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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

eine unsichtbare Macht in Ketten; dabei hörte und beobachtete ich Alles, was in meiner Umgebung vorging. Meine Sinne schienen sogar schärfer, als im gewöhnlichen Zustande, denn das leiseste Geräusch, jedes Wort, das nur geflüstert wurde, entging mir nicht. Ich wußte, daß man mich für todt hielt. O! das war entsetzlich! Ich wollte laut aufschreien, aber die Sprache versagte mir. Die fühlbarsten Schreckbilder tauchten vor meiner Seele auf, und ich erduldete Höllenqualen. Ich vernahm Deine Stimme, liebe Mutter, ich fühlte, wie Deine Thränen auf meine Hände fielen. Wie gerne hätte ich Dir zugerufen, Dich getröstet, aber so sehr ich mich auch anstrengte, eine eherne Gewalt hielt mich gefesselt, und die Zunge versagte mir ihren Dienst.“

„Schrecklich!“ unterbrach die Commerzienräthin Theodor’s Bericht. „Ich schaudere, wenn ich daran denke. Sollte es denn kein Zeichen geben, das den Scheintod von dem wirklichen Tode unterscheiden läßt?“

„Wenigstens kein sicheres,“ antwortete der Medicinalrath, an den die Frage gerichtet war. „Die Wissenschaft ist in dieser Beziehung, das gestehe ich offen ein, keineswegs ganz zuverlässig. Selbst die erfahrensten Aerzte können sich irren, wie leider mein eigenes Beispiel beweist. Ich danke Gott, daß es so gekommen ist.“

„So lag ich,“ fuhr Theodor fort, „als eine lebendige Leiche mit deutlichem Bewußtsein, als ein Gestorbener für die Welt, die sich mir ohne Maske und Schminke jetzt zeigte. Der Schleier war von meinen Augen weggenommen, und ich lernte den Werth der Menschen und der Dinge kennen. Niemand gab sich mehr die Mühe, mich zu täuschen und sich in meiner Gegenwart zu verstellen; ich war ja todt und nur die Todten dürfen die Wahrheit hören, welche man den Lebenden vorenthält. So erfuhr ich, wie wir uns selbst, und wie wir Andere belügen, wie falsch oft die Liebe, wie vergänglich die Treue sei. Ich habe manche bittere Erfahrung gemacht, manche traurige Lehre für mein ganzes künftiges Leben erhalten; aber auch den Werth eines reinen Herzens, den Preis einer edlen Seele schätzen und verehren gelernt. An den Pforten des Grabes fiel die Binde von meinen Augen, die Vorurtheile schwanden, und der gleißende Schein zeigte sich vor mir in seiner egoistischen Nacktheit, in seiner verdammungswerthen Schwäche. Noch zur rechten Zeit erkannte ich meine Verblendung, und ich preise und danke Gott dafür, daß er mich durch ein Wunder vor einer großen Thorheit behütet hat.“

Die Commerzienräthin schien die Gedanken ihres Sohnes zu ahnen, doch hütete sie sich, nach dem genaueren Vorgange zu fragen, auf welchen seine Worte zu deuten schienen; sie wollte ihn schonen und nicht von Neuem aufregen. Nach einer kleinen Pause, die er zu seiner Erholung nöthig hatte, nahm Theodor seine Erzählung wieder auf.

„Ich bemerkte all die Anstalten, welche im Verlaufe der Zeit zu meiner Beerdigung getroffen wurden; der Tischler kam und nahm das Maß zum Sarge an meinem Körper; er unterhielt sich in ganz ungenirter Weise mit dem Bedienten; das Gespräch drehte sich natürlich ausschließlich um meine Person, und ich bekam auch hier manche derbe Wahrheit zu hören. Der Sarg kam und ich wurde hineingelegt. Das war der furchtbarste Augenblick für mich, und ich begreife noch heute nicht, daß mich die Angst nicht tödtete. Du sollst lebendig begraben werden, tönte es fortwährend mir in’s Ohr, lebendig begraben werden. Dagegen müssen die Qualen der Hölle nur ein Kinderspiel sein. Ich raffte meine letzte Kraft zusammen, um mich aus dem Kerker, der mich gefangen hielt, zu befreien, aber es war vergebens. Ein Bleigewicht lastete auf meiner Brust, meine Glieder blieben gefesselt, mein Arm gelähmt. Die Furcht verwirrte meine Sinne; schon sah ich, wie der schwere Deckel des Sarges herniederfiel, ich hörte die dumpfen Schläge des Hammers, mit denen er festgenagelt wurde; schon öffnete sich das Grab, um den Lebenden zu verschlingen. Mein schwacher Körper war nicht im Stande, diese Folterqualen zu ertragen, und eine wohlthätige Bewußtlosigkeit endigte wenigstens für kurze Zeit meine unbeschreiblichen Leiden.“

„Armer Theodor!“ seufzte die Mutter, vor Entsetzen bleich. „Die Erinnerung greift Dich zu sehr an.“

