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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

in deren Mitte sich der stets kränkelnde, aber geistig frische Greis, noch immer schaffend und thätig, wie in der altgewohnten Gesellschaft fühlt, deren Mitglieder längst gestorben sind oder, zerstreut in der Welt, nur ihre Briefe an den langjährigen Freund senden. In diesem traulichen Zimmer empfängt Varnhagen seine Besuche, und gewiß sind es für Jeden die genußreichsten Augenblicke, die er in der Gesellschaft dieses stets wohlwollenden, freundlichen und feinwitzigen Greises verlebt, der mit seinem treuherzigen Auge und gütigen Antlitze, dem noch der diplomatisch schalkhafte Zug um den Mund eigen ist, und durch seine Liebenswürdigkeit immer wieder von Neuem seine Besucher in Entzücken versetzt.

Wie gesagt, arbeitet Varnhagen, dessen feine und schöne Schriftzüge merkwürdig sind, unausgesetzt an Biographien und Memoiren, die wohl erst nach seinem Tode im Druck erscheinen dürften. Seit dem Jahre 1848, wo von ihm eine Flugschrift unter dem Titel: „Schlichter Vortrag an die Deutschen über die Aufgabe des Tags“ anonym erschien, ist er literarisch gänzlich verstummt. Aber aus den zahlreichen Widmungen, die er von Dichtern und Schriftstellern erhält; aus den Zusendungen, die ihm täglich die neue Literatur macht, und aus den Verbindungen, welche die bessern Geister mit ihm suchen oder unterhalten, erhellt die Bedeutsamkeit eines Mannes, der auch groß ist, wenn er schweigt, und der außer einem beneidenswerthen, keuschen Ruhm das seltene Glück besitzt, von Jedem auch geliebt zu sein.

Schmidt-Weißenfels.




Die Verbrechersecten in Indien.
1. Die Thugs.

Eine der wichtigsten und bestorganisirten heimlichen Verbindungen in Indien, deren religiöser Cultus in Gräuelthaten besteht, ist die der Thugs oder Würger. Ihr Ursprung reicht in das graueste Alterthum hinauf und sie erklären ihn selbst durch mythologische Legenden. Ohne uns in das endlose Gebiet der indischen Götterlehre zu verlieren, erinnern wir zum Verständniß des Folgenden nur daran, daß nach dem ursprünglich naturphilosophischen Systeme derselben das Urwesen Brahm sich als Dreieinigkeit, Brahma, Wischnu und Schiwa offenbart, nämlich als schaffender, erhaltender und zerstörender Geist. Weil es aber keine absolute Vernichtung gibt, sondern aus jeder Zerstörung sofort wieder ein Neues ersteht, so geht Schiwa, der Zerstörer, unmittelbar wieder in Brahma, den Schöpfer, über und die Drei sind Eins, untrennbar, gleich groß, gleich heilig. Die Zerstörung, mit allen Kräften und Erscheinungen, die ihr dienen, ist daher nicht minder göttlich und nothwendig, als die Schöpfung oder die Erhaltung, und Schiwa, weit entfernt zur Stellung unseres armen Teufels degradirt zu sein, wird vielmehr von seinen Anhängern als der größte und wichtigste Gott der Dreieinigkeit gepriesen; denn obwohl diese eigentlich untrennbar ist, hat doch jede Person derselben ihre besonderen Secten und Anhänger und ihren gesonderten Gottesdienst. Endlich fügen wir noch hinzu, daß jedem dieser drei Götter auch seine weibliche, reproducirende Kraft als Göttin beigegeben ist.

Gleich zu Anfang der Welt nun, erzählen die Thugs, errichtete die Göttin Kali oder Bhawani – das weibliche Princip Schiwa’s, des Zerstörers – den großen Geheimbund der Thugs, um sie in ihrem Kampfe gegen das schöpferische Princip zu unterstützen, und offenbarte ihm zu diesem Zwecke die Kunst des Erwürgens. Ihre Wohlthaten beschränkten sich indessen nicht hierauf, sondern sie fuhr fort, ihren Gläubigen unablässige Beweise ihres Schutzes zu geben, indem sie stets alle Spuren ihrer Unthaten vertilgte. Allein auch die Thugs erlagen der Versuchung der Neugier: gegen das strenge Verbot belauschten sie eines Tages die Göttin, wie sie auf die Erde niederstieg und die Leichname ihrer Opfer verschwinden machte. Diese Vermessenheit blieb nicht unbestraft. Seit jener Stunde mußten die Thugs selbst die materiellen Beweise ihrer Thaten dem verschwiegenen Busen der Erde übergeben, ohne daß jedoch die Göttin Kali ihnen gänzlich ihren Schutz entzogen, und aufgehört hatte, über das Gelingen ihrer Unternehmungen zu wachen.

