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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

da die schaffende Hand der guten Helene fehlt. So schwindet Alles nach und nach hin, bis auch die Reihe an mich kommt.“

„Herr Pastor, ich weiß Ihren Schmerz zu würdigen, da ich die Verstorbene gekannt habe. Wissen Sie, daß ich mir vorgenommen hatte, ihr ein Legat auszusetzen? Schade, daß sie gestorben ist.“

„Sie hat stets mit großer Liebe von Ihnen gesprochen, Herr Consul, und wenn Sie kamen, freuete sie sich wie ein Kind.“

„War Helene mit Ihnen verwandt, Herr Pastor?“

Der Pfarrer schien Trost darin zu finden, von der Verstorbenen zu sprechen; er ward redselig.

„Nein, sie war nicht mit mir verwandt, ich kenne nicht einmal ihre Familie.“

„Aber, wie ist sie denn zu Ihnen gekommen?“ fragte der Consul.

„Ihnen, lieber Herr, kann ich es erzählen; es weiß es bis jetzt kein Mensch. Nehmen Sie Platz, mir wird die Brust leichter, wenn ich mich aussprechen kann. Es sind diesen Herbst zwanzig Jahre, als ich eines Abends von meinem Filialdorfe zurückkehrte, wo ich mich länger, als ich eigentlich sollte, bei einem fröhlichen Kindtaufsschmause aufgehalten hatte. Mein Weg führte mich an dem Posthause vorbei, das dort unten an der Chaussee liegt. Als der Posthalter mich sieht, ruft er mich an. „Herr Pastor,“ sagt er, „in meinem Hause liegt eine fremde Dame schwer krank; sie hat ihre Reise unterbrechen und hier bleiben müssen. Der Arzt erklärt ihre Krankheit für bedenklich, und auch die Dame muß ihr nahes Ende fühlen, denn sie verlangt einen Geistlichen. Ich wußte, daß Sie zurückkehren würden, und habe Sie erwartet.“ Ohne Zögern ließ ich mich zu der Kranken führen; sie war eine Dame von vielleicht dreißig Jahren, aber trotz ihrer Blässe schön. Lächelnd streckte sie mir ihre vor Fieberhitze brennende Hand entgegen und sagte:

„Ich fühle, daß ich sterben muß, darum ersuche ich Sie, mir in meinem letzten Stündlein beizustehen und ein Geheimniß zu empfangen, das ich nicht mit mir aus der Welt nehmen möchte. Zuvor aber muß ich Ihnen, da Sie ein protestantischer Pfarrer zu sein scheinen, das Bekenntniß ablegen, daß ich eine Katholikin bin.“

„Madame,“ antwortete ich, „wir haben hier weit und breit keinen katholischen Geistlichen, darum erachte ich es um so mehr für Christenpflicht, Ihnen die Segnungen der Religion angedeihen zu lassen, die unser Herr für Alle gestiftet hat. Ich bin der Diener des Gottes, den alle Christen, ohne Unterschied der Confession, verehren. Wollen Sie sich mir anvertrauen, so werde ich mein Amt redlich verwalten.“

„Ich bin eine arme, unglückliche Frau!“ begann sie schluchzend. „Ein gewissenloser Mann hat mich meines Vermögens und meines Kindes beraubt. Vielleicht habe ich dieses Unglück verdient, aber Gott bestraft mich doch zu hart.“

„Haben Sie sich eines Vergehens wegen Vorwürfe zu machen?“ fragte ich.

