Seite:Die Gartenlaube (1857) 555.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

dessen Schüler ich war. Der Candidat ließ mich seine Wege besorgen und so mußte ich auch einst ein paar broschirte Bücher von Schiller holen. Es war die erste große Prachtausgabe der Schiller’schen Gedichte, noch nicht aufgeschnitten. Ich schnitt die Blätter aus und las.

Wie wäre es möglich, den entzückenden, berauschenden, träumerisch wunderbaren Eindruck zu schildern, welchen die brennend gefärbten Erzeugnisse der Schiller’schen Muse auf mich machten? Bleibt doch Schiller stets der gewaltige Hohepriester, welcher der deutschen Jugend die Pforten des erhabenen und prachtvollen Tempels der Poesie erschließt. Ich erinnere mich nur so viel, daß ich wochenlang gar nicht recht bei mir selbst war und daß meine Mutter, der ich nichts von den Genüssen, in welchen ich schwelgte, gestand, ernstliche Besorgnisse für meinen Verstand hegte. Außer den Gesangbuchsliedern, von denen mich Gellert’s fromme Schöpfungen am meisten ansprachen, und seinen beliebten Fabeln, kannte ich nur die von den Leierkastenmännern verkauften Volkslieder, „gedruckt in diesem Jahr.“ Einige Gedichte ihres Vetters F. W. Gotter hatte mir meine Mutter vorgesagt. Im Besitz von Gotter’s Gedichten war unser Haus aber so wenig, wie in dem irgend eines andern Dichters. Ich aber hatte bereits in meinem fünften Jahre meine ersten Verse gemacht. Ich kann wohl sagen, daß meine ersten Denk- und Schreibübungen gereimte Zeilen waren. Das Erstaunen der Leute, die sie lasen, prophezeite mir, daß ich auch ein bedeutender Dichter werden würde. Wie sehr haben sie sich getäuscht! Es ist nur ein unbedeutender Romanschreiber aus mir geworden. Aber die Empfänglichkeit für die Größe unserer bedeutenden Dichter lag in meiner Kinderseele. Wie ein Flammenstrahl in ein Zunderfaß zuckte Schiller’s erhabener Genius in sie. In meiner, aus den fürstlichen Möbeln des eisenacher Herzogshauses auf dem Boden meines Vaterhauses aufgebauten poetischen Stadt, oder in einer ganz geheimen kleinen Kammer, die ich mir in das auf unserem Heustadel aufgebauste Heu gegraben hatte, las ich immer wieder die Gedichte, bis ich viele davon auswendig wußte. Von jenen Tagen an ging eine große Veränderung in mir vor. Ich fühlte, daß ich, wenn auch noch ein Kind an Jahren, aber gewiß der Gesinnung und dem Gefühl nach kein Knabe mehr war. Mein Auge war plötzlich für die Schönheit der mich umgebenden Natur geöffnet; meine Seele hatte von Schiller’s Genius den Adelsbrief erhalten, ich fühlte mich erhaben über das Gemeine und Alltägliche. Wie viel „schillernde“ Gedichte hab’ ich wohl damals niedergeschrieben! Ich besitze sie nicht mehr. Zwei starke Bände derselben sind mir, jeder auf andere Weise, entwendet worden. Die Welt hat sicherlich nichts an ihnen verloren. Ich schwamm in einem Meere von Poesie und unaussprechlichem Glück; ich entsinne mich, daß ich Abends auf den Bergen in das verglimmende Abendroth starrte, die Brust so voll Wonne und Weh, daß sie mir zu zerspringen drohete, und mich dann auf den Rasen oder das dürre Laub niederwarf, um mich fast todt zu weinen.

Da standst Du neben mir, leuchtende Gottheit, die Du die Wirklichkeit der Dinge mit dem magischen Strahlenschleier der Dichtung überhauchst, und berührtest mich leise mit Deiner Hand.

Ein Gedicht Schiller’s blieb mir ganz unverständlich, weil ich seinen Wallenstein nicht kannte, „Thekla eine Geisterstimme.“ Als ich die Bücher Herrn von Schiller zurückbrachte, überwand ich meine Schüchternheit und erlaubte mir, ihn über die Bedeutung dieses mich so ungemein ansprechenden Gedichtes zu befragen. Er gab mir aber keine Erklärung, sondern fertigte mich kurz und barsch ab. Nichtsdestoweniger war er ein Gegenstand meiner schier abgöttischen Verehrung; denn er war ja der Sohn des Mannes, der mir für einen mit Erdenstaub überkleideten Gott galt. Wie aber erst wurde mir, als ich erfuhr, daß seine Mutter mit seinen Schwestern zu ihm zum Besuch gekommen sei! Ich vergaß Essen und Trinken und lag auf der Lauer, um die Frau zu sehen, die der Unsterbliche geliebt. Ich wich nicht, bis sie aus dem Hause trat, um mit ihren Kindern in der Esplanade vor dem Forsthause spazieren zu gehen. Ich stand einige Minuten wie versteinert und verschlang Mutter und Töchter mit den Augen; dann trabte ich nach und blieb ihnen zur Seite, um sie immer fort anzustaunen und womöglich den Ton ihrer Stimme zu vernehmen, wenn sie miteinander sprechen würden. Die Frau Hofräthin von Schiller war damals eine ungemein beleibte hohe und starke Dame. Ich war über dieses Embonpoint fast bestürzt, denn ich hatte mir Schiller’s Gattin als ein ätherisches Wesen gedacht, so eine Art „Mädchen aus der Fremde.“ Desto besser gefiel mir eine der Tochter; sie war schlank und und von sehr weißem zarten Teint. So ungefähr hatte ich mir die Engel vorgestellt.