„Mein Bericht ist bald zu Ende,“ sagte er mit sanftem Lächeln. „Wenn die Noth am größten, ist auch die Hülfe am nächsten. Der Himmel schickte mir einen Engel, der mich aus dem Grabe auferstehen hieß und mich dem Leben wiedergab. Wie lange ich in dieser vollkommenen Bewußtlosigkeit gelegen, weiß ich selber nicht. Als ich daraus erwachte, glaubte ich einen schwachen Lichtschimmer zu bemerken; ich fühlte die Nähe eines menschlichen Wesens, ich hörte ein frommes Gebet, das für mich zum Himmel stieg. Es war Gertrud, die treue, gute Seele, die noch einmal gekommen war, um von mir Abschied zu nehmen. Ich glaubte wirklich eine überirdische Erscheinung zu haben. Ihre Nähe wirkte wie ein Zauber, das Band war gesprengt, die Ketten gerissen, die Fesseln fielen ab, und ich erhob mich aus dem Sarge als ein Auferstandener.“

Die Commerzienräthin trocknete ihre Thränen; auch der Arzt war tief erschüttert. In diesem Augenblick erschien das liebliche Mädchen, demüthig wie immer. Sie schwebte leise, wie sie gewohnt war, durch das Zimmer mit niedergeschlagenen Augen.

„Sie sieht wirklich wie ein Engel aus,“ flüsterte der alte Medicinalrath der Mutter in das Ohr. Diese nickte ihm beifällig zu.

Gertrud näherte sich ihrer Gebieterin mit sichtbarer Befangenheit. Seitdem Theodor seiner Genesung entgegenging, hatte sie den festen Entschluß gefaßt, das Haus zu verlassen, um ihrer hoffnungslosen Liebe zu entfliehen. Nach schweren Kämpfen mit sich selber, nach mancher bang durchweinten Nacht stand dies Vorhaben fest in ihrer Seele. Es war aus der Ueberzeugung entsprungen, daß sie nie dem Geliebten angehören könne. Dazu kam das natürliche Schamgefühl, wenn sie daran dachte, daß Theodor um ihre Neigung wußte. Um sich jeden Rückweg abzuschneiden, hatte sie bereits eine andere Stellung als Wirthschafterin angenommen. Jetzt war sie gekommen, um für immer Abschied zu nehmen.

„Ich bitte,“ sprach sie zu der überraschten Commerzienräthin, „um meine Entlassung, da ich eine andere Condition habe.“

„Gertrud!“ rief die Herrin. „Das kann doch Ihr Ernst nicht sein. Sie dürfen mein Haus nicht verlassen.“

„Und doch muß ich darauf bestehen,“ entgegnete sie mit bewegter Stimme. „Schelten Sie mich, gnädige Frau, eine Undankbare, aber ich kann nicht anders.“

Thränen drohten ihre Stimme zu ersticken, doch sie raffte noch einmal ihre ganze Kraft zusammen, um ihr Gesuch zu wiederholen. Bisher hatte Theodor sich ruhig verhalten, als er aber den Ernst sah, womit das Mädchen auf seinen Entschluß bestand, so hielt er an der Zeit, das Wort zu ergreifen. Er allein kannte ihre edlen Beweggründe.

„Gertrud,“ rief er ihr zu, „Sie müssen bleiben. Die Retterin meines Lebens darf mich nicht mehr verlassen.“

„O,“ murmelte sie in tiefster Bewegung, „schonen Sie mich, halten Sie mich nicht zurück. Es ist dies die einzige Bitte, die ich noch habe. Leben Sie wohl, Herr Theodor!“

Sie streckte ihm die zitternde Hand zum Abschiede entgegen, und wieder wie damals, als sie ihn im Sarge fand, sah sie sich von zwei Armen umschlungen, die sie festhielten und nicht mehr los ließen.

„Lassen Sie mir diese Hand,“ bat er leise, bat er dringend, „für immer, ewig.“

„Was hat das zu bedeuten?“ fragte die Commerzienräthin ganz betroffen.

„Eine Verlobung,“ entgegnete der gerne scherzende Arzt, welcher mit seinem gewöhnlichen Scharfblick schon längst Alles errathen hatte.

„Hören Sie mich, liebe Mutter!“ sagte Theodor mit feierlicher Stimme, indem er noch immer Gertrud fest umschlungen hielt. „Meine Erzählung ist noch nicht zu Ende. Dieses Mädchen hier kniete an meinem Sarge, hingerissen im heißesten Gebet. Was sie dem Lebenden keusch verschwiegen, gestand sie dem Scheintodten; ich erfuhr, wie ich von ihr geliebt wurde, so rein, so innig, wie nur ein Engel des Himmels lieben kann. Durch sie lernte ich erst das hohe, unschätzbare Gut eines treuen Herzens, eines liebenden Weibes kennen. Leise neigte sich Gertrud zu mir herab, um mit einem Kusse von mir Abschied zu nehmen. Dieser Kuß hat mich vom Tode aufgeweckt, ihre Liebe ließ mich auferstehen.“

Eine tiefe Stille herrschte in dem Zimmer, nur von dem leisen Schluchzen des Mädchens unterbrochen, das seine verschwiegensten Gefühle so verrathen sah. Der alte Medicinalrath wischte emsig an seinen Brillengläsern, um seine Rührung und die herabströmenden Thränen zu verbergen. Die gute Mutter aber legte schweigend die Hand Gertrud’s in die ihres einzigen Sohnes.

„Du hast ihn verdient,“ fügte sie hinzu, die still Weinende an ihr Herz ziehend.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 515. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_515.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)