmet. Der Lichtpunkt ihres Daseins war jene kurze Unterhaltung an dem Ballabende, wo sie Theodor auf seinem Zimmer überraschte. Sie hatte damals geglaubt, vor Schreck und Freude über seine Güte und Freundlichkeit sterben zu müssen. Die Erinnerung an diese Stunde hielt sie aufrecht in all’ ihrem Leid, davon zehrte sie, damit war sie befriedigt für die Ewigkeit. Er hatte sie wenigstens einmal bei seinem Leben freundlich angesprochen, angelächelt.

Wer eine solche Liebe nicht zu begreifen vermag und ihre Wahrheit vielleicht anzweifelt, der kennt nicht das Herz der Frauen. Gertrud’s Leidenschaft hatte zunächst aus der Unterhaltung mit der Commerzienräthin ihre erste Nahrung gesogen. Der treuen und theilnehmenden Gesellschafterin gegenüber öffnete sich das übervolle Mutterherz, ihr vertraute sie ihre Hoffnungen und Erwartungen an, vor ihr lobte sie den Sohn mit verzeihlicher Eitelkeit, seine Sittlichkeit, Klugheit und Feinheit im Umgange, alle edlen Eigenschaften seines gebildeten Geistes, seines trefflichen Herzens preisend. Mit Begierde nahm Gertrud diese Schilderungen auf, welche ihre Phantasie mit noch weit glänzenderen Farben ausschmückte. Unmerklich wurde Theodor für sie das Ideal, welches früher oder später jedes Mädchenherz erfüllt. Lange, ehe sie ihn noch gesehen, liebte sie ihn schon und seine Nähe war wohl geeignet, diese Neigung zu vermehren, statt zu vernichten. Selbst seine Verlobung mit Clementine störte nicht den schönen Traum Gertrud’s, sie hatte ja nie daran gedacht, ihn zu besitzen; er war der goldene Stern, zu dem sie emporschaute ohne Wunsch, ohne Verlangen. Was that es ihrer Liebe, daß eine andere Frau sein Herz besaß? Und doch regte sich zuweilen in ihrem Herzen ein bitteres Gefühl, das sie indeß schnell niederkämpfte, wenn sie an die Ungerechtigkeit des Schicksals dachte. Sie hätte eine Fürstin sein mögen, um ihn mit einer Krone zu beglücken. Das arme Mädchen mußte dulden und – schweigen.

Nun hatte der grausame Tod ihr Alles geraubt, aber auch die Scheidewand eingerissen, die sie von dem Geliebten trennte. Der Leiche durfte sie ungescheut jetzt nahen und die Liebe, die sie dem Liebenden verbergen mußte, offen zeigen. Deshalb ließ sie jetzt ihre Thränen doppelt reichlich fließen; die schönsten Kränze, welche seinen Sarg zierten, hatte sie mit ihrer Hand geflochten und den Thau der Liebe aus ihren Augen darauf fließen lassen. Sie brauchte ihr Gefühl nicht mehr sorgfältig zu verbergen; denn in dem allgemeinen Schmerz achtete Niemand mehr auf ihren besonderen und unter dem Schleier des Mitleids konnte ihre Liebe ungehindert sich ausweinen. – Aber vor allen Dingen mußte sie ihn noch einmal sehen, eh’ der Sargdeckel niederfiel und das dunkle Grab sein Opfer aufnahm; ganz allein, von keinem Menschen beobachtet, wollte sie an seiner Seite knien und ihm in das schöne, bleiche Antlitz schauen. Deshalb schlich sie jetzt leise wie ein Geist, die flackernde Nachtlampe in der Hand, durch das stille Haus, dessen sämmtliche Bewohner schliefen. Auch der Bediente im Vorzimmer, dem man die Bewachung der Leiche anvertraut hatte, war der Müdigkeit und der Anstrengung der letzten Tage erlegen. Sie schlüpfte ungesehn an ihm vorüber in den Saal, wo die geschmückte und vollkommen angekleidete Leiche ausgestellt war. Sie hatte keine Furcht vor dem Todten, dessen bleiches Antlitz sie mild anzulächeln schien. Mit leisen Schritten näherte sie sich dem Verstorbenen still weinend. So kniete sie an seiner Seite und betete aus tiefster Seele für die Ruhe und den Frieden des Geliebten. Gestärkt und getröstet erhob sie sich vom Boden, um den mitgebrachten Kranz von Cypressen auf den Sarg zu legen. Sie neigte sich zu der Leiche hernieder und ihre heißen Wangen berührten fast die seinigen; da vermochte sie nicht zu widerstehen; sie hauchte den ersten und den letzten Kuß auf seine kalten Lippen.

Mit einem Male fühlte sie eine leise Bewegung, zwei Arme umschlangen sie und hielten sie krampfhaft fest. Zugleich vernahm sie deutlich einen tiefen Seufzer, der aus dem Sarge zu kommen schien. Das arme Mädchen stieß einen lauten Schrei aus, sie zitterte vor Schreck und Aufregung und war einer Ohnmacht nahe. Sollte sie sich getäuscht haben? Aber nein, die Leiche saß mit geöffneten Augen, träumerisch lächelnd und halb aufgerichtet im Sarge da. Die ersten Strahlen der schönen Morgensonne beleuchteten den Auferstandenen. Ein Wunder war geschehen, der Kuß der Liebe hatte den Todten aufgeweckt.

Im nächsten Augenblick hatte Gertrud ihre ruhige Besinnung wieder erlangt; sie rief um Hülfe. Der Bediente, aus seinem Schlaf erwacht, eilte herbei.

„Schnell!“ rief sie ihm zu, „eilen Sie zu dem Medicinalrath; er soll sogleich herkommen.“

Theodor, der bisher im Starrkrampfe gelegen, war zwar noch zur rechten Zeit daraus erlöst worden, aber vor Schwäche wieder hingesunken. Gertrud rieb jetzt seine Schläfe mit stärkenden Essenzen, sie gab ihm die zärtlichsten Namen und stand nicht früher ab, bis er von Neuem verwundert seine Augen zu ihr emporschlug. Jauchzend vor Freude dankte sie im Stillen Gott.

Wenige Minuten später langte der Arzt an, den sie mit einigen Worten über die Lage des Kranken aufklärte. Er traf sogleich die nöthigen Anordnungen, um den durch die Krisis erschöpften Lebensfunken wieder anzufachen. Zugleich übernahm er es, die Commerzienräthin in schonender Weise von dem glücklichen Ereigniß in Kenntniß zu setzen, damit ihr zärtliches Mutterherz der plötzlichen Freude nach so vielen bittern Qualen nicht erliege. In den nächsten Tagen hatte sich der Patient schon so weit erholt, um eine ruhige Schilderung seiner Gedanken und Empfindungen während des Scheintodes zu geben.

„Ich war,“ erzählte er seiner Mutter und dem Medicinalrath, „mit einem Male wie an allen Gliedern gelähmt, als hielte mich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 514. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_514.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)