Auch den jüngeren Sohn meines vergötterten Dichters sah ich mehrmals bei seinem Bruder in Ruhla, er studirte gerade in Bonn die Rechte. Von Gestalt war er zarter und schmächtiger als der Forsteleve. Auch ist er früh und, wenn ich nicht irre, gerade im Alter des Vaters als Regierungsrath in Düsseldorf gestorben.

In Bezug auf Schiller, Vater und Sohn, erlebte ich eine artige Anekdote, die der Mittheilung nicht unwerth erscheinen dürfte.

Ein starkbesuchter Vergnügungsort und Erfrischungshaus war der Heil’genstern, eine halbe Stunde nordwestlich von Ruhla im Thale abwärts gelegen. Jetzt steht ein großer schöner Gasthof an anderer Stelle, aber auch das alte Haus existirt noch, wie ich es im „Vörwerts-Häns“ beschrieben. Man traf dort täglich Gesellschaft, und Forsteleven waren stets Gäste des Wirthes Schenk. An bestimmten Tagen waren auch die Töchter der Honoratioren aus Ruhla und der Umgegend da zu finden. Und das waren natürlich Stelldichein für die Eleven.

An einem solchen Tage hatte mich mein Lehrer mit auf den Heil’genstein genommen. Das Zimmer füllte sich. Ein Dutzend Eleven (darunter Schiller), Kaufleute, Förster, Pfarrer, Aerzte, Beamte, Damen stellten sich ein, hübsche liebe Mädchen. Eine davon war meine Geschwisterkindsmuhme, vielleicht vier oder fünf Jahre älter als ich, also reife Jungfrau und in voller schönster, Jugendblüthe, jüngste Tochter eines angesehenen Kaufmannshauses, das ich auch in „Vörwerts-Häns“ eingeführt, ein holdes Kind und nicht ohne Geist. Sie ist dreißig Jahre später als unglückliche Frau eines ihrer unwürdigen Mannes einen schrecklichen Tod gestorben[WS 1] und mein Schmerz mag der Armen gern diese Blume der Erinnerung weihen. Ich glaube, Schiller und meine Cousine hatten einander gern; er unterhielt sich wenigstens weit lieber mit ihr als mit mir. Meine Cousine Caroline war eine kleine Gefühlsschwärmerin und sie hatte Schiller’s Gedichte nicht vergebens gelesen. Der junge Schiller war oft in ihrem elterlichen Hause, denn ein Bruder Carolinens war ebenfalls Forsteleve. Auch er ist längst schon und noch als Jüngling gestorben.

Unter den anwesenden Gästen war auch der Wundarzt von Ruhla, ein gewandter und zungenfertiger Mann, aus Ostpreußen gebürtig, mit Namen Schumann. Wie die meisten Chirurgen pfuschte er, namentlich nach dem Tode meines Vaters, in die ärztliche Heilkunst, war über alle Dinge gleich mit seinem Urtheile fertig und bei der Hand und genoß deshalb bei der großen Menge der geistig Unmündigen eines nicht kleinen Ansehens, das er denn auch zur rechten Zeit und am rechten Orte stets mit Nachdruck und nicht ohne Geschicklichkeit geltend zu machen wußte. Es versteht sich demnach, daß er zu den Honoratioren des Ortes gezählt wurde und sich selbst dazu zählte. Die Forsteleven waren alle seine guten Freunde und Bekannte, weil er ihnen die jungen Bärte abnahm, resp. abnehmen ließ.

Die Unterhaltung hatte sich auf Schiller’s Abkunft gewendet, und meine Cousine brach in[WS 2] die begeisterten Worte aus: „Sie, Herr von Schiller, können doch vor allen andern Herrn Forsteleven auf Ihre Abkunft stolz sein. Welcher von den Herren Adligen hat einen Vater wie Sie? Der Adel des Geistes steht ja doch weit höher, als der des Standes; Ihres Herrn Vaters Name wird bis zur spätesten Nachwelt glänzen, wenn alle andern Adelsnamen längst vergessen sein werden.“

Mit diesen feurig gesprochenen Worten waren die Schleußen einer wahren Lob- und Preisfluth gezogen, und sie ergoß sich aus mehr als einem Munde in das gemeinsame Wasserbecken. Es versteht sich, daß die gewöhnlichen banalen Phrasen und Redensarten geliefert wurden. Herr Schumann saß stumm horchend dabei, aber als die Fluth einigermaßen verlaufen war, wandte er sich mit der Frage an Schiller:

„Aber erlauben Sie mir doch, Herr von Schiller: wer war denn eigentlich Ihr Herr Vater?“

Zwar war der große Schiller zu jener Zeit erst acht Jahre todt, und sein Ruhm noch nicht so in die niedern Volksschichten eingedrungen, wie heutigen Tags, aber man durfte doch voraussetzen, daß alle Deutschen, die sich zur gebildeten, vornehmen Classe zählten, den Namen des großen Dichters und seine Bedeutung kannten. Die unerwartete Frage des Chirurgen erregte deshalb


  1. Vorlage: gegestorben
  2. Vorlage: in in
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 555. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_555.jpg&oldid=- (Version vom 18.10.2022)