„Hören Sie mich an, ob ich schuldig bin. Nach dem Tode meines ersten Mannes, mit dem ich zwar nur zwei Jahre, aber sehr unglücklich verheirathet war, zog ich mit meiner zweijährigen Tochter nach Köln, wo ich ruhig von dem Ertrage eines Gutes leben wollte, das mir mein Vater als Erbtheil hinterlassen hatte. Da lernte ich einen jungen Mann, einen Maler kennen, der mich und mein Kind portraitirte. Die heftigste Leidenschaft erfaßte mich für den Künstler, ich nahm seine Bewerbungen an und ward seine Frau, in der Hoffnung, nun das Glück zu finden, das mir in meiner ersten Ehe versagt gewesen war. Ein Jahr verfloß und ich hatte allen Grund, mich glücklich zu preisen. Da plötzlich bemächtigt sich meines Mannes eine Schwermuth, die mich tief bekümmerte. Ich dringe in ihn und er gesteht mir endlich, daß er leichtsinnig eine Heirath mit einer Schweizerin geschlossen habe, die er nicht lieben könne. Diese seine erste Frau befinde sich in Köln und scheine ihn zu suchen. Von ihrem heftigen, rohen Charakter wäre Alles zu fürchten. Er bat mich um Verzeihung, daß er mir dieses Geheimniß verschwiegen habe, aus Furcht, ich möchte ihm meine Liebe und meine Hand entziehen; er schwor, daß er nur aus Leidenschaft zu mir gesündigt habe. Ich verzieh um so leichter, da auch ich ihn leidenschaftlich liebte. Wir verließen Köln und wohnten still und eingezogen. Aber auch hier fand mein Mann keine Ruhe; er sagte mir, daß er die Papiere nachgemacht habe, die zu unserer Trauung erforderlich gewesen. Es bot sich mir eine günstige Gelegenheit, mein Gut zu verkaufen, und wir beschlossen, mit den erlösten hunderttausend Thalern nach Amerika auszuwandern. Mein Mann reist mit dem Kinde nach Bremen voraus und nimmt unser Vermögen mit sich, während ich in Köln die letzten Geschäfte besorge. In dem Augenblicke, als ich in die Post steigen will, verhaftet man mich; ich soll aussagen, wo sich mein Mann befindet, der wegen Bigamie und Fälschung von Papieren angeklagt ist. In dem Verhöre stand mir seine erste Frau gegenüber, eine derbe, rohe Schweizerin, mit der ein gebildeter Mann unmöglich leben konnte, obgleich sie hübsch von Gesicht war und einen schönen Körper hatte. Ich begriff die Gefahr meines armen Mannes und beschloß, ihn dadurch zu retten, daß ich aussagte, er wäre mit meinem Vermögen davongegangen, wohin könnte ich nicht sagen. Dadurch vermehrte ich zwar seine Schuld, aber ich rettete ihn, den ich für schuldlos hielt, vom Verderben. Was er gethan, hatte er ja aus Liebe zu mir gethan. Nachdem ich beschworen, daß ich um seine erste Liebe nicht gewußt, als ich ihm die Hand reichte, entließ man mich. Sechs Wochen waren darüber vergangen. Ich reiste nach Bremen, fand aber weder meinen Mann, noch mein Kind. Mit einer Summe von dreitausend Thalern, wegen der ich in Köln zurückgeblieben war, schiffte ich mich nach New-Nork ein, dem verabredeten Ziele. Ich kam an. Ein Jahr lang suchte ich in der großen Stadt – Alles war vergebens. Mein Geld war zu Ende und ich ging mit kummervollem Herzen nach Europa zurück. Jetzt bin ich auf der Reise nach meiner Heimath begriffen, die ich wohl nicht wiedersehen werde. Das ist die Geschichte meines Lebens. Herr Pastor, nehmen Sie dieses Taschenbuch, es enthält die Namen meiner Familie und meines Mannes. Oeffnen Sie es, wenn ich todt bin, damit Sie wissen, wer die Unglückliche war, deren Sie sich angenommen. Ich schwöre im Angesichte Gottes, daß ich die Wahrheit gesagt habe!“

„Nachdem ich ihr die Tröstungen der Religion ertheilt, trat eine heftige Krisis ein; ich übergab sie dem Arzte, der zurückgekehrt war, und ging nach Hause. Damals lebte meine Gattin noch; ich theilte ihr den Vorfall mit. Wir empfanden das innigste Mitleiden mit der armen Frau, deren Lebensglück durch so seltsame Umstände vernichtet war. Am nächsten Morgen machte ich mit meiner Gattin einen Spaziergang nach dem Posthause; der Postmeister sagte uns, daß die Kranke die Krisis überstanden habe und wahrscheinlich genesen werde, sie habe schon nach mir gefragt. Wir gingen zu ihr; schmerzlich lächelnd empfing sie uns. Meine Therese nahm sich ihrer freundlich an. Als die Kranke das Bett verlassen konnte, hatte sich zwischen den beiden Frauen ein Freundschaftsband geknüpft, das ich nicht zerreißen mochte. Der erste Gang der Fremden war der in unsere Pfarre. Ich ließ mich gern bereit finden, sie so lange in meinem Hause aufzunehmen, bis sie völlig zur Weiterreise gestärkt sei. Es verflossen Wochen, Monate – die Fremde, die sich Helene nannte, blieb. Da trat die langwierige Krankheit meiner armen Frau ein, und Helene war ihr sieben Jahre die treueste Pflegerin; sie allein leitete die Wirthschaft, sie allein wachte bei der Kranken, bis der Tod den furchtbaren Leiden derselben ein Ende machte. Von da an blieb Helene meine treue Wirthschafterin, und ich muß ihr heute nachsagen, daß sie eine treue Seele war, die ihr Leiden mit Muth und Ergebung getragen hat.“

Der Consul hatte mit ernstem Gesichte zugehört; es standen große Schweißtropfen auf seiner hohen Stirn, als der Pfarrer seine Erzählung schloß. Er schien unschlüssig zu sein, ob er gehen oder bleiben sollte.

„Die arme Frau!“ murmelte er.

Der Pfarrer trocknete seine Thränen.

„Herr Pastor,“ fragte der Consul mit Anstrengung, „warum haben Sie mir den Familiennamen Helenens und den ihres zweiten Mannes nicht genannt?“

„Weil ich ihn nicht weiß!“ antwortete treuherzig der alte Pfarrer.

„Sie wissen ihn nicht?“

„Nein, denn ich habe das Portefeuille noch nicht geöffnet. Und wozu auch war es nöthig? Bedurfte es eines Namens, um die arme Frau mehr zu lieben? Sollte ich sie durch Mißtrauen kränken? Ich erfülle treulich ihren Wunsch; nun ist sie todt, sobald ich ihre Hülle der Erde übergeben habe, werde ich das Portefeuille öffnen.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 560. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_560.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)