Die abergläubigen Gebräuche, mit denen die Thugs alle Handlungen ihres Mordgewerks umgeben, haben die größte Verwandtschaft mit den Ceremonien der brahmanischen Religion, in der ja auch ihre eigene Secte wurzelt. Die Aufnahme eines neuen Jüngers der Göttin Bhawani erfolgt stets unter großen Feierlichkeiten. Nach der Ceremonie des sündenreinigenden Bades wird der neu in Weiß gekleidete Novize den in einem Saale versammelten Mitgliedern des Bundes vorgestellt. Erhebt Keiner Widerspruch gegen seine Zulassung, so begeben sich nun Alle an einen nahegelegenen heiligen Ort. Hier, unter freiem Himmel, ruft der Guru, das geistliche Oberhaupt der Bande, die Göttin an und fordert sie auf, durch irgend ein sicheres Zeichen kund zu geben, ob sie diesen Jünger annehmen und ihm ihren Schutz gewähren wolle. Im tiefsten Schweigen erwarten nun Alle den Beschluß der Gottheit; und nachdem sie durch das Bellen des Schakals, das Schreien eines Esels, das Vorbeifliegen einer Ente oder irgend ein anderes ebenso unzweideutiges Zeichen ihre Bestimmung ausgesprochen, kehren Alle wieder in das Haus zurück. Hier wird dem Novizen die eiserne Axt, das Symbol des Bundes, in die Hand gegeben, und er wiederholt einen feierlichen, furchtbaren Schwur, den ihm der Guru vorsagt. Endlich noch empfängt er aus den Händen des Priesters ein durch Gebete geheiligtes Stück Zucker – das Symbol des Glückes – und die Ceremonie der Aufnahme ist beendet. Der Jünger gehört hinfort dem geheimen Bunde der Thugs an und sein Leben ist dem Dienste der blutigen Bhawani geweiht. Sich die Gunst und die Zufriedenheit ihrer furchtbaren Beschützerin zu erhalten, bildet die einzige Sorge, die lebenslange Aufgabe der Thugs, die unberührt von den leisesten Zweifeln ihr ganzes mörderisches Treiben nur als frommen Gottesdienst betrachten; denn wie Andere dem Brahma und dem Wischnu dienen, den Gottheiten des Schaffens und des Erhaltens, so ist der Thug ein Priester der Gottheit des Zerstörens, des großen Schiwa und seiner Bhawani, und der Mord, das Zerstören des Lebens ist ihm heiligste Pflicht. Man begreift nun, wie auf Grund dieser eigenthümlichen religiösen Anschauung nicht nur jene Mörder sich selbst für durchaus gottgefällig erachten können, sondern auch von den Anhängern des Brahma und des Wischnu, sowie von den übrigen Schiwaiten – denn Schiwa ist nicht allein nur Zerstörer, sondern hat auch Anbeter und Secten seiner andern Eigenschaften – in ihrer Weise für berechtigt gehalten, trotzdem aber doch verfolgt werden, und zwar nicht etwa aus dem niedern Beweggrunde der öffentlichen Sicherheit, sondern aus höherer Pflicht; denn Schaffen und Erhalten, mit einander im Frieden, stehen im ewigen Kampfe mit dem Zerstören, und dieser Naturproceß wird von den menschlichen Dienern der verschiedenen Principien mit religiösem Bewußtsein fortgeführt.

Wollen die Thugs auf eine Unternehmung ausgehen, so ist es ihr Erstes, der Göttin ihre Anbetung darzubringen, die es selbst übernimmt, ihnen auf irgend eine Weise die Straße zu bezeichnen, die sie ziehen sollen. Jeder Mord findet unter gewissen Ceremonien zu Ehren der Schutzgottheit statt, und der Antheil derselben an der Beute wird mit religiöser Gewissenhaftigkeit den allein in die tiefern Geheimnisse ihres Cultus eingeweihten Priestern, den Chams, ausgeantwortet. Die übrigen Thugs theilen sich in Buthotes, in deren Händen das verhängnißvolle Seidentuch zum sichern Mordwerkzeug wird; in Lughas, die mit unglaublicher Geschicklichkeit die Leichen spurlos zu vergraben wissen, und in Suhthas, die von Allen die wichtigste Rolle in dieser furchtbaren geheimen Genossenschaft spielen. Das Verfahren der Thugs ist stets ein und dasselbe: sie gebrauchen nie offene Gewalt und vergießen nie Blut, sondern erwürgen ihre Opfer jederzeit mittelst eines ihnen über den Kopf geworfenen seidenen Tuches, in seltenen Fällen auch mittelst einer Schnur; jeder Mord wird lange und sicher vorbereitet; die Verstellung – wie das schon ihr Name andeutet, der von dem hindustanischen „thugna“, betrügen, abgeleitet ist – bildet ihre gefährlichste Waffe. Wehe dem Reisenden, der auf der Landstraße der freundlichen Annäherung und den einschmeichelnden Honigworten des Suhthas sein Ohr leiht! An einer entlegenen Stelle, die vielleicht schon manche Schauderthat

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_575.jpg&oldid=- (Version vom 25.10.2022)